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Aus: Ausgabe vom 03.02.2024, Seite 15 / Geschichte
Russisch-Japanischer Krieg

Missratenes Abenteuer

Vor 120 Jahren versuchte das zaristische Russland mit einem Krieg gegen Japan, die heranreifende revolutionäre Situation zu entschärfen – und scheiterte
Von Reinhard Lauterbach
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Todeszug. Karikatur zum russisch-japanischen Krieg aus einem Journal russischer Revolutionäre, 1906

Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Krimkrieg gezeigt, dass die Westmächte Großbritannien und Frankreich eine weitere Expansion Russlands nach Südwesten nicht hinnehmen und auch praktisch verhindern würden. In den darauffolgenden Jahren wandte sich das Zarenreich der Unterwerfung der zentralasiatischen Gebieten an seiner Südgrenze zu, bis es um 1890 in Persien und Afghanistan auf britische Interessen stieß und keine weitere Expansion wagte. Es blieb der Osten als letzte gangbare Expansionsrichtung.

Die Gelegenheit schien günstig: Russland kontrollierte den Norden der eurasischen Landmasse zwar eher formell als tatsächlich, hatte aber schon im 18. Jahrhundert den Pazifik erreicht. China war durch die Opiumkriege als Machtfaktor geschwächt und musste sich in den 1880er Jahren auf mehrere »ungleiche Verträge« mit seinen aufstrebenden Nachbarn Russland im Norden und Japan im Osten einlassen. Diese Verträge verschafften Japan die Herrschaft über die koreanische Halbinsel und Russland die über die nördlich an Korea angrenzende Mandschurei. Japan hatte sich seit der Meiji-Revolution von 1868 einen Crashkurs in Modernisierung verpasst, der dem Land innerhalb weniger Jahrzehnte eine eigene Industrie und eine von dieser ausgerüstete moderne Armee und Marine verschaffte. Japan hatte überdies den Vorteil, auf der sogenannten inneren Linie zu operieren, also nah der Heimatbasis und mit kurzen Verbindungswegen. Russland dagegen hatte erst ein gutes halbes Jahr, bevor die Feindseligkeiten mit Japan definitiv ausbrachen, die seit 13 Jahren im Bau befindliche Transsibirische Eisenbahn wenigstens eingleisig fertiggestellt.

Japanische Überlegenheit

Trotzdem war die russische Armee in der Mandschurei und im Fernen Osten der japanischen in allen wesentlichen Parametern zahlenmäßig überlegen. Aber sie wurde inkompetent geführt. So kam es, dass Japan, als es am 9. Februar 1904 mit einem nächtlichen Torpedobootangriff auf die russische Marinebasis Port Arthur auf der an Korea angrenzenden Halbinsel Liaodong den Krieg eröffnete, sofort mehrere russische Schiffe versenken konnte – und dies, obwohl die russische Spionage gemeldet hatte, was Japan im Schilde führte. Aber die russische Staatsführung wiegte sich in Sicherheit: In Petersburg hatte man die in Japan erfolgreich eingeleitete industrielle Revolution übersehen oder zumindest ihre Folgen bagatellisiert. Ein Geheimdienstbericht behauptete, es werde noch Jahrhunderte dauern, bis aus Japan ein ernstzunehmender Gegner geworden sein könne.

Als entscheidend erwies sich die japanische Überlegenheit zur See. Die japanische Flotte versenkte ein russisches Schiff nach dem anderen, der russischen Pazifikflotte gelang nicht einmal der Durchbruch aus dem belagerten Port Arthur nach Wladiwostok. Und als die Zarenregierung im Herbst 1904 ein Geschwader aus Schiffen der Ostseeflotte rund um Europa und Afrika herum in den Pazifik in Marsch setzte, begannen die Peinlichkeiten gleich zu Beginn: In der Nordsee kam es zum »Doggerbank-Zwischenfall«, als russische Kreuzer britische Fischtrawler beschossen, weil sie die für japanische Patrouillenboote hielten. Als die russische Flotte dann im Frühjahr 1905 auf dem Kriegsschauplatz ankam, wurde sie in der Meerenge von Tsushima (zwischen Japan und Korea) gleich im ersten Gefecht praktisch vollständig versenkt oder außer Gefecht gesetzt.

Zu Lande verlief der Krieg etwas wechselhafter: Russland verfügte über die größere Zahl an Soldaten und Material, auch wenn das japanische Militär moderner ausgerüstet war. Entscheidend aber war, dass Russland den japanischen Nachschub über Korea wegen der Zerschlagung seiner Flotte nicht mehr gefährden konnte. So kam es in den großen Schlachten um Port Arthur und Mukden im Laufe des Jahres 1904 schlussendlich zu russischen Niederlagen, die dem Zarenreich nahelegten, ein Vermittlungsangebot der USA anzunehmen. Der Krieg mit Japan wurde zu für Russland günstigen Konditionen 1905 in Portsmouth in den USA beendet.

Auch Washington hatte kein Interesse daran, dass die entscheidende politische Lehre aus dem Krieg allzudeutlich herauskam: dass der »weiße Mann« nicht unbesiegbar war und eine der lange verachteten Nationen Asiens ihn schlagen konnte. Aus japanischer Perspektive freilich schien der Sieg gegen Russland zu zeigen, dass eine militaristische Außenpolitik erfolgversprechend war. Die Expansionsgeschichte Japans bis zum Krieg um die Vorherrschaft im Pazifik ab 1941 war von dieser Erfahrung geprägt – bis die Aufgabe, die USA zu besiegen, die Ressourcen des Landes dann doch überstieg.

Militärisch wird der Russisch-Japanische Krieg heute gern als Vorspiel zum Ersten Weltkrieg bezeichnet. Damit ist weniger der für Marxisten evidente Aspekt einer zum Weltkrieg ausgeweiteten kolonialen Rivalität gemeint, als vielmehr erstens, dass der Einsatz von Maschinenwaffen und Artillerie in einem lange unentschiedenen Stellungskrieg vorwegnahm, was nach 1914 in Europa fast vier Jahre lang Realität war. Zweitens aber und vor allem kristallisierte sich nach dem Russisch-Japanischen Krieg die Mächtekonstellation in Europa heraus, die bis 1914 Bestand hatte: eine Allianz zwischen Russland, England und Frankreich. Russland hatte eingesehen, dass es Verbündete brauchte und dass es zu schwach für eigenständige koloniale Abenteuer war. Lenins These von Russland als dem »schwächsten Kettenglied« des internationalen Kapitalismus fand hierin ihre empirische Grundlage.

Geschwächtes Zarenregime

Russland war in den Krieg aktiv hineingegangen, weil es seinen Gegner unterschätzt und gehofft hatte, durch einen »kleinen siegreichen Krieg« irgendwo am fernen Ende des Reiches die innenpolitischen Spannungen befrieden zu können. Die hatten mit dem Konflikt in Fernost nur indirekt zu tun. Aber die Spannung zwischen dem hohen Bevölkerungswachstum und der nur halb so schnell wachsenden Produktivität der Landwirtschaft führte zwangsläufig zu einer Verelendung der Arbeiter und Bauern in Russland. Schon vor dem Krieg hatte die Zahl der Streiks im Land zugenommen, in Petersburg gingen am »Blutsonntag«, dem 25. Januar 1905, 250.000 Arbeitende auf die Straße. Das Zarenregime hatte die Revolution, der es hatte vorbeugen wollen, selbst beschleunigt. Denn die Niederlagen in Fernost zeigten, dass der Staat besiegbar war. Das machte nicht nur das Proletariat anspruchsvoll, sondern auch die russische Bourgeoisie. Nach der niedergeschlagenen Revolution von 1905 bis 1907 kam der Zar um ein Parlament mit Gesetzgebungsrecht nicht mehr herum. Und das Proletariat hatte nach einem hoffnungsvollen Statement von Lenin »eine große Lektion im Bürgerkrieg erhalten«.

Rosa Luxemburg: Russland blind, unfähig, bankrott

Die Zarenregierung kämpft jetzt mit Japan um die chinesische Haut, um dieselbe Haut, nach der es allen anderen Mächten gelüstet. Daher die Gefahr, dieser Krieg könnte früher oder später die ganze kapitalistische Welt in seinen Wirbel hineinziehen. Daher die Gefahr dieses Krieges für das gesamte internationale Proletariat. (…)

Wenn die Zarenregierung bemüht ist, jetzt die ganze Schuld auf Japan abzuwälzen, so ist das eine in die Augen stechende Lüge. Abgesehen schon von solch augenscheinlichen Tatsachen wie der Besetzung der Mandschurei, dem Hinschleppen der Verhandlungen und der Konzentrierung von Panzerschiffen, Militär und Vorräten im Fernen Osten, drängte die Zarenregierung schon seit langem, von dem Augenblick an, als sie die sibirische Bahn zu bauen begann, zu diesem Kriege. War denn selbst der Plan dieser Bahn etwas anderes, als ein Vordringen Russlands gegen China und Japan, als eine Vorbereitung zur Eroberung Asiens? Und obwohl der Zar den Krieg fürchtete, obwohl die zaristische Diplomatie darauf rechnete, dass Japan nicht den Mut zum Kriege haben werde, drängte doch die ganze Vergangenheit zu diesem Kriege, bis die Zarenregierung die Herrschaft über die von ihr geschaffene Situation verlor, bis der Krieg gegen ihren Willen unvermeidlich wurde. Infolge aller ihrer politischen Verbrechen war die Zarenregierung blind, wie jede Regierung im Zeitpunkt ihres endgültigen Niederganges. Sie hatte sich verrechnet, wie das der Anfang des Krieges zeigte, der Russland unvorbereitet, unfähig zur Tat, infolge des Absolutismus, der Diebstähle, der Demoralisierung des Administrations- und Regierungsapparates innerlich fand, bankrott.

Rosa Luxemburg: Krieg (1904). Ursprünglich in: Czerwony Sztandar 2/1904; online auf: www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1904/02/krieg.html

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (5. Februar 2024 um 14:47 Uhr)
    Das klingt ja, als habe Russland Japan angegriffen, nicht umgekehrt. Die Fakten sagen das Gegenteil! Aus auf Russland fixierter Sicht stimmt die Überschrift also nicht, aber auch nicht mit Blick auf Japan. Aus dieser Sicht war der Angriffskrieg »erfolgreich«, wesentlich auch durch die britische Unterstützung und, wie Lauterbach feststellt, die logistischen Vorteile Japans auf diesem Kriegsschauplatz. Unter dem ersteren Aspekt geht es aber darum, ob denn Russland sich etwa ganz auch aus seinem Fernen Osten hätte zurückziehen müssen (was mit der USA-Vermittlung vermieden werden konnte). »Abenteuer« war jedoch die russische Dominanz in der Mandschurei, ebenso wie die deutsche in Tsingtau (Qingdao), die britische am Perlfluss, am Jangtsekiang und gegenüber von Port Arthur in Weihaiwei, die französische rund um Tongkin (Nord Vietnam), die japanische in Fujian gegenüber der Kolonie Taiwan, gegenüber dem Volk Chinas, weil so die chinesische nationale Revolution »provoziert« wurde – doch nicht gegenüber dem jüngeren imperialistischen Räuber Japan! Der sich mit der Annexion Koreas schon erfolgreich an die Ressourcen Nordostchina herangearbeitet hatte! Ungern gebraucht man ja das Wort »hineingeschlittert«. Aber das ist m. E. für Russlands Lage im japanisch-russischen Krieg zutreffend. Nicht »Abenteuer«.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (3. Februar 2024 um 14:22 Uhr)
    Ergänzend und als geschichtliche Voraussetzung zum im Artikel erwähnten Zeitpunkt: Der Verkauf von Alaska an die Vereinigten Staaten im Jahr 1867 markierte in gewisser Weise das Ende der russischen Ostexpansion. Die Vereinigten Staaten zahlten 7,2 Millionen Dollar in Gold für das Gebiet. Ein beträchtlicher Teil der Mittel wurde verwendet, um die Staatsschulden Russlands zu reduzieren. Ein weiterer Teil floss in die Modernisierung von Infrastrukturprojekten, einschließlich des Ausbaus von Eisenbahnen und der Verbesserung von Verkehrsverbindungen. Einige Mittel wurden in die Förderung der Industrie investiert, was einen bedeutenden Schritt in Richtung Industrialisierung markierte. Nicht zufällig geschah es, dass die Teilnahme Russlands als größter Aussteller auf der Weltausstellung von 1900 in Paris ein Versuch war, das moderne Image des Landes zu präsentieren und sein technologisches, wissenschaftliches und kulturelles Potenzial zu zeigen. Um 1900 war das russische Zarenreich unter den europäischen Herrschaften in vielerlei Hinsicht eine der mächtigsten Nationen. Die Bevölkerungszahl war die größte, und Russland erstreckte sich über eine ausgedehnte geografische Fläche. Kulturell und religiös war das russische Kaiserreich ebenfalls vielfältig. Die orthodoxe russische Kirche spielte eine zentrale Rolle im kulturellen und religiösen Leben des Landes. Die russische Kultur hatte auch weltweit Einfluss, insbesondere in den Bereichen Literatur, Musik und Kunst. Militärisch war das russische Zarenreich eine der bedeutendsten Mächte, insbesondere aufgrund seiner großen Armee. Insgesamt kann man sagen, dass das russische Zarenreich um 1900 eine bedeutende europäische und weltliche Macht war, jedoch auch mit eigenen Problemen zu kämpfen hatte, insbesondere in Bezug auf industrielle Entwicklung und gesellschaftliche Strukturen. Schließlich erwies sich der Russisch-Japanische Krieg als Fehleinschätzung mit katastrophalen Folgen.

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