Archaisch und modern
Von Saskia Weber
Zwanzig Jahre wurde er heiß ersehnt, nun ist endlich der dritte Teil des PC-Spiels »Baldur’s Gate« erschienen, und Rezensenten wie Spieler sind hellauf begeistert. Wochenlang spielten durchgängig fast eine Million Menschen gleichzeitig auf der Spieleplattform »Steam« »Baldur’s Gate 3«. Millionen weitere schauten die »Let’s Play«-Videos. Zusammen mit »The Witcher« und »The Elder Scrolls« gilt »Baldur’s Gate« als die einflussreichste Fantasy-PC-Spielreihe aller Zeiten. Mit seinen Kernprinzipien steht das Spiel exemplarisch für einen Großteil der PC-Spiele auf der Welt: Mit einem Charakter eine epische Spielgeschichte durchleben, dessen Fähigkeiten verbessern, Gegenstände sammeln, Rätsel lösen und Gegner töten. Die Herkunft dieser Prinzipien lässt sich tief bis in die US-amerikanische Gesellschaft der 1970er und die englischsprachige Fantasyliteratur der 1950er Jahre zurückverfolgen.
In der Spielgeschichte des ersten Teils von »Baldur’s Gate« (1998) konnte man als menschliches Kind des Gottes des Mordes eine mittelalterliche Phantasiewelt in den Weltkrieg stürzen oder das mordlüsterne Erbe des Vaters ablehnen und die Welt beschützen. Dabei traf man Gefährten, die einen auf der Reise begleiteten, ergründete ihre Lebensgeschichte, ging Romanzen mit ihnen ein, entwickelte ihre Fähigkeiten und rüstete sie für Kämpfe gegen zahlreiche Skelette, Oger, Schwarzmagier und Drachen mit magischen Gegenständen aus. Durch das Töten von Gegnern sowie das Erfüllen von Aufträgen gelangte man an das dafür nötige Geld und die für das »Aufleveln« der Charaktere nötigen »Erfahrungspunkte«. Jemanden oder etwas in solchen Spielen zu töten, bedeutet, insoweit folgt man der Logik der Spielemacher, eine Erfahrung, die einen wachsen und sich weiterentwickeln lässt.
Im zweiten Teil von »Baldur’s Gate« (2000)kämpfte man dann gegen einen verdorbenen elfischen Erzmagier, der durch den frühen Tod seiner Frau vom elfischen Lebensweg der Harmonie mit der Natur abgefallen war und die göttlichen Kräfte des Gotteskindes stehlen wollte. Dabei reiste man durch Großstädte, das Höhlenreich der Dunkelelfen, Teile der Hölle und andere Dimensionen und traf dort auf Dämonen, Fischmenschen, Dschinn und andere Phantasiewesen. Mit vielen von ihnen konnte man teils recht humoristisch anmutende Konversationen führen, die durchaus eine gewisse philosophische Tiefe aufwiesen und einen wichtigen Auftragshinweis gaben. Es lohnte sich somit meist, den Gegnern ihr Wissen zu entlocken, bevor man ihnen ihre Schätze nahm.
Vorbild »Dungeons and Dragons«
Die Welt von »Baldur’s Gate« wurde aber nicht für das PC-Spiel erfunden, sondern entstammt dem beliebten Pen-&-Paper-Rollenspiel »Dungeons and Dragons« (D & D), dessen Regelsystem Grundlage für das PC-Spiel ist. Entwickelt 1974 von Gary Gygax and Dave Arneson in den USA, steht D & D in der Tradition der Kriegsstrategiespiele, bei denen auf einer Planungskarte zwei Armeen um eine Region oder ein Objekt kämpfen. Gygax und Arneson ging es zu Beginn darum, dass jeder Spieler eine einzige eigene Figur im Kampf steuert, ihr neue Kampffähigkeiten »beibringt« und sich so über den Verlauf mehrerer Kämpfe mit ihr identifiziert. Aufgrund ihrer großen Fantasynähe entschieden die beiden, die oftmals in mittelalterlichen Settings stattfindenden Schlachten mit magischen Figuren wie Zauberer oder Dämonen zu erweitern. Im nächsten Schritt wurden die großen Schlachtpläne durch kleinere Karten von Burgen, Kellern und Höhlen ersetzt, wo sich Reichtümer und magische Gegenstände finden ließen. Um die eigenen Figuren zu erstellen, wurden Regeln erdacht, nach denen jeder Spieler die gleiche Chance haben sollte, eine kampfstarke Figur zu erstellen. Da teilweise auch Schlösser geknackt oder Fallen erspäht werden mussten, erhielten die Figuren weitere Fähigkeiten. Schließlich kamen noch Soft Skills wie das Überzeugen oder Täuschen anderer Figuren im Gespräch dazu, um das Gefühl zu maximieren, sich wirklich in der erdachten Welt zu befinden.
Das Eroberungsspiel entwickelte sich so mehr und mehr zu einer Art improvisiertem Theater, bei dem die Schauspieler um einen Tisch herum sitzen, auf dem die Charakterbögen mit den Fähigkeiten ihrer Spielfigur liegen, und der Regieführung des »Dungeon Masters« (DM) lauschen. Dieser führt durch die Spielhandlung, schildert alle Sinneserfahrungen, die die Spielergruppe macht, worauf die Spieler Rückfragen für Detailschilderungen stellen oder ihre eigenen Handlungen schildern können – ob eine komplexere Spielhandlung gelingt, entscheidet normalerweise ein Würfelwurf, der an die jeweilige für die Handlung relevante Fähigkeitsstufe des ausführenden Charakters angelegt wird. Reagierend auf die Spielerhandlungen und die Würfelergebnisse, improvisiert der DM nach einem vorüberlegten groben Skript die Geschichte weiter, was den Spielern neue Handlungsoptionen verschafft.
Dieses interaktive Spielen einer epischen Geschichte wurde zum zentralen Prinzip der PC-Spiele der 1980er Jahre und stellt bis heute den Kern eines Großteils aller PC-Spiele und inzwischen auch zahlreicher Brettspiele dar. Dieser Typus Spiel unterschied sich deutlich vom russisch-sowjetischen »Tetris« von 1984 mit seinem stärker auf Geschicklichkeit und dem Variieren von räumlichem Denken fußenden Spielmechanik, bei dem auch im Gegensatz zu den allermeisten PC- und Videospielen der westlichen Welt niemand im Spiel getötet wird.
Dennoch führen Mord und Totschlag im Spiel nicht automatisch zu wirklichem Krieg und Mord. Kinder, die Krieg spielen, oder Jugendliche, die Ballerspiele spielen, werden nicht allein deshalb zu Mördern. Ganz andere soziale und ideologische Motive sind für ein solches Handeln entscheidend. Viel eher können die auch in PC-Spielen vermittelten ideologischen Begründungen, mit denen das Töten gerechtfertigt wird, auch der Duldung oder der Legitimation solchen Handelns in der Realität dienen. Der Oberbösewicht hat sich »kriminell verhalten«, Dämonen »töten und quälen Menschen«, Zauberer »manipulieren sie« oder wie beim bekannten Spiel »Counter Strike«: Die »Terroristen haben eine Bombe plaziert« usw.
Klassische Spielhandlung
Die meisten Rollen- und PC-Spieler würden statt dessen von sich behaupten, dass sie Kriege ablehnen und gerade dadurch, dass sie sich mit Freunden an einem Spieltisch oder im Internet zusammenfinden, statt in Vietnam oder heute in der Ukraine zu kämpfen, etwas Besseres tun. Durch das Spielen mit Menschen aus anderen Ländern oder aus den »Feindstaaten«, ob vor Ort oder über das Internet, wie es auch bei Sportwettkämpfen geschieht, würden sie sogar eigentlich zur Völkerverständigung beitragen. Das ist oberflächlich betrachtet eine nachvollziehbare Sicht, aber gleichzeitig kommt es bemerkenswert selten vor, dass leidenschaftliche Rollen- oder PC-Spieler durch Kritik am politischen und wirtschaftlichen Handeln von Regierungen und Unternehmen auffallen oder auf Demos gegen Kriege anzutreffen sind. Dazu wehrt sich die Spielergemeinde in ihrer Mehrheit gegen politische Einflussnahme in Spielen sowie von Spielern. Auf der anderen Seite füttert sie aber auch bis heute primär US-amerikanische Großkonzerne mit ihrem Geld und ihren Spieldaten, aus denen sich für Marketing nutzbare Profile erstellen und verwerten lassen. Hier herrscht die Ideologie des von Staat und Politik unabhängigen Marktteilnehmers vor, der durch seine Kaufentscheidungen den Markt und sogar die Konzerne regulieren könne.
Üblicher ist deshalb, dass gesellschaftliche Konflikte in PC-Spielen indirekter ausgedrückt werden. Bei »Baldur’s Gate 3« ist beispielsweise bemerkenswert, dass man unabhängig vom eigenen Geschlecht mit jedem männlichen und weiblichen Begleitercharakter, die man auch jederzeit nackt ausziehen und an deren Geschlechtsteile man heranzoomen kann, eine Romanze eingehen und Sex haben kann – darüber hinaus sogar mit einem in einen Bären verwandelten Druiden, einem Tentakelmonster sowie einem geschlechtwandelnden Dämon, der, passt man in der Bettszene nicht auf, was man sagt, einen für alle Ewigkeiten zum Sexsklaven für buchstäblich alle Dämonen der Hölle machen will. Dieser Inhalt stammt primär aus bei bestimmten Gruppen der Queer- und Anime-Community beliebter pornographischer Kunst und wird, weil die Queer-Community in den vergangenen Jahren sehr politisch auftritt, in dieser Form zum politischen Statement und von den Spielern auch so verstanden. Auch das Thema Migration ist in Gestalt von vor Kriegen geflohenen menschenähnlichen Dämonen reichhaltig in die Haupthandlung eingeflochten. Erst kann man sie vor eigenbrötlerischen Druiden retten, die die störenden Flüchtlinge loswerden und sie lieber den überall marodierenden Goblins zum Fraß vorwerfen wollen, dann vor einem Kult, der sie in Tentakelmonster verwandeln will. Hinzu kommt, dass der Großteil der Bevölkerung der namensgebenden Großstadt »Baldur’s Gate« als äußerst feindlich gegenüber Kriegsflüchtlingen dargestellt wird.
Gleichzeitig ist die übergreifende Spielhandlung klassisch für das Fantasygenre: eine aggressive Rasse – in diesem Fall Hirnfressertentakelmonster – will die Herrschaft über die Welt an sich reißen. Die einzige mächtige Gegenfraktion wird nur mit Lügen von einer Königin regiert, ist zu schwach, den Eroberungsversuch allein abzuwehren und benötigt deshalb die Hilfe des Spielhelden. In der größten Stadt »Baldur’s Gate« regiert noch ein zum Erzherzog aufgestiegener ehemaliger Waffenhändler und -produzent, so dass gleichsam der Adel als herrschende Klasse des Feudalismus sowie das Bürgertum als herrschende Klasse des Kapitalismus in der Geschichte repräsentiert sind. Sie finden sich auch durchweg in den meisten längeren Fantasygeschichten, da die wie alle Kunstwerke davon leben, menschliche Lebenserfahrungen so nah an der Realität zu beschreiben, dass sich Vertrautheitsgefühle einstellen, aber zugleich in so symbolischer Form widerzuspiegeln, dass Menschen sich und ihre Lebensumgebung reflektieren können. Insoweit ist auch die in Fantasyhandlungen typischerweise vorkommende aggressive Weltherrschaftsrasse Symbolträger, deren Bedeutungsentschlüsselung aber einen tieferen Blick in die Geschichte der modernen Fantasyliteratur erfordert.
Tolkiens Erbe
Als Begründer des modernen Fantasygenres gilt der Brite J. R. R. Tolkien mit seinem Roman »Der Herr der Ringe«. 1892 in Südafrika als Sohn eines Bankchefs mit deutschen Handwerkervorfahren geboren, starb der Vater bereits drei Jahre nach seiner Geburt. Daraufhin lebte Tolkien bei seiner Mutter in Birmingham, die ihn römisch-katholisch erzog, aber ebenfalls starb, als er zwölf Jahre alt war. In der Obhut eines Pfarrers begann Tolkien dann mit dem Studium europäischer Sprachen, Sagen und Nationalepen. Vor und während seiner Zeit als Offizier im Ersten Weltkrieg kreierte er zu von ihm erfundenen Sprachen eigene Sagenwelten. Nach Kriegsende forschte er als Anglist zu mittelalterlichen Sagen. Nachdem er »Der Hobbit« veröffentlicht hatte, verteidigte Tolkien 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, in seinem viel beachteten Aufsatz »On Fairy-Stories« die sich mehr und mehr verbreitende Fantasyliteratur.
In dem Aufsatz argumentiert Tolkien, dass der damals viel kritisierte Eskapismus, der sich angeblich im Lesen von Fantasyliteratur manifestiere, immer dann eine gute Sache sei, wenn er mit der Mentalität eines Gefängnisinsassen einhergehe und deshalb Ausdruck der Revolte gegen die eigenen gefängnisartigen Lebensbedingungen sei. Dazu gehörte Tolkiens Ansicht nach besonders die Hässlichkeit der Erzeugnisse des »Roboterzeitalters« – von elektrischen Straßenlampen und Fabriken bis hin zu Maschinengewehren und Bomben. Feengeschichten seien für ihn viel inspirierender, unter anderem deshalb, da diese, ähnlich der Auferstehungsgeschichte des christlichen Evangeliums, immer ein Happyend hätten, das die Menschen aus ihrer realen Lebensmisere erhebe und mit Freude erfülle.
In diesen Äußerungen spiegelt sich eine kolonial-monarchistisch geprägte Professorenmentalität. Gegenüber seiner Gegenwart glaubte er, Vorzüge der Feudalordnung mit ihrer bäuerlichen Ausbeutung und der unregulierteren Industrialisierungsphase des Frühkapitalismus zu entdecken. Weder würdigt er die positiven Potentiale einer konzentrierten Industrie im Westen noch die Realität der durch die Industrie verbesserten Lebensverhältnisse in der UdSSR. Industrie scheint Tolkien notwendig zu Verhässlichung und Zerstörung von Mensch und Welt zu führen. Beachtet man den historischen Entstehungskontext des Aufsatzes, wird zudem deutlich, dass er den Untergang des British Empire bedauert.
Im Kontrast zu einem Großteil des damaligen, westlichen Establishment existieren von Tolkien aber keine bekannten Äußerungen, die ein negatives Verhältnis gegenüber der UdSSR bezeugen. Er lernte sogar Russisch, flocht russische Sprachelemente in die von ihm erfundene Sprache der Elben ein, und zwei bedeutende Helferfiguren aus »Der Hobbit« und »Der Herr der Ringe« (»Beorn« und »Radagast«) enthalten deutlich erkennbare Anleihen aus der slawisch-russischen Mythologie. Und er widersprach der Interpretation, wonach die von ihm geschaffene aggressive Welteroberungsrasse der aus dem Osten kommenden »Orks«, die zur Blaupause für solche Rassen in den meisten Fantasygeschichten bis heute wurden, Deutsche oder Sowjetmenschen repräsentierten. Dennoch sind Leser und Wissenschaftler, wie auch bei den zahlreichen in Tolkiens Werk enthaltenen religiösen Symbolen, nicht davon abgewichen, die damalige Zeit in den Romanen verarbeitet zu sehen. Sieht man es als eine besondere Fähigkeit von Künstlern an, ihre Lebenserfahrung in ihrem jeweiligen Genre stärker emotionsgeleitet und intuitiv und weniger gedanklich-analytisch zu vergegenständlichen, erscheinen beide Sichtweisen zutreffend: Tolkien hatte nicht geplant, die gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit in bestimmten Symbolfiguren und -themen zu verarbeiten, es aber dennoch getan, obwohl er bewusst mehr an allgemein menschliche Themen dachte, wie er in zahlreichen Interviews bekräftigte.
Insoweit findet sich die UdSSR als bedeutendster neuer gesellschaftlicher Entwicklungstreiber der damaligen Zeit sehr wohl repräsentiert in den Orks. Wie die russischen Bauern der Roten Armee in Richtung des alten Europa marschieren sie aus dem Osten heran, wenngleich festgehalten werden muss, dass die Russen sich gegen die Angriffe des alten Europas verteidigten, die Orks hingegen erobern wollen. Die Orks haben einen Führer wie Lenin und später Stalin, und die dunkelhäutigen Völker des Südens und des Nahen Ostens kämpfen an ihrer Seite. Deutlicher lässt sich die Angstfantasie eines britischen Monarchisten, wonach sich die kolonialisierten Völker im Bund mit den russischen Revolutionären gegen das Empire erheben und sich für ihre Unterdrückung rächen, kaum ausdrücken. Auch die dargestellte Brutalität und Mordlust der Orks entspricht den damals verbreiteten Erzählungen von asiatischen und afrikanischen Barbarenhorden, während die in der fabrikmäßigen Waffenproduktion eingesetzte orkische Muskelkraft stärker mit den Proletariermassen der europäischen Großstädte korrespondiert. Auch vor ihnen hätte ein Monarchist zahlreiche Gründe gehabt, sich zu fürchten. Am deutlichsten entspricht die Eroberungs- und Vernichtungslust der Orks aber wohl dem faschisierten deutschen Kleinbürgertum unter der Führung des imperialistischen Monopolkapitals und der im Offizierskorps weit verbreiteten alten Aristokratie.
Das Symbol der aggressiven Weltherrschaftsrasse in der Fantasyliteratur stammt also von einem britischen Monarchisten, der den Krieg und die hässlichen Seiten der Industrialisierung ablehnte. Es kommt am meisten der Realität des deutschen Faschismus und des imperialistischen Monopolkapitals nahe und enthält gleichzeitig Angstfantasien vor der Rache der Völker der Sowjetunion und der um ihre Freiheit kämpfenden Völker Asiens und Afrikas. Dass der Roman im Westen einen so großen Erfolg hatte und alle Fantasygeschichten bis heute maßgeblich prägt, spricht dafür, dass solche Symbolik bis heute eine große Bedeutung entfaltet.
Lob des Opportunismus
Vor diesem Hintergrund ist bei »Baldur’s Gate« eine Wendung bemerkenswert. Drehte sich die Spielgeschichte des ersten und zweiten Teils noch sehr viel stärker um Konflikte zwischen Königreichen und der Rolle einzelner Helden innerhalb dieser Konflikte, kehrt »Baldur’s Gate 3« mit jener Rasse der Hirnfressertentakelmonster, die die Welt beherrschen wollen und einem einer KI ähnlichen, allmächtigen Superhirn dienen, zur klassischen Fantasy-Epik à la Tolkien zurück. Welche realen gesellschaftlichen Entwicklungen auf der einen und welche Angstfantasien auf der anderen Seite die Spielentwickler zu dieser Entscheidung bewogen haben mögen, lässt sich kaum bestimmen. Bei Spielern wie Kritikern sind jedenfalls neben der grafischen Machart und den Liebesgeschichten auch die Rahmenhandlung und die darin agierenden Fraktionen äußerst beliebt. Vielfach ist zu hören, dies sei ein neuer Meilenstein des Fantasygenres.
Wie bei Tolkiens Werk genießen beim dritten Teil von »Baldur’s Gate« Millionen Menschen die Geschichte von Charakteren, die den Kampf Gut gegen Böse maßgeblich mitentscheiden, mit dem Unterschied, dass sie die Figuren im PC-Spiel selbst steuern und darin sogar auch dem Bösen zum Sieg verhelfen können. Tolkien zeichnete seine Hauptcharaktere, die »Hobbits«, noch als eine bestimmte Form genügsamer britischer Kleinbürger, die der Krieg dazu zwingt, in den Lauf der Geschichte einzugreifen – ob durch Geheimmissionen hinter den feindlichen Linien wie im Roman oder durch die Verteidigung des eigenen angegriffenen Vaterlandes, wie es Tolkien selbst in zwei Weltkriegen tat. In jedem Fall musste das Gute siegen. Für die despektierlich gemeinte Bezeichnung »Orks« für Russen oder als »prorussisch« markierte Ukrainer hätte er nur Verachtung übrig gehabt. Im Kontrast dazu scheint das moderne Fantasy-PC-Spiel vermitteln zu wollen: Es steht einem offen, ob man sich für Völkerbefreiung und Frieden in der Welt einsetzt oder jene die Menschen aussaugende und Gedanken manipulierende Weltherrschaft von Adel, Kapital und deren Dienern unterstützt, während man mit jedem und allem Sex hat. Ein Lob des Opportunismus, so scheint es.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (20. November 2023 um 08:48 Uhr)Sich im Kampf von Gut und Böse spielerisch ans Töten zu gewöhnen, es zum Schluss für ganz normal zu halten: Welchen Beitrag leistet das zur Entwicklung humanistischer Positionen? »Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein!« – ist das nicht eher das Motto einer untergehenden Ordnung als der Wertegehalt einer neuen, menschlicheren Welt, für die sich die jW einsetzt?
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