»Entdeckung« und »Niemandsland«

In seinem positiven Aspekt ersetzt der Siedlerkolonialismus nicht einfach die indigene Gesellschaft schlechthin. Vielmehr wird durch den Prozess der Ersetzung die widerspenstige Prägung des Gegenanspruchs der Ureinwohner aufrechterhalten. Dieses Phänomen ist nicht auf den Bereich der Symbolik beschränkt. Im Fall des Zionismus beispielsweise hat Gershon Shafir überzeugend gezeigt, dass die Kerndoktrin der Eroberung der Arbeit, aus der die Kibbuzim und die Histadrut, die zentralen Institutionen des israelischen Staates, hervorgegangen sind, aus der lokalen Konfrontation mit den arabischen Palästinensern in einer Form hervorging, die sich grundlegend von der ursprünglichen Doktrin der Produktivierung unterscheidet, die zunächst in Europa geprägt worden war. (…) Nach ihrer Einführung in Palästina entwickelte sich die Doktrin jedoch zu einem Instrument des ethnischen Konflikts, da jüdische Industrien aktiv davon abgehalten wurden, nichtjüdische Arbeitskräfte zu beschäftigen, obwohl Araber zu niedrigeren Löhnen und in vielen Fällen effizienter arbeiteten. (…)
Die Eroberung der Arbeit auf kolonialem Boden ordnete die wirtschaftliche Effizienz den Erfordernissen des Aufbaus eines autarken protonationalen Jischuw (jüdische Gemeinschaft in Palästina) auf Kosten der umliegenden arabischen Bevölkerung unter. (…) Die Eroberung der Arbeit war somit sowohl für die institutionelle Vorstellung einer Gojim-(Nichtjuden-)freien Zone als auch für die fortgesetzte Stigmatisierung der in der Galut (Diaspora) verbliebenen unerlösten Juden von zentraler Bedeutung. Die positive Kraft, die die jüdische Nation und ihre einzelnen neujüdischen Subjekte beseelte, entsprang dem negativen Prozess der Ausgrenzung der indigenen Landbesitzer Palästinas.
Kurz gesagt, Vernichtung bezieht sich auf mehr als die summarische Liquidierung indigener Völker, obwohl sie auch das einschließt. In ihrem positiven Aspekt markiert die Logik der Vernichtung eine Rückkehr, bei der die verdrängten Ureinwohner weiterhin die siedlungskoloniale Gesellschaft strukturieren. Sie ist beides: sowohl komplexe soziale Formation als zeitliche Kontinuität. So bezeichne ich die Siedlerkolonisation eher als Struktur denn als Ereignis, und auf dieser Grundlage werde ich ihre Beziehung zum Genozid betrachten.
Um oben zu beginnen, mit den europäischen Herrschern, die Anspruch auf die Territorien der nichtchristlichen (oder, in späteren säkularisierten Versionen, unzivilisierten) Bewohner der übrigen Welt erhoben: Die Rechtfertigungen für diesen Anspruch entstammten einer Disputationsarena gelehrter Kontroversen, die durch die europäischen Eroberungen in Amerika ausgelöst worden waren. Sie werden fälschlich im Singular als Entdeckungsdoktrin bezeichnet. Obwohl die Entdeckungsdoktrin die Rechte der Ureinwohner grundlegend schmälerte, bezog sich die Debatte in erster Linie auf die Beziehungen zwischen europäischen Herrschern und nicht auf die Beziehungen zwischen Europäern und Ureinwohnern. Konkurrierende theoretische Formeln sollten die endlosen Kriege wegen der Ansprüche auf koloniale Gebiete eindämmen, zu denen europäische Herrscher neigten. Die Rechte, die den Ureinwohnern zugestanden wurden, spiegelten in der Regel das Gleichgewicht zwischen den europäischen Mächten an einem bestimmten Ort der kolonialen Besiedlung wider. In Australien zum Beispiel, wo die britische Herrschaft von anderen europäischen Mächten praktisch nicht angefochten wurde, wurden den Aborigines keine Rechte an ihrem Territorium zugestanden – eine informelle Variante des Themas »Niemandsland«, das in der Siedlerkultur als selbstverständlich gilt.
In Nordamerika hingegen basierten die Verträge zwischen indianischen und europäischen Nationen auf einer Souveränität, die die Fähigkeit der Indigenen widerspiegelte, lokale Bündnisse zwischen den rivalisierenden Spaniern, Briten, Franzosen, Niederländern, Schweden und Russen zu schließen. Doch selbst dort, wo die Souveränität der Ureinwohner anerkannt wurde, lag die letztendliche Herrschaft über das betreffende Gebiet bei dem europäischen Herrscher, in dessen Namen es »entdeckt« worden war. Bei aller Unterschiedlichkeit der Entdeckungstheoretiker ist ein konstantes Thema die klare Unterscheidung zwischen der Herrschaft, die allein dem europäischen Souverän zustand, und dem Nutzungsrecht der Ureinwohner, das auch als Besitz oder Nießbrauch ausgedrückt wurde und die Indigenen zur pragmatischen Nutzung (verstanden als Jagen und Sammeln und nicht als Landwirtschaft) eines von den Europäern entdeckten Gebiets berechtigte. Die Unterscheidung zwischen Herrschaft und Besitz verdeutlicht, dass das koloniale Projekt der Siedler auf die Vernichtung der einheimischen Gesellschaften setzte.
Patrick Wolfe: Settler colonialism and the elimination of the natives (Siedlerkolonialismus und die Vernichtung der Ureinwohner). In: Journal of Genocide Research, Heft 4/2006, Seiten 387–409.
Übersetzung aus dem Englischen: Arnold Schölzel
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