Rettet die Flusspferde
Von Patrick Hönig
Im Juni feierte das Musée de l’histoire de l’immigration (Museum für die Geschichte der Immigration) nach dreijähriger Renovierung seine Wiedereröffnung. Es lockt, in den Worten der Direktorin, Constance Rivière, eine wissenschaftlich fundierte Ausstellung, differenziert und ausgewogen, ergänzt um die Darstellung menschlicher Schicksale, denn »man spricht von Frauen und Männern, wenn man von Immigration spricht«. So viel Selbstbewusstsein muss belohnt werden, mögen sich die Macher des ARD-Kulturmagazins »TTT« gedacht haben, als sie wenige Wochen später die heftigen Jugendproteste in den Vorstädten Frankreichs zum Anlass nahmen, dem pädagogischen Auftrag des Museums nachzuspüren. Der Politologe und Kurator Emmanuel Blanchard zeichnet im Beitrag eine gerade Linie von den kolonialen Abenteuern Frankreichs zum »System polizeilicher Kontrolle und Gewalt« in den migrantisch geprägten Vierteln der urbanen Ballungsgebiete. Die Geschichte des 17jährigen Nahel Merzouk, dessen Tod durch eine Polizeikugel die Krawalle auslöste, wird im Museum aber nicht erzählt. Dabei gibt es eine demographische Besonderheit, die es nahegelegt hätte, rassistisch motivierte Polizeigewalt zum Thema der Ausstellung zu machen. So liegt Frankreichs Einwanderungsquote zwar nur im unteren Mittelfeld, aber es gibt kaum ein Land in Europa, das einen höheren Anteil von Kindern und Heranwachsenden mit Migrationshintergrund hat.
Auch eine andere Zahl taucht in der Ausstellung nicht auf. Im vergangenen Jahr hat Frankreich von 2,3 Millionen Anträgen auf Erteilung eines Einreisevisums stolze 500.000 abschlägig beschieden. Dazu zählen Transitvisa, Besuchsvisa und Visa für einen längerfristigen Aufenthalt, etwa im Rahmen des Familiennachzugs oder zu Studienzwecken. Robinah Nansubuga, freie Kuratorin aus Kampala, erzählt bei der gemeinsamen Begehung des Museums, was man erlebt, wenn einem das französische Migrationsregime nicht als Ausstellungsgegenstand, sondern Werkzeug der Politik gegenübertritt. Es kann passieren, dass man als Künstlerin zur Mitarbeit an einem Projekt eingeladen wird, aber absagen muss, weil die Botschaft kein Visum erteilt. Sollte die Ausstellung ein Angebot zum Dialog oder Ausdruck diskursiver Vielfalt sein, wäre dann nicht auch Platz zu schaffen für Positionen, wie sie von Menschen vertreten werden, die aus Afrika kommen oder aus Asien?
Für eine Begegnung der Nationen auf Augenhöhe hätte man sich jeden Ort vorstellen können – nur nicht diesen. Untergebracht ist das Museum im Palais de la Porte Dorée, das zentrale Gebäude des Komplexes, der zur Pariser Kolonialausstellung 1931 gebaut wurde. Die Wandreliefs an der Fassade des Haupteingangs beschwören eine Vergangenheit, in der die Grande Nation noch groß war, eine »Tapisserie aus Stein«, die »koloniale Reichtümer« zur Schau stellt, wie es die Website des Museums formuliert. Eingeborene jagen auf einem Einbaum einem Flusspferd hinterher, aber Rettung ist nah, auf Dreimastern segeln die Europäer heran. Im Inneren spinnt sich die Idee der zivilisatorischen Überlegenheit Europas weiter. Ein Fresko im prächtig dekorierten Festsaal zeigt Justitia, um deren Schwert sich die Schlange des Sündenfalls windet, in der Halle der Großen Seen, der wiederhergestellten Bibliothek, glänzen Möbel aus poliertem Palisanderholz, herbeigeschafft aus Madagaskar. Auf kunstvoll gefertigten Paneelen trampeln Elefanten das Steppengras nieder, turnen Paviane auf Palmen herum, so ist Afrika!
Ausgangspunkt der chronologisch geordneten Ausstellung ist das Jahr 1685, ein Meilenstein der europäischen Migrationsgeschichte. Ludwig XIV. widerrief das Edikt von Nantes, woraufhin Hunderttausende Protestanten ihre Rechte verloren und aus Frankreich fliehen mussten. Im selben Jahr erlassen, aber weniger bekannt, ist der Code Noir, ein Gesetz, das die Sklaverei in den französischen Kolonien der Karibik verankerte. Ein vom Zahn der Zeit angenagtes Exemplar ist in einem Glaskasten ausgestellt und sieht recht harmlos aus. Die Praxis der Zuckerrohrplantagen lässt sich so nicht einfangen. Von Station zu Station, elf sind es insgesamt, schreitet der Besucher durch die Jahrhunderte, bis er in der Gegenwart angelangt ist. Spätestens hier fragt man sich, was die Exponate auf insgesamt 2.000 Quadratkilometern miteinander verbindet, was man mitnimmt von den Textvignetten, die wie Leitplanken durch die Ausstellung eskortieren.
Im französischen Parlament wird in diesen Tagen diskutiert, ob nicht die Sans-Papiers, Menschen ohne Aufenthaltstitel, oft schon viele Jahre im Land, einen legalen Status erhalten können, jedenfalls dann, wenn sie Arbeit haben. Das Museum schweigt dazu. Auch die restriktive Asylpolitik Frankreichs findet keine Erwähnung. In einem schlichten weißen Raum kann man bedrohliche Musik und ein Video der rauen See auf sich wirken lassen. Flüchtlinge sind nicht zu sehen, aber man spürt, wie sie näherkommen. Eine Installation des Künstlers Barthélémy Toguo zeigt eine mit bunten Stoffballen überladene Piroge, behängt mit Wasserkesseln. In der Zusammenschau wird ein Bild erzeugt, das rechte Parteien seit jeher propagieren: Das Boot ist voll.
Ein Missverständnis? Chefkurator François Héran wirbt für Inklusion. Seiner Meinung nach integriert die Ausstellung das Thema Einwanderung in den nationalen Diskurs. »Die Geschichte der Immigration ist Bestandteil der Geschichte Frankreichs.« Nansubuga findet die selbstreferentielle Rahmung menschlicher Wanderungsbewegungen problematisch. Wir sind schon am Ausgang angekommen, da fragt sie sich, ob wir nicht vielleicht einen Raum übersehen haben. Sie hatte gehofft, etwas über die Auswirkungen des Kolonialismus auf die Menschen zu erfahren, die ihm unterworfen waren. Sie meint, dass es wichtig wäre, über Raubkunst zu sprechen und ihre Rückgabe, über strukturelle Ursachen und das Leid, das Polizeigewalt in den betroffenen Familien anrichtet, über epistemische Ungerechtigkeit, die daher rührt, dass man Migranten zu verstehen gibt, in einem Land, das nicht das eigene ist, hält man besser still. Wenn man glaubt, dass Kunst den Auftrag hat, bestehende Sichtweisen zu brechen, statt sie zu bestätigen, muss anders kuratiert werden, sagt sie, experimentell, partizipativ und offen für Widersprüche. In diesem Licht wirkt die Gitterschleuse zur Straße samt Museumswächter im schwarzen Livree wie eine Installation eigener Art, die begehbare Imitation einer Grenzanlage, Sortiermaschinen, wie Steffen Mau sie in seinem Buch über die Neuerfindung der Grenze nennt.
Auch in Deutschland macht man sich Gedanken über die kulturelle Repräsentation des Themas Einwanderung. Der Kölner Verein »Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland« verfügt über eine einzigartige Sammlung migrantischer Alltagszeugnisse und treibt die Gründung eines »Hauses der Einwanderungsgesellschaft« im Stadtteil Kalk voran, ein Projekt der Zivilgesellschaft, für dessen Realisierung Bund, Land und Stadt Mittel bereitstellen. Ob man sich am Pariser Museum für die Geschichte der Einwanderung ein Vorbild nehmen wird?
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