Von Bullen und Menschen
Von Maximilian Schäffer
Sie könnten auch Skispringer oder Eiskunstläufer sein. Zarte Jungmänner, oft gerade einmal dem Teenagerdasein entwachsen, von eher schmächtiger Statur. Schnurrbärte sind in diesen Kreisen gerade wieder in Mode, sie verdecken Milchgesichter hinter einem Streifen Testosteron. Mit Sicherheit sind Skispringen und Eiskunstlaufen auch keine unheiklen Sportarten – wer hoch springt, kann tief fallen. Doch gibt es einen Unterschied, zwischen dem technisch kalkulierbaren Risiko eines Schanzensprungs in den Schnee und dem rasenden Furor eines Zuchtbullen mit der Kraft und dem Gewicht eines Kleinwagens. Acht Sekunden entscheiden in der Liga der »Professional Bull Riders« (PBR) über Sieg und Niederlage von Mensch und Tier, über Kieferbruch und Bolzenschuss. Am 11. November begann die Hauptsaison in der Königsklasse der gefährlichsten aller Varianten im amerikanischen Rodeosport.
Vieles ist so märchenhaft wie widersprüchlich in diesem Universum der Viehzüchter und Cowboys, von denen gut die Hälfte mittlerweile nicht mehr aus den Vereinigten Staaten stammt. Wo es viel Rind gibt, kann man viele Rücken reiten – ob in Brasilien, Australien oder Mexiko. Der aktuelle Weltmeister, Rafael José de Brito, stammt aus Potirendaba, einem Kaff in gut 500 Kilometer Entfernung zu São Paulo. Der 31jährige kommt erst 2022 in die USA – ein unbekanntes Talent mit dem unbedingten Willen zur Zähmung des Biests. De Brito gewinnt im folgenden Jahr nicht nur die »Unleash the Beast«-Tournee, sondern auch das große Tourfinale in Fort Worth, Texas, und die Ehrung zum »Rookie of the Year«. Ein Triple, das zuvor niemandem gelang. Vertragsstreitigkeiten jedoch gestalten sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten traditionell als Unmöglichkeit: Der amtierende Champion ist wegen ligainterner Regelverletzungen für die gesamte anstehende Saison suspendiert.
Anders als die großen Sportfranchises NFL (Football), MLB (Baseball) und NBA (Basketball) macht die »PBR« nicht allein in den Ballungsräumen und an den Küsten halt. Wer weiß, wo »Johnstown, Pennsylvania«, »Nampa, Idaho«, und »Everett, Washington«, gelegen sind, darf mit dem Finger auf die Landkarte zeigen. Selbstverständlich sieht sich der Sport, bei aller notwendigen Immigration, als Repräsentanz der USA, als direkte Blutlinie des Wilden Westens. Die sogenannten »Bullfighters« – das sind diejenigen Menschen, die den Reiter nach Abwurf vom Rücken des Bullen vor dem Zertampeltwerden zu schützen versuchen, den Bullen selbstlos in ihre Richtung locken und dabei oft selbst auf die Hörner genommen werden – tragen stolz ein Sponsoring der U. S. Border Patrol, des US-Grenzschutzes, auf der Brust. Hauptsponsor Pendleton Whisky wirbt mit der »True Western Tradition« seines Destillats mit Quellwasser aus Oregon, gebrannt in Kanada.
Tucson, Arizona, befindet sich lediglich eine Autostunde von der mexikanischen Grenze entfernt, trotz aller Einwanderungshysterie wählte man hier auf nationaler (sehr knapp) wie munizipaler Ebene (eindeutig) zuletzt die Demokratische Partei. Zum zweiten Mal in Folge startet die PBR hier, in der knapp 9.000 Seelen fassenden Arena, ihr Spektakel. Alle Ranglisten sind auf null gesetzt, die der Reiter und die der Bullen, welche als tierische Athleten (»Animal Athletes«) und Stellvertreter ihrer Züchter in direktem, statistischem Wettbewerb mit ihren menschlichen Gegenparts stehen. Ridin’ Solo, der Bulle des Jahres 2023, trat in diesem ersten Event nicht an – ob er langfristig in den wohlverdienten Ruhestand versetzt wurde, ist bislang unklar. Die Helden des Abends waren der 20jährige Caden Bunch aus Oklahoma (63 Kilogramm auf 183 Zentimetern) mit Vokuhila und Modelvertrag für Cowboyhüte, sowie Concho (ca. 900 Kilogramm auf 220 Zentimetern) mit tiefschwarzem Fell und hübschem weißen Fleck auf dem linken, hinteren Schenkel. Den tadellosen Ritt – mit einem Arm am Seil und dem anderen sichtbar in der Luft wedelnd – wertete die Jury mit 89.25 von 100 möglichen Punkten.
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vom 20.11.2023