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Aus: Ausgabe vom 02.02.2024, Seite 7 / Ausland
Nahostkonflikt

Entmündigung als Versprechen

Gazakrieg: Gerüchte über zügige Umsetzung einer Zweistaatenlösung nach Waffenstillstand
Von Jörg Tiedjen
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In der Schlange: Warten auf Wasser in Rafah (31.1.2024)

Zwar scheint Israels ultrarechte Regierung weit entfernt davon, ihre erklärten Kriegsziele in Gaza zu erreichen. Dennoch mehren sich Spekulationen und Gerüchte, was denn in Zukunft mit dem Küstenstreifen geschehen soll, wenn die Kämpfe einmal beendet sein werden, die sich mittlerweile auf die ganze Region ausgeweitet haben. Am Mittwoch meldete sich in der New York Times der langjährige Chefkolumnist Thomas Friedman zu Wort und fabulierte von einer neuen »Biden-Doktrin«, die gerade im Entstehen sei.

Der erste Bestandteil dieser angeblichen Doktrin, deren Grundlinien kurz zuvor schon ein Artikel der Nachrichtenseite Axios umrissen hatte, kann kaum erstaunen: Eine »strenge und unnachgiebige Haltung gegenüber Iran, einschließlich einer robusten militärischen Vergeltung gegen Teherans Verbündete und Anhänger in der Region als Antwort auf die Tötung von drei US-Soldaten in einem Stützpunkt in Jordanien, durch eine Drohne, die offensichtlich von einer proiranischen Miliz im Irak abgefeuert worden war«.

Auf den ersten Blick überraschend ist allerdings der zweite Punkt, den Friedman anführt: »eine beispiellose diplomatische Initiative der USA zur Förderung eines palästinensischen Staates – jetzt.« Sie würde die »Anerkennung eines entmilitarisierten Staates Palästina im Westjordanland und im Gazastreifen beinhalten«, von dem sichergestellt sei, »dass er lebensfähig ist und Israel niemals bedrohen« könne.

Zwar ruderte das State Department in Washington sogleich zurück, wie die Onlinezeitung Times of Israel am gleichen Tag mitteilte. Demnach habe Außenamtssprecher Matthew Miller auf einer Pressekonferenz hervorgehoben, dass die USA seit langem eine Zweistaatenlösung befürworteten, weswegen man nicht von einem Kurswechsel sprechen könne. Aber erst am Montag hatte auch der britische Außenminister David Cameron zum Antritt einer Reise in die Krisenregion erwähnt, dass man nach einem Waffenstillstand eine baldige Anerkennung Palästinas in Erwägung ziehe. Schließlich müsse das Vereinigte Königreich den Palästinensern »die politische Perspektive eines glaubwürdigen Weges zu einem palästinensischen Staat und zu einer neuen Zukunft« geben, wie Cameron tags zuvor in einem Beitrag für Mail on Sunday formuliert hatte.

Der dritte und letzte Bestandteil der »Biden-Doktrin« sei Friedman zufolge »ein erheblich erweitertes US-Sicherheitsbündnis mit Saudi-Arabien, das auch eine Normalisierung der Beziehungen Saudi-Arabiens zu Israel beinhalten würde«. Riad spielt auch in weiteren Veröffentlichungen aus dieser Woche eine wichtige Rolle. So berichteten israelische Medien am Mittwoch von einem Plan der Regierung in Tel Aviv, nach dem Ende der Kämpfe zunächst eine »provisorische« Militäradministration in Gaza einzusetzen, die für die humanitären Bedürfnisse der Palästinenser zuständig sein werde. Später solle die Kontrolle über den Küstenstreifen dann an eine »Koalition arabischer Staaten« übergeben werden. Dabei handele es sich eben um Saudi-Arabien, ferner Ägypten, Marokko, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain, die bereits offiziell diplomatische Kontakte mit Israel unterhalten.

Letzter Schritt, so die Berichte aus Israel weiter, sei die Gründung einer »neuen Palästinensischen Autonomiebehörde«, an die am Ende die Regierung übergeben werde. Die Mitglieder der zu schaffenden Einrichtung sollten weder mit der Hamas noch mit der Fatah des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas verbunden sein. Nimmt man alles zusammen, könnte man auch sagen, dass die seit den Oslo-Verträgen eingeschlagene Politik einfach weitergehen soll: ein palästinensisches Vasallenregime wie das in Ramallah zu installieren, das den Alltag der Besetzung in israelischem Auftrag regelt, aber unter Ausschluss nicht genehmer politischer Formationen.

Das mag ein westliches Publikum beruhigen. Palästinenser dürften jedoch etwas dagegen haben, sich von Israel und seinen Verbündeten nach dem Gemetzel in Gaza weiter politisch kaltstellen und entmündigen zu lassen. Solche Versuche sind der Grund und nicht die Lösung für den Konflikt im Nahen Osten.

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