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Aus: Ausgabe vom 31.01.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Bauernproteste in Frankreich

»Wir brauchen einen radikalen Wandel«

Über die Bauernproteste in Frankreich, und warum es um mehr als Agrardiesel geht. Ein Gespräch mit Thierry Jacquot
Von Luc Śkaille, Marseille
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Bereit, das Land lahmzulegen: Am Dienstag haben Bauern mit Traktoren alle Autobahnen nach Paris blockiert

Thierry Jacquot ist Rinderzüchter und Sprecher der Bauerngewerkschaft Confédération paysanne im Grand-Est

In Frankreich nehmen die Proteste in der Landwirtschaft zu. Was sind die Ursachen?

Die großen Bauernverbände FNSEA und Coordination Rurale sehen die Probleme der Landwirtschaft in den zunehmenden Sozial- und Umweltauflagen sowie in den Freihandelsabkommen. Sie wollen, dass der Staat die EU-Normen nicht mehr unterstützt, dass der Green Deal abgelehnt wird und dass die Regulierung des Pestizideinsatzes, der bis 2050 halbiert werden soll, abgelehnt wird. Es geht auch um die Besteuerung von Agrardiesel. Uns geht es vor allem darum, dass landwirtschaftliche Arbeit auch ein menschenwürdiges Leben ermöglicht und sinnvoll ausgeübt werden kann.

Die Regierung hat sich entschieden, die Proteste zunächst nicht zu unterbinden. Warum?

Die französische Regierung hat beschlossen, die Bewegung nicht mit der Polizei zu stoppen, weil der Bauernverband FNSEA seit 2023 mit ihr verhandelt und eine starke Unterstützung hat, die bereit ist, das Land lahmzulegen.

Die Confédération paysanne beteiligt sich an der Mobilisierung. Mit welchen Forderungen?

Wir fordern ein Gesetz, das den Verkauf unserer Produkte unter dem Herstellungspreis verbietet. Außerdem wollen wir, dass die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen Mercosur abgebrochen werden. Wir fordern mehr Mittel, um den notwendigen agrarökologischen Wandel zu realisieren. Außerdem geht es uns um Vereinfachungen in den Bereichen Normen und Verwaltung, die an die Realität auf unseren Höfen angepasst werden müssen.

Kritiker sagen, Protektionismus, also die Ablehnung von Freihandelsabkommen, sei eine nationalistische Forderung. Was sagen Sie dazu?

Für uns sind Agrarprodukte und Lebensmittel keine Ware wie jede andere. Sie sind existentiell. Deshalb müssen sie von den Regeln der Welthandelsorganisation ausgenommen werden. Wir müssen Ernährungsautonomie in allen Ländern anstreben. Niemand darf zurückgelassen werden, deshalb brauchen wir solidarische Partnerschaften für die Länder, die Schwierigkeiten haben, Ernährungsautonomie aufzubauen. Das hat nichts mit Protektionismus zu tun, sondern mit gesundem Bauernverstand.

Wie ist das Verhältnis zu den eher rechten und industriefreundlichen Bauernverbänden FNSEA und Coordination Rurale?

Auch wenn wir teilweise ähnliche Probleme wie die Coordination Rurale oder die FNSEA sehen, sind unsere Antworten oft völlig unterschiedlich. Es gibt nur sehr wenige Ausnahmen, in denen wir gemeinsame Mobilisierungen unterstützen.

Welche Perspektive haben die Proteste?

Ich hoffe, dass die Bauernproteste dazu beitragen, dass unsere Mitbürger die Herausforderungen verstehen, mit denen vor allem die Kleinbauern derzeit konfrontiert sind. Außerdem wäre es wünschenswert, dass starke strukturelle Maßnahmen ergriffen werden, damit es angemessene Löhne gibt, die es uns ermöglichen, dauerhaft gesunde Lebensmittel für alle zu produzieren.

Wie kann langfristig verhindert werden, dass die Landwirtschaft vor die Wand fährt?

Wenn unsere Landwirtschaft vor die Wand fährt, dann vor allem wegen des wahnsinnigen Drucks, den das ultraliberale globalisierte Wirtschaftssystem auf uns ausübt. Dieses System hat sich überlebt und ist sozial und ökologisch zerstörerisch. Wenn wir wollen, dass die Landwirtschaft eine Zukunft hat, haben wir keine andere Wahl, als einen radikalen Wandel voranzutreiben.

Hintergrund: Macron blockiert Mercosur

Die EU-Kommission strebt trotz gegenteiliger Äußerungen aus Frankreich nach wie vor ein Handelsabkommen mit dem südamerikanischen Staatenblock Mercosur an. »Die Europäische Union verfolgt weiterhin ihr Ziel, ein Abkommen zu erreichen«, sagte Kommissionssprecher Eric Mamer am Dienstag in Brüssel. »Die Gespräche werden fortgesetzt.«

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte am Montag vor dem Hintergrund der Bauernproteste in seinem Land angekündigt, die Verhandlungen zu blockieren. Er gehe deshalb davon aus, dass die EU die Gespräche abbrechen werde, so Macron. Auch Regierungschef Gabriel Attal hatte betont, Frankreich lehne das Abkommen ab.

Die französischen Landwirte sind verärgert über steigende Kosten und billige Importe. Sie wehren sich gegen die laufenden Gespräche über ein Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten. Das würde ihrer Meinung nach billige Lebensmittelimporte ermöglichen, die nicht den strengen EU-Standards entsprechen. Auch Paris befürchtet negative Folgen für die eigenen Landwirte durch die drohende Konkurrenz aus Südamerika.

Mit dem Mercosur-Abkommen soll eine der größten Freihandelszonen der Welt mit mehr als 715 Millionen Einwohnern entstehen. Der Vertrag zwischen der EU und den südamerikanischen Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay ist bereits seit 2019 ausverhandelt, allerdings steht noch eine Zusatzerklärung für strengere Umweltauflagen für die Landwirte dieser Länder aus. Wenn diese formuliert ist, müssen die 27 EU-Länder den Vertrag noch ratifizieren. (rsch)

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