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Aus: Ausgabe vom 18.11.2023, Seite 15 / Geschichte
Geschichte der Ukraine

Integration per Putsch

Vor zehn Jahren begann der als »Euromaidan« beschönigte prowestliche Staatsstreich in der Ukraine
Von Reinhard Lauterbach
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Barrikade auf einer der Zugangsstraßen zum Maidan in Kiew (21.2.2014)

Im August 2013 bildeten sich an der ukrainisch-russischen Grenze lange Lkw-Staus. Lebensmittel verdarben in der Sommerhitze. Offizielle Begründung für die Verzögerungen von russischer Seite: ein Testlauf für die Zollkontrollen, die eingeführt werden sollten, sobald die Ukraine das damals im Raum stehende Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen haben würde. Die Botschaft Moskaus war klar: der Regierung des damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu demonstrieren, was auf die ukrainische Exportwirtschaft zukommen würde, wenn Kiew den Pakt mit Brüssel unterzeichnen sollte.

»Nahes Ausland«

Hintergrund der Spannungen war die sogenannte »Östliche Nachbarschaftspolitik« der EU. Sie war ein Instrument, das sich die EU 2008 ausgedacht hatte, um die Staaten jenseits ihrer Ostgrenze von Aserbaidschan bis zur Ukraine der russischen Einflusszone zu entziehen. Das Mittel: die Übernahme des sogenannten »acquis communautaire« – der gesamten Rechtsordnung der EU bis hin zu technischen Normen für Schrauben und Dübel – durch die sogenannten Partnerländer. Das Ziel: politisch die Schaffung genau dessen, was die EU Russland seit dem Ende der Sowjetunion als Anspruch absprach: ein »nahes Ausland«; einschließlich der Einbeziehung des Militärs der Partnerländer in sogenannte EU-Friedensmissionen und des Rechts zur Einmischung in deren innere Angelegenheiten. Am ukrainischen Beispiel bedeutete dies den Versuch der damaligen Bundesregierung, die »europäische Integration« der Ukraine davon abhängig zu machen, dass die ukrainische Justiz die innenpolitische Hauptgegnerin von Wiktor Janukowitsch, Julia Timoschenko, aus der Haft entließ. Timoschenko hatte es geschafft, sich der CDU-geleiteten »Europäischen Volkspartei« als Partnerin anzudienen. Für diese Bestrebungen erfand die staatsnahe Politologie den Begriff der »Integrationskonkurrenz«.

In der Zwischenzeit lockte Russland die Ukraine mit der Aussicht auf einen Beitritt zur russisch präsidierten Eurasischen Freihandelszone und dem zollfreien Zugang ihrer Industrie zu einem Großteil des postsowjetischen Absatzmarktes. Wiktor Janukowitsch versuchte in traditionell ukrainischer Manier, zwischen beiden Lagern zu lavieren und auszuhandeln, dass sein Land in beiden Wirtschaftszonen Mitglied sein dürfte. Die EU lehnte brüsk ab: Kiew müsse sich entscheiden. Und Janukowitsch entschied sich: beim EU-Gipfel im litauischen Vilnius im November 2013 forderte er zunächst eine Verschiebung der Frist, um noch ein Abkommen über eine Finanzspritze von Russland unter Dach und Fach bringen zu können. Und als ihm dies verweigert wurde, weigerte er sich, das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen.

Hierauf reagierte der ukrainische Onlinejournalist und Mitarbeiter des mit US-Geld gegründeten Nachrichtenportals Ukrainska Pravda, Mustafa Najem, mit einem Facebook-Posting: »Ich gehe heute auf den Maidan. Wer kommt mit?« Aber die Legende über den spontanen Aufstand der proeuropäischen ukrainischen Zivilgesellschaft ist im besten Fall die eine Seite der Medaille. Offenkundig waren die Proteste von langer Hand vorbereitet worden. Seit September 2013 war ein Onlinefernsehsender namens Hromadske telebatschennja (»Bürgerfernsehen«) sendebereit – finanziert wurde er von allerhand Stiftungen vor allem aus den USA und den Niederlanden. Pünktlich zum Beginn der Proteste ging Hromadske auf Sendung und übertrug die Versammlungen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz live und rund um die Uhr.

Auftritt der Rechten

Die Besetzung öffentlicher Räume war in der Ukraine seit den Protesten des nationalistischen Milieus gegen die Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrags durch die Ukraine in der Endphase der Sowjetunion eine eingeübte Technik. Veteranen dieser Proteste saßen im Beirat von Hromadske und setzten unter anderem durch, dass Ukrainisch einzige Sendesprache sein sollte – was eine Stoßrichtung gegen den russischsprachigen Bevölkerungsteil implizierte. Und schon wenige Tage nach dem Beginn der Proteste in der Kiewer Innenstadt schlossen sich auf dem Maidan diverse rechte Wehrsportgruppen zu einer Dachorganisation namens »Rechter Sektor« zusammen und veranstalteten vormilitärische Trainings.

Etwa eine Woche lang schaute die Polizei dem Treiben tatenlos zu. Dann versuchte sie eine Räumung, gab diese aber auf halbem Wege auf – mit dem Ergebnis, dass das operative Ziel nicht erreicht wurde, aber doch einige Dutzend Demonstranten verletzt worden waren. Rituelle Opfer, die der weiteren Radikalisierung der protestierenden Menge Vorschub leisteten. Es begann die Zeit des kollektiven Hüpfens gegen die Kälte unter dem Slogan »Wer nicht mithüpft, ist Moskowiter«. Parallel dazu wurden linke, gewerkschaftliche und feministische Gruppen, die ebenfalls ihr Hühnchen mit dem Janukowitsch-Regime rupfen wollten und sich der Bewegung anfangs angeschlossen hatten, von dem vom »Rechten Sektor« kontrollierten Ordnungsdienst des »Euromaidans« vom Unabhängigkeitsplatz geprügelt. Es entstand eine Atmosphäre ähnlich der in den von deutschen Faschisten zeitweise angestrebten »national befreiten Zonen« – geschlossen nach innen, aggressiv gegen alle Andersdenkenden.

Über den Jahreswechsel schien die Bewegung gleichwohl einzuschlafen: Die Zahl der auf dem Maidan Kampierenden ging deutlich zurück. Die Taktik der Regierung, die Proteste auszusitzen, schien aufzugehen. Bis Mitte Januar 2014 die Militanten einen Zacken zulegten, ihre Barrikaden ausdehnten und begannen, die das Regierungsviertel schützende Polizei mit Waffen und Brandsätzen anzugreifen. Dabei wurden teilweise auch Molotowcocktails mit Beimischung von Phosphor verwendet. Als die Regierung daraufhin versuchte, das Demonstrationsrecht an BRD-Standards anzupassen und die Bewaffnung und Vermummung auf Demonstrationen zu verbieten, wurde ihr das in großen Teilen der westlichen Öffentlichkeit als Knebelung der Demokratie ausgelegt. In der Provinz begannen parallel dazu nationalistische Kampftrupps, Polizeiwachen und Kasernen zu stürmen, um sich der dort gelagerten Waffen zu bemächtigen. Im Westen der Ukraine gelang dies ohne größeren Widerstand, weil die Regierung Janukowitsch dort erstens unbeliebt war und sie zweitens im Offizierskorps durch ihr Zaudern bei der Unterdrückung des Widerstands Zweifel an ihrer Entschlossenheit geweckt hatte.

Während sich die Atmosphäre auf dem Maidan von Tag zu Tag radikalisierte, setzte der Westen zur direkten Einmischung an. Es reichte nicht mehr, sich als Politiker auf dem Maidan mit den vermummten Faschisten fotografieren zu lassen. Mitte Februar traf eine dreiköpfige Verhandlungsdelegation der EU in Kiew ein und nötigte Präsident Janukowitsch, den Demonstranten einen vorzeitigen Rücktritt als Bedingung für ein Ende der Gewalt anzubieten. Aber die EU-Verhandlungsinitiative wurde – unter anderem unter Vermittlung der USA, die laut ihrer Vizeaußenministerin Victoria Nuland auf die EU »schissen« und die Führer des Maidan durch Anrufe aus der Botschaft im Halbstundentakt dirigierten – von den Faschisten mit ihrer Militanz auf der Straße sabotiert.

Flucht des Präsidenten

Am 19. Februar stürmten Kampftrupps der Rechten das Regierungsviertel. Dabei wurden durch Schüsse, deren Urheberschaft bis heute nicht geklärt worden ist, Dutzende der Angreifer, aber auch mehrere Polizisten getötet. Einiges deutet darauf hin, dass das Feuer aus dem Rücken der angreifenden Demonstranten, also von der Maidan-Seite, eröffnet wurde. Das Ergebnis war die Flucht Janukowitschs aus Kiew und die Machtübernahme der rechten Junta um Arkadij Jazenjuk, Witali Klitschko und Oleg Tjagnibok von der faschistischen Swoboda-Partei. Der Rest ist Geschichte. Den fünf Milliarden Dollar, die die USA laut Nuland im Vorfeld des Maidan für die »Demokratieförderung« in der Ukraine ausgegeben hatten, mussten sie inzwischen ein Vielfaches nachschießen. Aber das politische Ziel war erreicht: die Ukraine aus einem politisch ambivalenten Staatswesen in ein antirussisches Bollwerk zu verwandeln.

»Den Russen zuvorkommen«

Wie die USA in Kiew Personalpolitik betrieben. Auszug aus dem berühmten Telefonat zwischen US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland und dem US-Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, Februar 2014

Stimme wahrscheinlich von Pyatt: Ich denke, wir sind im Spiel. Natürlich ist die künftige Rolle von Klitschko hier das komplizierte Element. Vor allem die Ankündigung, er solle Vizeregierungschef werden. Sie haben meine Vermerke über den Krach gelesen, den das mit sich bringen würde. (…)

Stimme wahrscheinlich von Nuland: Ok. Ich denke nicht, dass Klitsch der Regierung beitreten sollte.

Pyatt: Yeah. Er soll draußen bleiben und seine Hausaufgaben machen. Mir geht es darum, voranzukommen. (…) Das Problem werden Tjagnibok (der Chef der faschistischen Svoboda-Partei, R. L.) und seine Leute werden. Und ich denke, genau darauf (dass die Faschisten Teil des Maidan-Bündisses sind und dieses damit diskreditieren könnten, R. L.) kalkuliert Janukowitsch gerade.

Nuland: Ich denke, Jats ist der Bursche mit der Wirtschafts- und Regierungserfahrung. Aber er muss ohne Klitsch und Tjagnibok agieren können. Er muss sie sonst viermal in der Woche bearbeiten. Dass Klitsch sich Jazenjuk unterordnen könnte, halte ich für ausgeschlossen.

Pyatt: Da haben Sie wohl recht. Sollen wir als nächstes ihn anrufen?

Nuland: Ich habe es so verstanden, dass (…) Jazenjuk den beiden anderen Oppositionsführern ein Drei-plus-eins- oder Drei-plus-zwei-Gespräch mit Ihrer Beteiligung anbieten würde. (…)

Pyatt: Nein. Die Dynamik ist eine andere. Klitschko hat sich als der große Macher aufgespielt, und deshalb glaube ich, ein Anruf von Ihnen bei ihm würde uns bei dem Persönlichkeitsmanagement der drei helfen. Und es gibt Ihnen die Chance, in der Sache schnell voranzukommen, bevor die drei sich zusammensetzen und er ihnen erzählt, warum ihm das alles nicht gefällt.

Nuland: Alles klar von meiner Seite. Aber warum rufen Sie ihn nicht an und kriegen heraus, ob er vorher oder nachher mit uns reden will?

Pyatt: Okay, mache ich. (…) Wir müssen schauen, dass wir zu Potte kommen, bevor die Russen hinter den Kulissen alles torpedieren. (…) Lassen Sie mich Klitschko bearbeiten (…) Wir müssen jemanden mit internationalem Ansehen herkriegen, der die ganze Sache unter Dach und Fach bringt. Wenn wir schnell sind, können wir mit der Butterseite nach oben landen.

Quelle: https://www.bbc.com/news/world-europe-26079957, 7.2.2014

Übersetzung: Reinhard Lauterbach

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (17. November 2023 um 21:44 Uhr)
    Die derzeitige außenpolitische Führung der USA ist wohl die am wenigsten fähige, die das Land je hatte. Eine Schlüsselakteurin in dieser Politik ist Victoria Nuland. Sie hat eine diplomatische Karriere in den USA gemacht. Im Januar 2017 verließ jedoch Nuland das Außenministerium, nachdem die neu gewählte Trump-Administration zahlreiche hochrangige Diplomaten zum Rücktritt gedrängt hatte. Wäre Trump im Amt verblieben, wäre dies das Ende ihrer Karriere gewesen. Doch es kam anders. Nach der Bildung der Biden-Regierung im Januar 2021 wurde Nuland im April 2021 von Präsident Joe Biden als Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium nominiert und trat ihr Amt an. Ihre Leistungen haben sowohl starke Anerkennung und Lob als auch scharfe Kritik hervorgerufen. Der Ökonom Jeffrey Sachs, Berater von vier UN-Generalsekretären und des ukrainischen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk, bezeichnet Nuland als führende Verfechterin eines »anachronistischen« Denkens, das im Kalten Krieg verwurzelt ist und als personifizierte Fortführung einer fehlgeleiteten Kontinuität in der US-Außenpolitik. Der investigative Journalist Seymour Hersh behauptet, dass Nuland zusammen mit Sullivan und Blinken ein »Triumvirat« bildet, das die Außenpolitik der Biden-Regierung dominiert. Hersh betrachtet sie als die am wenigsten fähige außenpolitische Führung in der Geschichte der USA zu seinen Lebzeiten. Die Begründung liegt darin, dass die Politik von Kissinger vorschrieb, dass die USA immer bessere Beziehungen zu Russland und China pflegen müssen als zwischen den beiden Ländern. Diese Grundlage hat sich nach dem Ukraine-Krieg unwiderruflich geändert. Was hat Nuland in der Ukraine erreicht? Nahezu nichts. Das Land steht vor dem Bankrott, und selbst wenn eine unabhängige Rest-Ukraine bleibt, wird sie politisch und wirtschaftlich bedeutungslos sein.

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