Dry Martini
Von Maxi Wunder»Lateeane, Lateeane, Sonne, Mond und Steeane!« Nee, wat süß! Man versteht zwar nicht, warum die Kinder heute kein r mehr sprechen können, aber ansonsten … zu niedlich, wie konzentriert die am 11. November ihre selbstgebastelten Papierlaternen am Stiel vor sich hergetragen haben, dick angezogen mit Mützchen und Handschuhen und einem aufmerksamen Erziehungsberechtigten an der Seite. Ich sitze mit meiner Freundin auf einer Parkbank vor der Kirche, wie sich das gehört in unsrem Alter. Wir glotzen. »Das waren doch auch unsere ersten Demoerfahrungen, weißt du noch?« frage ich Roswitha. Sie: »Nö.« Weiß sie nicht mehr, oder gab es das nicht in der DDR …? Sankt Martin? »Wir brauchten keinen Gott der Kleiderkammern«, lästert sie. »Wir hatten genug anzuziehen und keine Bettler.«
Bravo. Wir hatten auch genug anzuziehen und noch dazu Bettler. Wir hatten eben mehr. Aber mal ehrlich, das kam einem doch sinnlos vor: Die Berliner Straßen waren in den 70er Jahren des alten Jahrhunderts ausreichend beleuchtet. Es bestand also keine Notwendigkeit, sich mit einer notdürftig zusammengeleimten Papplaterne, die jederzeit in Flammen aufgehen konnte, den Fußweg zu erhellen. Wenn ich damals gewusst hätte, dass die Prozession hauptsächlich zur Erbauung von alten Tanten dient, wäre ich noch weniger motiviert gewesen, da mitzulatschen.
Und auch noch zu Ehren eines römischen Soldaten, eines Besatzers im 4. Jahrhundert u. Z.! Der Legende zufolge gab er einem Bettler die Hälfte seines Mantels, weil der fror. Was soll man bitte mit einem halben Mantel im Winter?! Halbseitig erfrieren? Martin wurde dann Christ und anschließend Bischof von Tours, einer hübschen Stadt im heutigen Westfrankreich, und schlussendlich auch noch heiliggesprochen. Für eine halbe Wohltat eine ziemliche Karriere.
Die Laternenschlepptradition hat damit übrigens nicht viel zu tun, sie kommt vom Lande, wo vielerorts im November Feuer auf abgeernteten Feldern angezündet wurden. Bauernkinder sahen das spielerisch und bastelten sich Fackeln aus Stroh, mit denen sie anschließend durch die früher tatsächlich noch unbeleuchteten Dorfstraßen zogen, wahrscheinlich aus dem kindlichen Bedürfnis heraus, auf sich aufmerksam zu machen. Das gelingt ihnen bis heute, auch durch ihren piepsigen Gesang, dem »St.-Martins-Singen«, siehe oben. Die Protestanten halten dagegen mit »Martini-Singen«, das Martin Luther ehrt. Er wurde einen Tag nach seiner Geburt am 11. November getauft, am Namenstag des heiligen Martin, weshalb der Luther Martin heißt. Hier der Drink zum Fest. Stirred, not shaken:
Dry Martini
Eiswürfel in ein Rührglas füllen. Einen cl trockenen Wermut darauf gießen und mit dem Barlöffel umrühren. Den Wermut in ein separates Gefäß gießen, das benetzte Eis im Rührglas behalten. Nun sechs cl Gin übers Eis geben. Mit dem Barlöffel eine knappe halbe Minute rühren. Wermut und Gin durch den Strainer in ein gekühltes Martiniglas abseihen (ohne Eis). Eine gezwirbelte Zitronenzeste oder eine grüne Olive als Finish ins Glas geben.
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