»Vor uns liegt jetzt eine Mammutaufgabe«
Interview: Karim Natour
Sie waren seit 2009 für die Linkspartei im Bundestag und sind im Oktober mit neun weiteren Abgeordneten ausgetreten. Warum haben Sie die Partei verlassen?
Das war ein längerer Entfremdungsprozess, der sich über mehrere Jahre hingezogen hat, mit verschiedenen Bruchpunkten. Ein Höhepunkt war für mich die Nichtunterstützung der Partei für die Friedensdemo am 25. Februar in Berlin.
Wie fielen die Reaktionen in Ihrem Aachener Wahlkreis aus?
Aus dem Aachener Wahlkreis haben sich rund 20 Mitglieder angeschlossen und sind kollektiv ausgetreten. Bei Rückmeldungen per Mail von Wählern haben etwa drei Viertel meine Entscheidung begrüßt und Interesse angemeldet, auch Menschen, von denen ich das zunächst nicht erwartet hätte. Vereinzelt gab es auch kritische Mails.
Welchen Charakter sollte die Partei, die der Verein »Bündnis Sahra Wagenknecht« vorbereitet, Ihrer Ansicht nach haben? Wird das eine »bessere SPD« oder eine »Linke 2.0«?
Ich denke, dass man das nicht mehr in diesen Kategorien fassen kann, es soll aber keine »Linke 2.0« werden. Wir haben einen breiteren Ansatz, die Repräsentationskrise anzugehen. Für mich sind vier Punkte zentral. Erstens wirtschaftliche Vernunft, das beinhaltet auch Kritik an den Sanktionen gegen Russland, die uns mehr schaden. Genauso eine Wirtschaftspolitik, die Investitionen in öffentliche Infrastruktur beinhaltet. Zweitens soziale Gerechtigkeit. Drittens Friedenspolitik, also Initiativen für Diplomatie und Verhandlungen. Schließlich sollte sich die neue Partei für die Meinungsfreiheit stark machen. Wir haben eine zunehmende Verengung des Meinungsdiskurses beobachtet, an der sich leider auch die Linkspartei beteiligt. Aktuell setzt sich diese Zunahme autoritärer Tendenzen beim Gazakrieg fort.
Das Ganze ist ein gewagtes Projekt, weil es eine Parteigründung dieser Art in Deutschland noch nie gegeben hat. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Repräsentationskrise und der Rolle, die Einzelpersonen in so einer Situation spielen können, kann es aber funktionieren.
Es gab bereits in der Vergangenheit das Projekt »Aufstehen«, das zu keiner neuen Partei geführt hat. Rechnen Sie sich für den zweiten Versuch bessere Chancen aus?
Ich war bei »Aufstehen« nicht beteiligt und es sollte keine neue Partei vorbereiten, erzeugte aber ebenfalls eine enorme Resonanz. Die Akteure wurden von dem Zuspruch überwältigt, was den Gesamtprozess chaotisierte. Dieses Mal ist es in meinen Augen sorgfältiger vorbereitet.
Wählerbefragungen zeigen, dass eine »Wagenknecht-Partei« Chancen hätte, bei einer Bundestagswahl deutlich zweistellig zu werden. Wie belastbar sind solche Umfragen?
Diese Stimmung ist real. Das entspricht den Resonanzen, die ich per E-Mail und auf der Straße bekomme. Die Befragungen sind nur ein Stimmungsbild. Vor uns liegt jetzt eine Mammutaufgabe: eine Parteistruktur aufzubauen, die bis zur Europawahl wahlkampffähig ist.
Sahra Wagenknecht hat zuletzt erklärt, dass Deutschland die Einwanderung von »mehreren hunderttausend Menschen pro Jahr«, die »eine völlig andere Kultur« haben, nicht verkraften könne. Ist das nicht ein Übergang zu rechten »Kulturkampf«-Positionen?
Die Einwanderung beschäftigt viele Menschen, daher muss man es aufgreifen. Ich mache mir nicht jede einzelne Aussage zu eigen. Aber in meinen Augen kann man nicht so tun, als ob es bei dem Thema keine Probleme gäbe. Es existiert eine reale Überforderung der Kommunen, damit muss man umgehen, ohne humanistische Grundsätze zu vernachlässigen. Im Zentrum steht für mich die Bekämpfung von Fluchtursachen.
Ihr Fach ist die Außen- und Europapolitik. Was wird die neue Partei anders machen als die Linkspartei?
Das Wichtigste wäre meines Erachtens, ernsthaft für eine Verhandlungslösung beim Krieg in der Ukraine und in Israel und Palästina einzutreten. Ich würde daneben die Sanktionspolitik etwa gegenüber Syrien oder Afghanistan kritisieren. Der mit Abstand größte Anteil von Menschen, die hier einen Asylantrag stellen, kommt immer noch aus Syrien. Das liegt auch an dem Embargo gegen das Land. Die Politik der BRD und der EU sollte sich generell unabhängiger von den USA gestalten und sich auch bei großen geopolitischen Konflikten mehr auf Neutralität und Vermittlung konzentrierten. Statt dessen agiert man als verlängerter Arm der US-amerikanischen Politik.
Andrej Hunko ist Bundestagsabgeordneter aus Aachen und Vorsitzender der Linksfraktion im Europarat
Immer noch kein Abo?
Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer B. (18. November 2023 um 13:27 Uhr)Die »Mammutaufgabe« für eine Parteineugründung unter der komischen Bezeichnung »BSW« dürfte nach dem Europaparteitag der Linken noch schwieriger werden, wo ein klar linkes Profil entworfen wird. Wo sich »BSW« politisch verorten wird, ist und bleibt unklar. Unterm Strich betrachtet, sehe ich das Projekt am rechten Rand der Sozialdemokratie angesiedelt, ohne sozialistische Perspektive.
Mehr aus: Inland
-
Weg vom »Schlagwortsozialismus«
vom 18.11.2023 -
Rackete im Anflug
vom 18.11.2023 -
Der schwierige Gast
vom 18.11.2023 -
Schlagstock und Reizgas
vom 18.11.2023 -
Ohne Geld kein Staat
vom 18.11.2023 -
EU verlängert Glyphosat-Zulassung
vom 18.11.2023 -
»Große Bereitschaft, den Status quo zu erhalten«
vom 18.11.2023