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Aus: Ausgabe vom 29.01.2024, Seite 1 / Titel
Ungarn

Antifa: Ehre, wem Ehre …

Prozessbeginn in Ungarn: Wegen angeblichen Angriffs auf Neonazis beim »Tag der Ehre« droht Antifaschisten aus Deuschland und Italien langjährige Haft
Von Lou Brenner
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Nicht einschüchtern lassen: Antifaproteste – hier in Budapest 2023 – sind in Ungarn seit Antritt des rechten Präsidenten Orbán im Jahr 2010 Ziel von Repressalien

Drei Antifaschisten aus Deutschland und Italien stehen am Montag in Budapest vor Gericht. Die Anklage: Sie sollen einer kriminellen Vereinigung angehören und am »Tag der Ehre« im Februar 2023 in der ungarischen Hauptstadt gemeinsam mit anderen Personen Neonazis angegriffen und verletzt haben. Den zwei Deutschen drohe Freiheitsstrafe zwischen einem und fünf Jahren, so die Budapester Staatsanwaltschaft auf Anfrage des MDR. Der Italienerin werden »drei versuchte lebensgefährliche Körperverletzungen« vorgeworfen, was mit »einer Freiheitsstrafe zwischen zwei und 24 Jahren« bestraft werden könne, so die Anklagebehörde weiter.

Der »Tag der Ehre« hat sich zu einem der größten jährlichen Neonaziaufmärsche in Europa entwickelt. Dabei wird Wehrmachts- und SS-Soldaten sowie ihrer ungarischen Kollaborateure »gedacht«, die beim Ausbruch aus dem »Budapester Kessel« in der Nacht zum 12. Februar 1945 getötet wurden. Damals war es einigen hundert Faschisten gelungen, aus der seit Dezember 1944 von der Roten Armee umzingelten Stadt zu entkommen. Den Marsch durch die umliegenden Wälder laufen Neonazis jährlich bei einer Wanderung nach – teilweise in Wehrmachtsuniformen mit Hakenkreuzen und Hitler-Bildern. Seit 1997 stellen sich Antifaschistinnen und Antifaschisten dem Spuk entgegen, seit einigen Jahren wird auch europaweit zum Gegenprotest mobilisiert. Im vergangenen Jahr war es am »Tag der Ehre« angeblich zu Angriffen von Antifaschisten auf Neonazis gekommen.

Zwei der in Ungarn Angeklagten befinden sich bereits vor Ort in Untersuchungshaft, eine dritte Angeklagte kommt in Deutschland Meldeauflagen nach. In Ungarn wird nach vier weiteren Personen gefahndet, in Deutschland nach zehn. Einige der Untergetauchten sollen aus dem Umfeld von Lina E. stammen, die im Mai 2023 im »Antifa Ost«-Prozess vom Oberlandesgericht Dresden mit drei Mitangeklagten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden war. Einem in Mailand in Untersuchungshaft sitzendem Italiener droht die Auslieferung nach Ungarn. Eine weitere tatverdächtige Person aus Jena, Maja T., wurde im Dezember in Berlin festgenommen. Am fünften Januar haben die ungarischen Behörden einen Auslieferungsantrag gestellt.

Ob T. tatsächlich ausgeliefert wird, sei schwer abzuschätzen, erklärte Anwalt Sven Richwin auf einer Pressekonferenz am Samstag in Berlin. Er erwarte eine Entscheidung »in einigen Wochen«. Es drohe eine langjährige Haftstrafe. Angehörige hätten »Angst, dass Maja unter unerträglichen und unmenschlichen Bedingungen eingesperrt wird«, erklärte T.s Vater. Er verweist dabei auf »eine Reihe von Missständen« bei den Haftbedingungen der italienischen Mitangeklagten Ilaria S. Diese sitzt in jenem Gefängnis in Budapest, in das auch T. kommen würde. In den ersten sechseinhalb Monaten ihrer Haft hatte die 39jährige demnach keinen Kontakt zu Angehörigen. In den ersten Wochen sei sie 23 Stunden täglich in Einzelhaft gewesen. Mehrfach wurde ihr tagelang der Zugang zu sämtlichen Hygieneartikeln verwehrt, »sie hatte nicht einmal Toilettenpapier«. »Wir treten an die Öffentlichkeit, um zu verhindern, dass es zu Auslieferungen nach Ungarn kommt«, schreiben mehrere Eltern der mit europäischem Haftbefehl gesuchten Antifaschisten in einem am Samstag veröffentlichten offenen Brief. Maja habe »ein Recht auf ein faires Verfahren«, so der Vater, doch in Ungarn werde es das nicht geben.

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