Weg vom »Schlagwortsozialismus«
Von Nico Popp, Augsburg
Der Linke-Bundesparteitag in Augsburg wurde am Sonnabend mit der Debatte über das Europawahlprogramm, die immer wieder für allerlei gesetzte Redebeiträge unterbrochen wurde, fortgesetzt. Nachdem am Freitag nur sehr dosiert über die Abspaltung der zehn Bundestagsabgeordneten um Sahra Wagenknecht gesprochen worden war, ritt Fraktionschef Dietmar Bartsch am Morgen Attacken gegen die ehemaligen Genossinnen und Genossen. Die Verantwortung für die beschlossene Liquidation der Bundestagsfraktion trügen »zuallererst die zehn Abgeordneten, die die Partei verlassen haben. Oder besser gesagt, die neun Abgeordneten, die in der zehnten ausschließlich eine politische Heilsbringerin sehen«, so Bartsch.
Die beiden Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan stellten am Vormittag eine Kampagne zur »Erneuerung« der Partei vor, die unter dem Motto »Eine Linke für alle« steht. »Die Konflikte in den letzten Jahren haben uns zunehmend gelähmt und waren nicht mehr aufzulösen«, sagte Wissler in ihrer Rede. Nun gehe es darum, die Partei, in die in den vergangenen Wochen 700 Mitglieder neu eingetreten seien, wieder stark zu machen. Drei junge Frauen, die in den vergangenen Tagen der Linkspartei beigetreten sind, wandten sich in kurzen Redebeiträgen an die Delegierten.
Funktionäre dominieren
Noch stärker als der Parteitag in Erfurt im Juni vergangenen Jahres trug der in Augsburg über weite Strecken Züge eines Selbstgesprächs von Funktionären, Mitgliedern der Vorstände und Mandatsträgern aller Ebenen, die einen großen Anteil der Delegierten stellten. Die Funktionäre prägten auch die Generaldebatte, die schon am Freitag mit Verweis auf den aus den Fugen geratenen Zeitplan von 120 auf 90 Minuten bei gleichzeitiger Beschränkung der Redezeit auf zweieinhalb Minuten eingedampft wurde. Ein Einspruch von Ellen Brombacher, Sprecherin der Kommunistischen Plattform, wurde von der Mehrheit der Delegierten zurückgewiesen.
Vereinzelt wurden in der General- und Antragsdebatte am Freitag und Sonnabend dennoch kritische Stimmen hörbar. Mehrmals wurde etwa festgestellt, dass im Entwurf des Europawahlprogramms, der über 80 Seiten lang ist, das Wort Sozialismus nicht ein einziges Mal vorkommt. Kritisiert wurde zum Ende hin auch, dass eine stundenlange Debatte über Detailfragen geführt wurde, ohne ein einziges Mal grundsätzlich über den Charakter der Europäischen Union zu diskutieren.
Tatsächlich hitzig wurde die Debatte allerdings lediglich am späten Freitag abend, als über den Krieg im Nahen Osten geredet wurde. Dazu hatte die ehemalige Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz zuvor bereits in der Generaldebatte Position bezogen. Ihre Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung wurde von der Mehrheit der Delegierten eher kühl aufgenommen. Als dann gegen Mitternacht gesondert über das Thema diskutiert wurde und der Delegierte Nick Papak Amoozegar von »ethnischen Säuberungen« und einem »Genozid« im Gazastreifen sprach, reagierten einige Delegierte mit Gebrüll.
Der ehemalige Berliner Kultursenator Klaus Lederer nannte umgekehrt die Massaker an israelischen Zivilisten einen »Akt eliminatorischer Enthemmung« und eine »genozidale Gewaltorgie«. Am 7. Oktober sei etwas geschehen, was »seit 1945 so nicht mehr stattgefunden hat«. Gegen die gedankliche Verbindung der Gewalt der islamistischen Hamas mit den Naziverbrechen erhob sich kein hörbarer Protest. Auch Parteichef Martin Schirdewan wurde von Lederer angegriffen: Er, Lederer, habe »sich geschämt«, dass der Parteivorsitzende und Europaabgeordnete »offen antisemitische Äußerungen« eines spanischen linken Europaabgeordneten in seiner Rede »unwidersprochen« gelassen habe. Die Europaabgeordnete Martina Michels attackierte anschließend Buchholz, der sie vorwarf, »die Sprache von Alice Weidel« benutzt zu haben.
Angenommen wurde mit großer Mehrheit schließlich ein vorab ausgehandelter »Kompromissantrag«. Die Debatte führt indirekt auch zu Bewegung in der Auseinandersetzung um die in Augsburg zu verteilenden Listenplätze für die Europawahl: Dem Vernehmen nach erhält die auf Platz 3 gesetzte Europaabgeordnete Özlem Demirel, die für ihre Wortmeldungen zum Gazakrieg zuletzt vom rechten Parteiflügel angezählt wurde, mit Didem Aydurmus, die Mitglied des Parteivorstandes ist, eine Gegenkandidatin.
Kritik von links abgeschmettert
In der Antragsdebatte zum Wahlprogramm für die Europawahl, die am Sonnabend die Tagesordnung dominierte, hatten die vom Parteivorstand aufgebotenen Gegenredner keine Schwierigkeiten, politisch nicht erwünschte Änderungsanträge – darunter solche, die auf ein Ende der Sanktionspolitik gegen Russland zielten – mit großen Mehrheiten abschmettern zu lassen. Anträge, die auf Korrekturen hinauswollten, ohne dabei den verdünnten Reformismus des Programms zu konterkarieren, wurden dagegen zum Teil übernommen bzw. mit Mehrheit gebilligt, darunter die Erhöhung der Mindestlohnforderung von 14 auf 15 Euro und die Koppelung des Mindestlohns an einen jährlichen Inflationsausgleich. Aber sogar dafür fand sich ein Gegenredner, der vor einer »Lohn-Preis-Spirale« warnte – eigentlich ein Standard in den Pressemitteilungen von Unternehmerverbänden.
Nähere Aufklärung über die politische Position der Delegiertenmehrheit brachte ein Änderungsantrag, dessen Einbringer die Forderung nach der Überführung aller Konzerne im Energiebereich in öffentliches Eigentum in das Programm einfügen wollten. Dagegen sprach für den Vorstand Bundesschatzmeister Harald Wolf. Er brachte unter anderem vor, dass man in diesem Falle ja auch die französischen Atomkraftwerke in öffentliches Eigentum übernehmen müsse. Er wolle »wegkommen von diesem Schlagwortsozialismus«. Dabei folgte ihm die Mehrheit der Delegierten: 172 stimmten für, 195 gegen den Änderungsantrag.
Schubert greift ein
Am Nachmittag wurde das Europawahlprogramm, in dem sich anders als in früheren Zeiten keine grundsätzliche Kritik an der EU mehr findet, ohne wesentliche Änderungen mit großer Mehrheit bei wenigen Gegenstimmen beschlossen. Der Delegierte Thomas Kachel (Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik) kritisierte anschließend die Inhalte und das Verfahren in einer persönlichen Erklärung. Er sprach von einer »friedenspolitischen Hypothek« und einem »autoritären Durchregieren« des Parteivorstandes. Die friedenspolitische Glaubwürdigkeit der Partei sei »extrem infrage gestellt«. In dem Wahlprogramm gebe es einmal mehr »verordnete Einseitigkeit in Sachen Ukraine und Agieren der NATO« und eine Zustimmung zu Sanktionen »sogar gegen unseren eigenen Beschluss in Erfurt«. Das werde tiefe Enttäuschung hervorrufen und könne nicht endlos so weitergehen. Die sichtbar wütende ehemalige Berliner Landesvorsitzende Katina Schubert, die in der Tagungsleitung saß und einmal mehr durch besonders rücksichtsloses Durchpeitschen der Linie des Parteivorstandes auffiel, schnitt Kachel schließlich mit Verweis auf die Redezeit und dem Hinweis das Wort ab, persönliche Erklärungen seien vorab »hier vorne abzugeben«.
Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow, der am Sonnabend in Augsburg eine Rede ohne erkennbaren Bezug zum Gegenstand des Parteitages hielt, sagte am Rande der Nachrichtenagentur dpa, er rechne nicht damit, dass die neue »Wagenknecht-Partei« im nächsten Jahr bei der Landtagswahl in Thüringen antrete. Es deute nichts darauf hin, »dass das gelingen kann«.
Der Parteitag ging am frühen Abend in eine Vertreterversammlung über, die über die Liste der Partei für die EU-Parlamentswahl im Juni 2024 entscheidet und bis Sonntag dauert. Mit einiger Spannung wird hier vor allem das Abschneiden von Carola Rackete erwartet, die am Freitag mit der Intervention, die Linkspartei - deren Namen man auch »ändern« könne - möge sich »noch mal konsequent von ihrer SED-Vergangenheit« distanzieren, Irritationen und hektische Manöver zur Schadensbegrenzung ausgelöst hatte.
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