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Aus: Ausgabe vom 09.02.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Südamerika

Langer Weg zum Frieden

Kolumbien: Bei den Verhandlungen zwischen ELN-Guerilla und Regierung konnten erste Fortschritte erzielt werden
Von Sara Meyer, Bogotá
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Kolumbiens Präsident Gustavo Petro beim Handschlag mit dem ELN-Rebellenführer Israel Ramirez, alias Pablo Beltran (Bogotá, 3.8.2023)

Eine sechsmonatige Feuerpause, keine Geiselnahmen und Lösegelderpressungen mehr, außerdem das Versprechen, keine Kinder mehr zu rekrutieren – mit diesen Zusagen verließen die Friedensdelegationen der kolumbianischen Regierung und der Nationalen Befreiungsarmee (Ejército de Liberación Nacional, ELN) am Montag den »runden Tisch« in Kubas Hauptstadt Havanna. Die Verhandlungsführerin der Regierung, Vera Grabe, pries die bekanntgegebenen Vereinbarungen als »historisch bedeutsam«. Dabei bezog sie sich auf die Absicht der Guerilla, künftig niemand mehr zur Finanzierung der Gruppe zu entführen.

Frieden kostet

Außerdem griffen die Verhandlungspartner Präsident Gustavo Petros Vorschlag auf, einen Fonds für den Friedensprozess einzurichten. Dieser soll als Instrument zur Verhinderung von Entführungen und anderen aus wirtschaftlichen Gründen begangenen Straftaten dienen. Die Mittel sollen von Ländern wie Brasilien, Mexiko, Deutschland und der Schweiz, die den Friedensprozess dauerhaft begleiten, bereitgestellt werden. Pablo Beltrán, der Chefunterhändler der ELN, rief allerdings in Erinnerung, dass entsprechende Friedensfonds der vorherigen Regierungen in hohem Maße Begehrlichkeiten erzeugt und Korruption angezogen hätten.

Eine weitere Vereinbarung – die als Novum gelten kann – stellt die Einrichtung einer Beobachtungsstelle für paramilitärische Strukturen dar. Diese Maßnahme ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass neben der ELN auch weitere linke Guerillabewegungen ihre Tätigkeit in der Vergangenheit damit gerechtfertigt hatten, dass sie sich durch den meist rechtsgerichteten Paramilitarismus bedroht sähen und die Bevölkerung verteidigen müssten.

Schutz für Zivilisten

Die Friedensverhandlungen in Kubas Hauptstadt Havanna sollen im April in die nächste Runde gehen. Nachdem mehr als sechs ehemalige Präsidenten an Verhandlungen mit der ELN gescheitert waren, haben die Friedensdelegationen beider Parteien trotz Rückschlägen in den vergangenen eineinhalb Jahren mehrere Erfolge erzielen können. So wurden diverse humanitäre Protokolle zum Schutz der Zivilbevölkerung unterzeichnet und 23 von 26 entführten Personen freigelassen. Tatsächlich bestätigte die UN-Überprüfungsmission dank der vereinbarten Einstellung aller Offensivaktionen Ende vergangenen Jahres einen Rückgang der durch die ELN verursachten Gewalt.

Im Departamento Nariño verhandelt die Regierung auch auf lokaler Ebene mit der ELN. Der Verwaltungsbezirk, in dem die Guerilla sehr präsent ist, wird seit Monaten von Paramilitärs und Drogenbanden heimgesucht. Im vergangenen Jahr wurde damit begonnen, die Bevölkerung in den Friedensprozess einzubeziehen. So soll ein inklusiver Friedensvertrag entstehen, der dem Willen breiter Bevölkerungsgruppen entspricht. Nicht nur Menschenrechtsverteidiger, Umweltaktivisten oder Vertreter von Glaubensgemeinschaften werden vom Beteiligungskomitee gehört, sondern auch Kinder und Jugendliche, Häftlinge, informelle Arbeiter und historisch besonders vernachlässigte Teile der Gesellschaft wie indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften.

In Kolumbien gibt es laut Internationalem Roten Kreuz derzeit mindestens sieben bewaffnete interne Konflikte – eine beträchtliche Anzahl von Personen ist an den Aktivitäten bewaffneter politischer und nichtpolitischer Gruppen beteiligt. Die kolumbianische Stiftung für Frieden und Versöhnung (PARES) schätzt ihre Zahl auf 17.600. Im Laufe der Jahre haben die Konflikte dazu geführt, dass innerhalb des Lands bis zu acht Millionen Menschen fliehen mussten – das ist die zweithöchste Zahl weltweit nach Syrien. In den Jahrzehnten des Konflikts haben mehr als 450.000 Kolumbianer ihr Leben verloren, 80 Prozent von ihnen waren Zivilisten. Aktuell warnt die nationale Ombudsstelle vor anhaltenden Menschenrechtsverbrechen, die zu einem Fünftel von der ELN verursacht werden sollen.

Totaler Dialog

Seit November 2022 kämpft der erste linke Präsident Kolumbiens, Gustavo Petro, für ein umfassendes Friedensprojekt. Er will erreichen, was in den vergangenen Jahrzehnten keinem Präsidenten gelungen ist: die tief gespaltene Gesellschaft bis Mai 2025 zu einem dauerhaften Frieden zu führen. Unter dem Motto »Paz Total« (»Totaler Frieden«) bemüht sich Petro, die anhaltenden bewaffneten Konflikte in Kolumbien anzugehen, indem er mit den meisten illegalen bewaffneten Gruppen und kriminellen Strukturen, die in fast allen Teilen des südamerikanischen Landes operieren, in einen Dialog tritt. Gleichzeitig versucht er, das Friedensabkommen von 2016 umzusetzen, das der Staat mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) geschlossen hatte und das von der Vorgängerregierung vernachlässigt wurde. Darüber hinaus unternimmt Petro beispiellose Schritte, um das Problem an der Wurzel zu packen, indem er die langjährige Drogenpolitik komplett überarbeiten will.

Die ELN ist die größte aktive Guerilla des Landes. Sie zählt derzeit je nach Quelle zwischen 3.000 und 5.000 Kämpfer. In den 1960er Jahren hatte die ELN als marxistisch orientierte Gruppe im Namen des »einfachen Volkes« den bewaffneten Kampf aufgenommen, der sich damals insbesondere gegen Ölgesellschaften richtete. Während Fortschritte bei den Verhandlungen mit der ELN verkündet werden, bleiben größere Erfolge im Dialog mit weiteren bewaffneten Gruppen wie den verbliebenen FARC-Dissidenten oder dem mafiös organisierten sogenannten Golf-Clan bisher aus.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Lissabon (8. Februar 2024 um 21:29 Uhr)
    Z. Z. versuchen die (extreme) Rechte und deren Justizgehilfen auf höchster Ebene, Petro und seine Regierung mit falschen Anschuldigungen mittels eines »juristischen« Staatsstreiches zu stürzen. Wie gehabt in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Ecuador. Bisher kaum ein Wort in den Mainstream/Massenmedien.

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