4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 06.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kunst

Das höfliche Hässliche

Zur Nachahmung empfohlen: Eine Retrospektive in Madrid würdigt den politischen Maler Ben Shahn (1898–1969)
Von Erich Hackl
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Ben Shahn: »We French Workers Warn You... defeat means slavery, starvation, death« (1942)

Augen auf die Bilder des US-Amerikaners Ben Shahn, dem das Madrider Museo Reina Sofía eine große Retrospektive widmet! Sie ist, 54 Jahre nach seinem Tod, Shahns erste umfassende Werkschau in Europa, trotz seiner überragenden Bedeutung als politischer Künstler und obwohl Arbeiten von ihm vor Jahrzehnten sowohl bei der Biennale von Venedig als auch bei der Documenta in Kassel zu sehen waren.

Ohne Umwege

1898 in Kaunas im heutigen Litauen geboren, emigrierte Shahn als Achtjähriger mit seiner Mutter und zwei Geschwistern in die Vereinigten Staaten, wo die Familie nach der Flucht seines Vaters aus Sibirien, wohin ihn das Zarenregime verbannt hatte, wieder vereint war. In Brooklyn absolvierte Shahn eine Lehre als Lithograph, ehe er an der National Academy of Design Kunst studierte. Nach einer Reise durch Europa, auf der er sich mit dem Werk von Paul Cézanne und Pablo Picasso vertraut machte, fand er schnell und ohne Umwege zu den Themen, die ihn bis an sein Lebensende nicht loslassen sollten: Klassenjustiz, Arbeitslosigkeit, Rassendiskriminierung, Einschränkung der Meinungsfreiheit. Die oft beschworene Unvereinbarkeit von der Autonomie der Kunst und dem Bedürfnis des Künstlers, sich politisch zu organisieren, war ihm offenbar nie ein Problem; er schuf Bilderzyklen über die anarchistischen Arbeiter Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die nach einem politischen Prozess 1927 als Raubmörder hingerichtet wurden, und den sozialistischen Gewerkschafter Tom Mooney, der ebenfalls aufgrund fragwürdiger Indizien für einen Bombenanschlag verantwortlich gemacht wurde, bereiste den Süden und den Mittelwesten der USA, um die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise sowie einer langen Dürreperiode auf das Leben der Landarbeiter und kleinen Farmer mit der Kamera festzuhalten, assistierte Diego ­Rivera beim großen Wandbild »Mensch am Scheideweg« für das Rockefeller Center (das wegen seiner offen kommunistischen Tendenz vom Auftraggeber zerstört wurde), übernahm während der Regierungszeit Franklin D. Roose­velts Aufträge für Plakate und Periodika, in denen er für die Reformen des New Deal, die Einführung der Sozialversicherung und den Sozialismus als Alternative zum kapitalistischen System warb, gab zusammen mit seiner zweiten Frau Bernarda Bryson die Zeitschrift Art Front der Künstlergewerkschaft Artists’ Union heraus und decouvrierte mit seinem unverwechselbaren Stil – einem scheinbar naiven Realismus – rechte Politiker und Agitatoren wie den unseligen Senator Joseph Mc­Carthy oder den antisemitischen Priester Charles Coughlin, dessen Radiopredigten großen Widerhall fanden.

Zwei Jahre lang, 1942 und 1943, arbeitete Shahn für das Office of War Information, ließ dafür aber den erwünschten Patriotismus vermissen. So eindeutig seine Bilder die Greuel des Nazismus darstellten, so entschieden unterstützte er im Kalten Krieg die Friedens- und Antiatombewegung. Heroismus war ihm fremd, das erweist sich unter anderem an seinen Porträts des Physikers J. Robert Oppenheimer, der den Einsatz von Nuklearwaffen verurteilte, an deren Entwicklung er entscheidend beteiligt gewesen war, und des Bürgerrechtlers Martin Luther King, dem in Shahns Zeichnung nichts von jenem sanften Gemüt anhaftet, mit dem Kings antirassistischer und antikolonialistischer Kampf nach seiner Ermordung verharmlost wurde.

Drei Fragen

Die Madrider Ausstellung wirft drei Fragen auf. Erstens die nach dem Verhältnis von Fotografie und Malerei. Wie schon erwähnt, war Shahn – neben professionellen Fotografen wie Walker Evans, Dorothea Lange oder Arthur Rothstein – einer der großen Chronisten der »Great ­Depression«. Allerdings begnügte er sich nicht damit, die Not der verarmten Bevölkerung mit seiner Leica abzubilden, sondern verwendete die Fotos auch als Vorlagen für gemalte Porträts, die jene meistens, aber nicht immer übertreffen, weil sie gemäß ihrem Entstehungsprozess das Dauernde, damit auch Gegenwärtige darstellen. Im Gegensatz zum Fotografen Shahn, der das Geschehen vor seinen Augen jäh erfassen musste, nutzte er als Maler die Möglichkeit, das Bildmaterial mit seinen politischen Erfahrungen und kulturellen Kenntnissen zu verbinden, zu gewichten und zu relativieren. Über den Eindruck, dass das Ergebnis bisweilen hinter der fotografischen Momentaufnahme zurückblieb, hätte man sich gern mit dem Künstler ausgetauscht.

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Ben Shahn: »Sam Nichols, tenant, farmer, Boone County, Arkansas« (1935)

Die zweite Frage zielt auf die Darstellbarkeit dessen, was eigentlich nicht oder nur von Überlebenden der industriellen Menschenvernichtung dargestellt werden darf: Holocaust und Porajmos. Noch während des Krieges hatte Shahn drei Bilder gemalt, die in Madrid auch zu sehen sind. Eines zeigt verhaftete Arbeiter in Vichy-Frankreich, ein anderes Männer am Stacheldraht eines Konzentrationslagers, das dritte behandelt die Vernichtung der tschechischen Ortschaft Lidice. Bei diesem war es ihm nicht mehr gelungen, das Sujet mit herkömmlichen Mitteln zu bändigen. Er hatte als Sinnbild einen Menschen mit übergestülptem Sack und angeketteten Armen gewählt und den Sachverhalt außerdem mit einem Zitat – einer Depesche des Berliner Rundfunks und der Überschrift »This is Nazi Brutality« – erklärt. Gelungener wirkt hingegen, allein durch den Kontrast zwischen dem Titel »Liberation« und dem Bild, auf dem kränkliche, ausgemergelte Mädchen inmitten einer Ruinenlandschaft schaukeln, Shahns Gemälde aus der Zeit unmittelbar nach Kriegsende: Es ist, auch wenn er an der Gegenständlichkeit festhält, eine surreal anmutende Allegorie. Sie erinnert mich an eine Äußerung der Linzer Arbeiterschriftstellerin Henriette Haill, einer Kommunistin, wonach die Befreiung vom Nazijoch von ihr nicht als Erlösung empfunden wurde, wegen der vielen Toten, auch und vor allem unter ihren Genossen, und wegen der belasteten Jugend, die gezwungen gewesen war, im Krieg mitzumachen, oder aus freien Stücken mitgemacht hatte.

Notwendig nonkonform

Die dritte Frage schließlich ist die nach Shahns Durchhaltevermögen: Wie konnte er dem doppelten Druck standhalten, dem politischen, seiner linken Gesinnung abzuschwören, und dem künstlerischen, sich dem Zwang zur abstrakten Malerei zu beugen. Und wie ließ sich das Problem lösen, dass Unrecht und Gewalt zwar weiterbestanden, aber gleichsam unsichtbar wurden, sich nicht mehr im Aussehen und Auftreten der Mächtigen zu erkennen gaben. Ihm stand in diesen Fragen außer seiner Frau, einer außergewöhnlich begabten Illustratorin, nur ein Maler zu Seite: Jack Levine, der ebenfalls aus einer jüdisch-litauischen Familie stammte und wie Shahn in seinen Bildern Militarismus und Korruption anprangerte. Der Grafiker Rudolf Schönwald, der gemeinsam mit Alfred ­Hrdlicka und Georg Eisler im Österreich der 1950er Jahre Ähnliches im Sinn hatte, wusste nichts von Ben Shahn, hatte aber in einer Zeitung ein Bild Jack Levines gesehen, die karikierende Darstellung einer Dinnerparty, mit der Levine beißende Kritik an der US-amerikanischen Militärkaste übte. Als Schönwald 1969 nach New York kam, suchte er Levine in dessen Atelier auf. Dort wies ihn sein älterer Kollege auf das eben genannte Dilemma hin, dass die Gemeinheiten, die er malend bloßstellen wollte, sich im Erscheinungsbild seiner politischen Feinde, zum Beispiel der Delegierten eines republikanischen Parteikonvents, kaum noch niederschlugen. »Sie müssen wissen«, sagte er zu Schönwald, »es gibt auf der ganzen Welt nichts Schlimmeres als diese Typen, aber sie haben schöne, ebenmäßige Gesichter, wohlproportionierte, schlanke Körper und gute Umgangsformen, so dass selbst ein George Grosz daran scheitern würde, ihren miesen Charakter an Äußerlichkeiten festzumachen.«

Ben Shahn starb im selben Jahr, 1969. Er wandte sich in seiner letzten Schaffensperiode biblischen Themen zu, blieb aber ein Verfechter des Nonkonformismus, den er in einer berühmt gewordenen Vorlesung an der Universität Harvard, 1957, als »unabdingbare Voraussetzung nicht nur für das künstlerische Schaffen, sondern für jeden bedeutenden sozialen Wandel« zur Nachahmung empfohlen hatte.

»Ben Shahn: De la no conformidad/On Nonconformity«, Museo Reina Sofía, Madrid, bis 26. Februar

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