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Aus: Ausgabe vom 07.02.2024, Seite 8 / Ansichten

Großzügige des Tages: Sandra Pettovello

Von Dominik Wetzel
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Schlangestehen für ein falsches Versprechen (Buenos Aires, 5.2.2024)

Offensichtlich war alles gar nicht so gemeint, als Argentiniens Sozialministerin Sandra Pettovello am Freitag sagte: »Leute, ihr habt Hunger? Kommt alle einzeln, ich werde euren Personalausweis annehmen, euren Namen, von wo ihr kommt, und ihr werdet individuell Hilfe erhalten.«

Nachdem Demonstranten vor ihrem Ministerium Verspätungen bei der Lieferung von Lebensmitteln an Suppenküchen angeprangert hatten, predigte die Ministerin die vollumfängliche Armenspeisung und provozierte damit eine fast zwei Kilometer lange Warteschlange vor ihrem Ministerium. Hunderte Menschen standen am Montag (Ortszeit) in der Hauptstadt Buenos Aires vor dem Amtssitz der für Sozialpolitik zuständigen Ministerin Sandra Pettovello des sogenannten anarchokapitalistischen Präsidenten Javier Milei an. Die »Warteschlange des Hungers« zog sich über fast 30 Häuserblocks.

Schon beim bloßen Lesen des Oxymorons »Anarchokapitalist« stellen sich bei echten Anarchisten die Haare zum Iro auf. Das Sozialministerium unter Milei heißt ebenso sprachverworren seit Dezember Ministerium für Humankapital. Aber egal, wie der Laden heißt, die Leute haben Hunger. Und so standen die Armen mal wieder Schlange. Empfangen wurden sie nicht. Präsidentensprecher Manuel Adorni sagte am Montag, Pettovello habe niemanden eingeladen und werde niemanden empfangen. Sie habe lediglich »spontan« ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, jedem einzelnen zu helfen. Später. Nicht heute. Wenn der Hunger verflogen ist oder so.

Den Hungrigen nichts wegzunehmen, war an dem Tag dann der Höhepunkt der Großzügigkeit. Adorni beteuerte angesichts des Sparkurses des neuen Präsidenten Milei, an Lebensmittelhilfen werde die Regierung niemals Abstriche vornehmen – »in einem Land, in dem praktisch die Hälfte in Armut lebt und fünf Millionen Menschen nicht jeden Tag ausreichend essen«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marcus B. (7. Februar 2024 um 15:15 Uhr)
    Ich verstehe den Widerspruch nicht, der hier vermeintlich in Anarchokapitalismus stecken soll. Kapitalistische Anarchie sollte doch ein Begriff sein. Beispiele gibt es auch: Russland unter Jelzin z. B. – keine Regeln, Marktwirtschaft in der hässlichsten Form, ohne Rücksicht auf soziale Belange. Ditto Humankapital, unter welchem Stein hat denn der Autor in den vergangenen Jahrzehnten gelebt? Das ist Neolibsprech für Arbeitskraft, die sich ja eigentlich dadurch auszeichnet, gerade nicht Kapital zu sein, zumindest nach Volkswirtschaftslehre: Arbeit, Boden, Kapital sind die drei Produktionsfaktoren. Arbeitskraft als Kapital zu betrachten, eröffnet ganz neue Möglichkeiten im Rechnungswesen: verschlissene Arbeitskräfte können als Kosten unter »Aufwendungen für Abnutzung« abgeschrieben werden(!) – Schöne (nicht mehr ganz so) neue Welt!

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