Meister der Form
Von Peter Michel
»Die Meisterung der Form, wenn sie keine leere Virtuosität, sondern eine wahre Meisterschaft sein soll, kommt aus einer Disziplin, die den ganzen Menschen ergreift.«, Johannes R. Becher
Am 15. August 2023 verstarb Gert Wunderlich. Er war international geachtet und anerkannt. Gemeinsam mit seiner Frau Sonja sorgte er bis in die Gegenwart dafür, dass Maßstäbe einer anspruchsvollen Gebrauchsgrafik nicht aus dem Gedächtnis verschwinden. Seinen 90. Geburtstag erlebte er nicht mehr. Am 8. September 2023 wurde er auf dem Leipziger Südfriedhof beigesetzt.
»Überklebt – Plakate aus der DDR« war der Titel einer Ausstellung, die 2008 in der Galerie der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) stattfand, kuratiert von der Kunsthistorikerin Sylke Wunderlich. Auch ihr Vater, Gert Wunderlich, war zur Eröffnung am 22. Oktober erschienen. So sahen wir uns nach vielen Jahren wieder. Er gehörte zu den Lesern und Unterstützern unserer Zeitschrift Icarus.¹ Wir erinnerten uns an die gemeinsame Arbeit im Künstlerverband und an die jährlichen Ausstellungen der besten Plakate. Wir waren uns darin einig, dass die Plakatkunst in der DDR eigenständig war, dass sich – wie Friedrich Dieckmann in einem Katalogtext schrieb – an der Spitze der Zunft ein künstlerischer Eigensinn behauptet hatte, »der wusste, was in der Welt an relevanter Plakatgrafik produziert wurde, in Polen und in Japan, in Frankreich, Westdeutschland oder den USA, und ihr eine Kunst humaner Differenzierung, des intrikaten Effekts, der malerischen Figur, auch der vehementen Collage entgegensetzte, fast verträumt manchmal, dann wieder scharfzüngig oder auf ernsthafteste Weise verspielt«.²
Der Leipziger Verlag Faber & Faber hatte im selben Jahr in seiner Reihe »Die Graphischen Bücher« einen Band mit einem Text des Wuppertaler Ästhetikprofessors Bazon Brock herausgegeben. Dieses Buch trug den Titel »Kotflügel. Sprechmaschine nackt im Damenjournal«. Brock war als Provokateur bekannt, er hielt auf dem Kopf stehend Vorträge, warf seine Schuhe in den Ätna und gründete ein Institut für Gerüchteverbreitung. Er war an Happenings mit Joseph Beuys beteiligt, bemühte sich, der öffentlich verbreiteten Ideologie entgegenzusteuern und hatte auf die Künstlergeneration der »Neuen Wilden« entscheidenden Einfluss. Gert Wunderlich gestaltete dieses Buch, legte jedem Exemplar acht schon 2006 geschaffene Originaltypographiken auf Transparentfolie bei und schrieb in eine der Ausgaben: »Wenn die Sonne tief steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten.« Hier übertraf wohl eine Ironie die andere. Als die Weimarer Ausstellung »Aufstieg und Fall der Moderne«, in der es 1999 um die Diskriminierung in der DDR entstandener Kunst ging, von allen Seiten heftig kritisiert wurde, hatte sich auch Bazon Brock eingemischt. Im Deutschlandradio Berlin äußerte er, angesichts dessen, was Ausstellungen und Kunstmarkt den Künstlern im Westen zugemutet hätten, sei die Kritik an der Weimarer Ausstellung lachhaft.³ Er war es also gewöhnt, dass man Kunst wie Müll behandelt.
Die transparenten Originaltypographiken von Gert Wunderlich verstehe ich demgegenüber als Zeugnisse des Bestehens auf einer künstlerischen Leistung, die unwiederholbar ist und die man achten muss. Wunderlich spielte mit Schriften, farbigen und schwarzen, winzigen und großen Typen, mit geometrischen Formen, die die Funktion von Schriftzeichen übernehmen, mit spannungsvoll komponierten Flächen, mit herausfordernden Verrätselungen – und wenn man die Grafiken gegen das Licht hält, entstehen Assoziationen zu den Sprachblättern von Carlfriedrich Claus. Das sind Werke eines Künstlers, der sein typographisches Handwerk perfekt beherrschte und der solche Spiele – die natürlich ihren Eigenwert haben – braucht, um klare Botschaften ebenso meisterhaft unter die Leute zu bringen.
»affiche directe«
Sein Plakat »Hemmungsloser Maximalprofit tötet Moral« aus der Serie »affiche directe«, das 2008 entstand, ist ein Beispiel dafür. Der Begriff »Maximalprofit« steht schwer, schwarz und blockhaft im Zentrum. Die roten Schriftzüge bilden die weitergehende Aussage: »Profitgier tötet«, wobei die kalligrafisch scheinbar schnell hingeworfene und die massige Blockschriftzeile in ihrer Gegensätzlichkeit jeweils nach oben oder unten weisen und nach links einen Keil bilden. Es werden Bezüge zur frühen nachrevolutionären russischen Kunst deutlich. Die Serie »affiche directe« entstand seit den 1970er Jahren zu gesellschaftspolitischen Themen, die national und international von entscheidender Bedeutung waren – und noch sind. Hier stellten Gert und Sonja Wunderlich ihre eindeutige Haltung in einer breiten Öffentlichkeit aus. Sie stießen die Betrachter mit ihren Plakaten und Postkarten sehr direkt auf aktuell brennende Probleme, provozierten ein Weiterdenken und forderten zum Handeln auf. Sie nutzten dafür typographische, schriftgrafische und fotografische Mittel. Auf einem Plakat aus dem Jahr 1999 sind auf schwarzem Grund das NATO-Symbol und das Hakenkreuz miteinander verzahnt; darüber in Gelb das Wort »Aggressoren« und oben die Jahreszahlen 1939 und 1999 mit schlagwortartigen Schriftzügen: »Überfall deutscher Truppen auf Polen: 1.9.1939« und »Bombenkrieg der NATO gegen Serbien. Ohne UN-Mandat: 24.3.1999«.

Einige Postkarten dieser Serie schickte Gert Wunderlich an uns. Meist sind sie mit persönlichen Widmungen versehen. Wir bewahren sie als Zeugnisse unserer Freundschaft. »Kriege sind vom Aussterben nicht bedroht … Megaprofite, imperiale Gewalt und religiöser Fanatismus sind gegenwärtig«, steht auf einer dieser Postkarten aus dem Jahr 2014. Auf einer anderen wird davor gewarnt, Russland permanent als »Reich des Bösen« zu diffamieren. Auf der Rückseite einer Postkarte zur anhaltenden inneren Spaltung der Deutschen zitiert Gert Wunderlich eine Äußerung Stefan Zweigs aus dem Jahr 1938 über den Hass zwischen Systemen, Parteien, Klassen, »Rassen« und Ideologien. Anlässlich der V. Internationalen Plakatausstellung in Leipzig 2022 entstand sein Plakat mit dem Text des Gedichtes »Das große Karthago …« von Bertolt Brecht. Im selben Jahr beteiligten sich Sonja und Gert Wunderlich an einem japanischen Plakatwettbewerb gegen den Krieg und nutzten dafür die Nationalfarben der Ukraine.
Das schöpferische Spiel mit der Schrift ist typisch für Gert Wunderlichs Plakatkunst. Als er das Plakat für die Internationale Buchkunstausstellung in Leipzig schuf, ordnete er die vierfach wiederholten Schriftzeichen der Abkürzung »iba« spiegelbildlich um eine senkrechte Mittelachse. Für die Thomas-Mann-Ehrung 1975 sind auf einer dunkelblauen Fläche drei Schriftzeilen an den oberen und unteren Rand sowie in die Mitte gestellt, so dass unter dem Wort »Mann« die Fliege genügt – die der Schriftsteller gern anstelle einer Krawatte trug –, um den Betrachter darauf zu stoßen, worum es geht. Beinahe monumental ist auf einem Plakat für eine Aufführung des »Rings des Nibelungen« die blockhafte Masse der schweren Typen auf einen Bühnenboden gestellt – als ein Zeichen für die Gewalt der Wagnerschen Musik. Ebenso symbolisiert ein kräftiger Punkt mit auf- und abschwellenden Linien die Kunst der Grafik auf einem Plakat für die Ausstellung »100 ausgewählte Grafiken 1977«. Solche Klarheit des Aufbaus bestimmte auch ein Schriftplakat zur Abrüstung 1983 und ein Plakat mit kyrillischer Schrift für eine Ausstellung grafischer Arbeiten der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst 1989 in Moskau. Fast alle diese Arbeiten sind Kulturplakate. Der Blickfang ist auf weite Sicht konzipiert, die notwendigen weiterführenden Informationen sind klein gedruckt. Wer neugierig geworden ist, tritt an das Plakat heran.
Konsequenter Lebensweg
Gert Wunderlich wurde am 18. November 1933 in Leipzig geboren. Er erlernte in den Deutschen Grafischen Werkstätten den Beruf des Schriftsetzers und studierte anschließend an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) bei Irmgard Horlbeck-Kappler, Wolfgang Mattheuer und Elisabeth Altmann im Grundstudium. Sein Fachstudium absolvierte er bei den Designern, Kalligraphen und Typographen Albert Kapr, Oskar Zech und Otto Erler. Nach dem Diplom arbeitete er bis 1960 als Buchgestalter in der Druckerei »Fortschritt« Erfurt. 1959 wurde Wunderlich in den Verband Bildender Künstler aufgenommen. Seine erste große internationale Aufgabe war die Tätigkeit als Sekretär der Internationalen Buchkunstausstellung in Leipzig. Das dafür geschaffene Plakat machte ihn über die Grenzen der DDR hinaus bekannt. 1966 wurde er Aspirant bei Albert Kapr, 1967 Assistent, 1968 Oberassistent und 1971 Dozent. Der Bund Deutscher Buchkünstler, der seinen Sitz in Offenbach am Main hat, nahm ihn im selben Jahr als Mitglied auf. 1979 übertrug man ihm eine Professur mit künstlerischer Lehrtätigkeit sowie die Leitung der Abteilung Buchgestaltung/Gebrauchsgrafik an der HGB. 1982 wurde Wunderlich zum Vorsitzenden des DDR-Zweigs des International Council of Graphic Design Associations (Weltdachverband für Grafikdesign und visuelle Kommunikation, Icograda) gewählt. Eine erste Gastdozentur im Ausland führte ihn 1988 an die Akademie für Kunst und Design nach Beijing. Von 1991 bis 1999 bildete er Meisterschüler aus. 1992 erfolgte die Berufung als Professor neuen Rechts an der Leipziger Hochschule, bis 1999 leitete er dort die Fachklasse für Typographie, Buch- und Plakatgestaltung. Nach seiner Emeritierung ging Wunderlich 1999 noch einmal als Gastdozent für praktisch-künstlerischen Unterricht nach Beijing und hielt Vorträge an der Universität Xiamen und an der Kunsthochschule Suzhou. Er arbeitete in zahlreichen nationalen und internationalen Jurys mit und war von 1992 bis 2011 Mitglied des Kuratoriums zur Verleihung des Gutenberg-Preises der Städte Leipzig und Mainz.
Gert Wunderlich gehörte zu den Typographen, die bis heute Maßstäbe setzen. Die klassische Ausbildung, die er nach dem Zweiten Weltkrieg in Leipzig erhielt, ist heute nicht mehr allgemein üblich. Sie schloss Offenheit gegenüber anderen Kunstbereichen ein. Schon in den 1950er Jahren – als das noch nicht selbstverständlich war – beschäftigte er sich mit dem Erbe des Expressionismus und des Bauhauses. Bewährtes und Neues zusammenzuführen, war Wunderlich wichtig. Stets war er der Auffassung, dass die typographische Form dem Inhalt entsprechen müsse; er wählte Formen, die es ermöglichen, einen Text dauerhaft erlebbar zu machen und zugleich die Lesbarkeit zu sichern. Das ist ohne gestalterische Disziplin nicht möglich; visuelles Marktgeschrei verbietet sich.
Wunderlich entwickelte neue Schriften, darunter die »Antiqua 58«. Die von ihm geschaffene Linear-Antiqua »Maxima« gehörte wegen ihrer guten Lesbarkeit, ihrer Formschönheit und Ausdruckskraft in den 1980er Jahren zu den meistgenutzten Groteskschriften in der DDR und wurde für alle Buchgenres, aber auch zum Beispiel im Berliner Nahverkehr genutzt.
Eigene Buchkunsttradition
Die von Wunderlich gestalteten Bücher sind kaum zählbar. Wolfgang Hütts Bücher über Lea Grundig und Willi Sitte gehören dazu, der Sammelband »Weggefährten. 25 Künstler der DDR«, die vom Künstlerverband herausgegebene Publikation »Gebrauchsgrafik in der DDR«, Günter Meißners Buch über Werner Tübke, das Gert Wunderlich und seine Frau Sonja gestalteten, und andere. Gemeinsam mit den beiden älteren Buchgestaltern Albert Kapr und Walter Schiller gilt Gert Wunderlich als Vertreter einer Buchkunsttradition, die sich seit den 1950er Jahren in der DDR herausbildete – oft unter materiellen Schwierigkeiten und begleitet von kulturpolitischen Auseinandersetzungen. Die Zusammenarbeit mit Grafikern und Illustratoren war ihm stets wichtig, um ein ganzheitliches buchkünstlerisches Werk zu schaffen. Zwischen 1991 und 2011 schuf er zum Beispiel für den Leipziger Bibliophilen-Abend vorbildhaft gestaltete Bücher und Buchkassetten mit Holzstichen von Karl-Georg Hirsch, Lithographien und Steindrucken von Jiří Šalamoun und Rolf Münzner, Holzschnitten, Kupferstichen und Radierungen von Baldwin Zettl, Hans Ticha, Joachim John, Rolf Kuhrt und anderen. Seine Arbeiten zu Texten von Edgar Allan Poe, Bertolt Brecht, Volker Braun, Hermann Kant, Rolf Hochhuth, Lothar Lang und anderen sind Meisterwerke, die ihresgleichen suchen. Viele Verlage schätzten Gert Wunderlich als einfühlsamen, maßstabsetzenden Gestalter. Wenn man solche Bücher in die Hand nimmt und sieht, wie alle Teile zusammenspielen, wie komplizierte Texte und unterschiedliche grafische Elemente ein Ganzes geworden sind, wird einem die ästhetische Verarmung der Gegenwart bewusst. Aus dem Kulturgut Buch ist in vielen Fällen ein Wegwerfartikel geworden, eine Ware wie jede andere.

Bis kurz vor seinem Tod bestritt Wunderlich unzählige Einzel- und Gruppenausstellungen und wurde vielfach ausgezeichnet. Seine Arbeiten sind in Sammlungen auf der ganzen Welt zu finden. Der 1933 Geborene konnte auf das Erreichte stolz sein. Es machte ihn sympathisch, dass er bei alledem bescheiden auftrat und nicht vergaß, woher er kam. Wir trafen uns im Sommer 2013 zum letzten Mal. Der Anlass war traurig und unser Treffen war zufällig. In der Menschenmenge vor der Feierhalle auf dem Gertraudenfriedhof in Halle sahen wir uns, als wir von Willi Sitte Abschied nahmen.
Der Grafikdesigner Kurt Weidemann schrieb: »Wer Typographie macht, dem muss es völlig wurscht sein, ob er im Trend liegt, up to date ist oder nicht. Wer dauernd neuen Idolen dient oder sie nur abkupfert, verliert seine Identität. Wer Angst davor hat, als altmodisch bezeichnet zu werden, darf seinen Kontrahenten Ahnungslosigkeit und Unkenntnis der Geschichte vorwerfen.«⁴ Gert Wunderlich besaß dieses Selbstbewusstsein. Und die Anmerkung Kurt Weidemanns betrifft wohl nicht nur die Typographie.
Anmerkungen
1 Icarus, Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur, herausgegeben von der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde
2 Friedrich Dieckmann: Eigensinn und Eigenart. Plakate aus der Deutschen Demokratischen Republik. In: Überklebt – Plakate aus der DDR, Schwerin 2007, S. 9
3 Gespräch mit Bazon Brock, Deutschlandradio Berlin, Mai 1999. Siehe auch: Peter Michel: Ankunft in der Freiheit. Essays gegen den Werteverlust der Zeit, Berlin 2011, S. 42
4 Kurt Weidemann: Typografen sind Dienstleute. In: Sonja und Gert Wunderlich: Graphik-Design, herausgegeben von der Stiftung Plakat Ost, Leipzig 2013, S. 94
Peter Michel ist Kunstwissenschaftler. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12./13. August 2023 über den Maler und Grafiker Ronald Paris
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