Die Lehren der Geschichte
Von Jürgen Heiser
Während in Israel die Proteste gegen die Netanjahu-Regierung zunehmen und die Gesellschaft sich der Frage »Krieg oder Frieden?« stellen muss, verhärtet sich in der BRD die Auseinandersetzung über die Notwendigkeit, das Morden in Gaza sofort zu beenden.
Eine Frau, die nicht weniger mutig ist als Greta Thunberg, ist die deutsch-US-amerikanische Jüdin Deborah Feldman. Die Schriftstellerin sagte am 6. November in einem Interview der Frankfurter Rundschau auf die Frage, ob »die Deutschen sich nicht genügend hinter Israel stellen«, es gebe verschiedene Interpretationen, was »zu Israel stehen« bedeute. Sie selbst stehe zu den Israelis, zu den Menschen, die in den Monaten vor dem Angriff der Hamas gegen die israelische Regierung protestiert haben. Sie stehe zu denen, »die Freunde und Familienmitglieder beim Angriff der Hamas verloren haben und sich Sorgen um die Geiseln machen«. Wenn die jetzige israelische Regierung jedoch sage: »Ihr müsst bedingungslos zu uns stehen«, stecke darin als eigentliche Forderung, die Stimmen der Juden und Israelis, die sie kritisierten, zu verdrängen.
Zur Frage der Folgen des Krieges im Gazastreifen sagte Feldman: »Wir stehen am Beginn eines Zivilisationsbruchs.« Die Folge werde »eine ungeheure Wut sein, die wir zu spüren bekommen werden«. Der Grund: »Wir konnten uns nicht darüber einigen, dass die Rechte aller Menschen für uns alle gleich wichtig sind.« Dabei sei die einzige Lehre aus dem Holocaust, »sich für die Rechte aller Menschen gleichermaßen einzusetzen« – und nicht zu schweigen zur Lage der Palästinenser, »wie viele Deutsche es leider tun«.
Sie fühle sich derzeit schlecht, weil sie so viele israelische und palästinensische Freunde habe, erklärte Feldman am Dienstag im ZDF-»Morgenmagazin«. Israel habe sich so sehr verändert, »dass wir jetzt ein Land unterstützen, das wir gar nicht mehr kennen und das auch viele Israelis und Juden nicht mehr unterstützen können«. Der Bundesregierung wirft sie »blinde Gefolgschaft gegenüber der rechtskonservativen Regierung Israels« vor. Seit der Regierung Konrad Adenauers habe die BRD die Unterstützung des israelischen Staats »als den Weg zur Wiedergutmachung festgelegt«. Der Zionismus habe sich aber »von einem säkularen zu einem biblisch-religiösen Zionismus bewegt«. Dessen Vision der Zukunft sei nicht mehr von säkularen, modernen liberalen Werten geprägt, »sondern von alten biblischen Werten, fast schon aus der Steinzeit«. Interviews mit israelischen Siedlern zeigten, dass man kein pluralistisches Land etablieren wolle, »das allen gleiche Rechte einräumt«. Das mache ihr Angst, so Feldman, weil sie »als Jüdin kapiere«, dass auch sie in Israel »nicht sicher sein würde«. Wie ihr der Spagat gelinge, Solidarität mit Juden und Palästinensern zu üben, fragte die Moderatorin. Das sei ganz einfach, so Feldman: »Sich für die universellen Menschenrechte und das Völkerrecht einsetzen und Kriegsverbrechen immer klar verurteilen.«
Deborah Feldman, 1986 in New York geboren, wuchs bei ihren Großeltern auf. Die aus Ungarn stammenden Holocaustüberlebenden erzogen sie streng nach den religiösen Regeln der chassidischen Satmarer-Gemeinde. Sie brach schließlich aus der orthodoxen Gemeinde aus. Ihre autobiographische Erzählung »Unorthodox« über diese Zeit wurde zum internationalen Bestseller. Heute lebt sie in Berlin.
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