4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 06.02.2024, Seite 1 / Titel
Ukraine-Krieg

Selenskij ohne Kompass

Ukrainischer Präsident will Armeechef noch immer loswerden und verlangt Glauben an Sieg. Anzeichen für russische Offensive verdichten sich
Von Reinhard Lauterbach
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Täuscht unerschütterlichen Optimismus vor: Selenskij am Sonntag auf Truppenbesuch in Dnipropetrowsk

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat seine Pläne bekräftigt, Armeekommandeur Walerij Saluschnij zu entlassen. Dem italienischen Fernsehsender RAI sagte er am Sonntag abend, nach zwei Jahren Krieg brauche die ukrainische Führung einen »Reset«. Man könne nicht für den Sieg der Ukraine kämpfen, wenn man nicht an ihn glaube. Die ganze Führung des Landes müsse in dieselbe Richtung arbeiten, legte Selenskij die Existenz interner Differenzen offen. Nach einem Bericht des US-Fernsehsenders CNN hat der Präsident die Entlassung Saluschnijs bisher aus zwei Gründen nicht vollzogen: Erstens, weil die anvisierten Nachfolgekandidaten beide abgesagt hätten, zweitens, weil er fürchte, dass die Armee »in Gärung geraten« könnte, wenn der in der Truppe beliebte General gefeuert würde.

Bei einem Frontbesuch gab Selenskij zuvor ein weiteres Beispiel seines unerschütterlichen Optimismus. Im frontnahen Dorf Rabotino im Bezirk Saporischschja befahl er, die Luftabwehr des Landes zu verstärken. So könnten auch schwere Luftangriffe gegen die kritische Infrastruktur unterbunden werden, sagte Selenskij mit Blick auf einen russischen Drohnenangriff auf das zentrale Kraftwerk seiner Heimatstadt Kriwij Rig (Kriwoj Rog). In der Folge waren Teile der Stadt noch am Montag ohne Strom; auch die Wasserversorgung war nur eingeschränkt. Der Galgenhumor an diesem Befehl liegt darin, dass unabhängig davon eine rasche Verbesserung nicht zu erwarten ist. Denn auf Selenskijs eigene Anordnung ist die ukrainische Luftabwehr um die Hauptstadt Kiew konzentriert, um dort – auch für internationale Besucher – den Eindruck eines möglichst »normalen« Lebens zu erwecken.

Unterdessen verschlechtert sich die Situation der ukrainischen Truppen in der seit zwei Monaten umkämpften Stadt Awdijiwka bei Donezk weiter. Über das Wochenende räumten auch ukrainische Militärkorrespondenten ein, dass die russischen Truppen im Norden der Stadt die ukrainischen Linien »durchbrochen« hätten – nach anderen Quellen sollen sie sie umgangen haben. Darüber hinaus liegt die einzige noch offene Nachschubstraße inzwischen unter ständigem russischem Beschuss. Einer der Gründe für das Zerwürfnis zwischen Selenskij und General Saluschnij liegt darin, dass letzterer den Rückzug aus Awdijiwka – wie auch zuvor den aus Bachmut – empfohlen hatte, um der Truppe strategisch unnötige Verluste zu ersparen. In den frontnahen Leichenschauhäusern sollen derzeit täglich jeweils 20 bis 30 gefallene Soldaten ankommen, berichtete die französische Zeitung Le Figaro am Wochenende in einer Reportage aus dem Frontgebiet. Ein ukrainischer Abgeordneter hatte vor kurzem von Verlusten in Höhe von täglich mindestens 1.000 Soldaten gesprochen.

In dieser Situation diskutiert die ukrainische Öffentlichkeit immer mehr über angeblich bevorstehende russische Großoffensiven. Das US-Magazin Forbes berichtete am Sonnabend unter Berufung auf ukrainische Militärkreise, Russland habe östlich der Stadt Kupjansk im Bezirk Charkiw 40.000 Soldaten und 500 Kampfpanzer zusammengezogen, um auf diese Stadt vorzustoßen und die Linie des Flusses Oskil einzunehmen. Die ­Ukraine habe zur Abwehr Tausende von Drohnen bereitgestellt. Andere ukrainische Medien spekulieren über mögliche Vorstöße im Nordabschnitt durch das Gebiet Sumi in Richtung Kiew. Dort errichtet die Ukraine derzeit unter hohem Zeitdruck umfangreiche Feldbefestigungen.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (6. Februar 2024 um 11:41 Uhr)
    Wozu benötigt ein Schauspieler einen Kompass? Selenskij kann sich glücklich schätzen, einen versierten Dramaturgen zu haben, dank dem er bisher seine Hauptrolle brillant verkörpert hat. Doch nun, da der Ermüdungskrieg und ein möglicher Sieg der Ukraine immer unsicherer werden, häufen sich natürlich die Probleme und Konflikte im inszenierten »Ukraine-Theater«. Die von Selenskij gespielte Hauptrolle füllt die Kassen nicht mehr so klangvoll, und das als »Serienprodukt« konzipierte, in die Länge gezogene Stück ohne Aussicht auf ein Happy End hat eindeutig an Interesse verloren. Die Serie muss ein Ende finden, denn selbst der Austausch einiger Figuren kann die zunehmend grausame Serie nicht mehr retten.
    • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (7. Februar 2024 um 15:16 Uhr)
      Vor allem der Austausch der Figuren hinter dem Vorhang muss in Washington beginnen und über Brüssel bis nach Berlin fortgesetzt werden; und zwar je eher und je schneller, desto besser, denn umso weniger Menschen müssen noch weiter sinnlos sterben.

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