Atempause auf einem Schlachtfeld
Von Erhard Korn
Nur mit den Mitteln der unerbittlichsten Selbsterkenntnis, der schonungslosesten Selbstkritik könne die deutsche Literatur einen Beitrag zur Wiedergeburt Deutschlands nach der Befreiung leisten, schrieb Georg Lukács im Winter 1944/45. Für die Gründungsjahre der Bundesrepublik hat dies am deutlichsten Wolfgang Koeppen geleistet. In ihrer Monographie über die »Literatur der Adenauerzeit« schwärmte Elisabeth Endres 1980 davon, »mit welcher Hellsichtigkeit Koeppen die politische Szene der jungen Republik der alten Männer beschrieb«.¹ Brisant war diese Kritik zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr.
Heute gilt der Autor Wolfgang Koeppen als bedeutendster und innovativster deutscher Romancier der frühen fünfziger Jahre – damals erreichte er kein Massenpublikum: von jener unerbittlichsten Selbsterkenntnis wollte es nicht wissen. »Der Fragebogen«, das Rechtfertigungsbuch des Freikorpskämpfers Ernst von Salomon, wurde gleichzeitig der erste Bestseller der Republik.
Noch 1976 beklagte Ulrich Greiner, Koeppen sei nicht einmal den Deutschlehrern bekannt. Das änderte sich irgendwann, und im März 2023 geriet »Tauben im Gras« (1951), der erste Teil seiner Trilogie, in die Schlagzeilen und Fernsehnachrichten. Ausgerechnet dieser Roman, der doch erbarmungslos das Weiterwirken von faschistischer Mentalität und von Rassismus diagnostizierte, nun gegen Schwarze, wurde von einer Deutschlehrerin skandalisiert wegen der häufigen Verwendung des »N-Worts«, das ihr und heutigen Schülerinnen und Schülern nicht zuzumuten sei.²
»Das Treibhaus«, der mittlere Band der Trilogie, wiederum sei geradezu zum Roman der frühen Bundesrepublik geworden, schrieb Kurt Sontheimer 1991 in seiner Geschichte der frühen Bundesrepublik. Die Zentralfigur des Romans, den fiktiven Abgeordneten Keetenheuve, zählte er neben Kurt Schumacher, Konrad Adenauer und Theodor Heuss zu den vier Vertretern der Adenauer-Ära: Keetenheuve repräsentiere jene kritische Strömung, die nach den Jahren der Nazidiktatur einen demokratischen Neuaufbau erwartet habe.³
Restauration
»Es dunstete nach neuem Anstrich, nach Renovation und Restauration«, so empfindet der Abgeordnete Keetenheuve nicht nur den Nibelungenexpress, mit dem er, von der Beerdigung seiner Frau kommend, nach Bonn reist. Der Sieg des Faschismus 1933 war ihm auch persönliches Versagen. Fliehend von Land zu Land, eingeschlossen in den Wäldern Kanadas, dann als Kämpfer mit dem Rundfunkmikrophon hatte er im Exil gelebt. Nun erfüllte ihn das Kriegsende mit Hoffnung, »er glaubte damals an die Wandlung, wollte der Nation neue Grundlagen des politischen Lebens und die Freiheit der Demokratie« geben, eben nicht die Restauration jener ökonomischen Ordnung, die sich im Faschismus bewahren wollte, und auch nicht die Wiedereinsetzung jenes Personals, das diesem Faschismus treu gedient hatte.
Bald aber sah er sich in die Opposition gedrängt. Die Mächtigen schwammen wieder oben, »man war wieder im Amt«, die gute Gesellschaft hatte »das Vermögen zu retten, Tuchfühlung zu halten, den Besitz zu wahren, den Anschluss nicht zu verlieren, denn das Dabeisein ist alles«.
Nun, 1953, fehlt ihm der Glaube, er, der sein »Mandat als Anwartschaft gegen die Macht« auffasst, wird als »Menschenrechtsromantiker« verspottet. Doch noch will er vor den Wölfen nicht weichen, vor den Generälen, die zur Wiederverwendung marschieren, vor dem »restaurativen Nationalismus, auf den alles hinauslief«.
Das alte Spiel
Er kann im Zug nicht schlafen. Im »inneren Monolog« lässt Koeppen seine Zentralperson sinnieren. »Und Waffenlager? Waffenlager. Man schloss Verträge. Man spielte wieder. Das alte Spiel? Das alte Spiel. Die Bundesrepublik spielte mit. Der Kanzler saß an manchem runden Tisch. Was lag hinter ihm? Verteidigungslinien, Flüsse. Verteidigung an der Elbe. Verteidigung an der Oder. Angriff über die Weichsel. Und nach? Ein Krieg. Gräber. Vor ihm? Ein neuer Krieg? Neue Gräber?«
Überall im sommerschwülen »Treibhaus« Bonn begegnet Keetenheuve jenen Verhütern, die schon 33 »Schlimmeres verhütet hatten«. Auf dem Münsterplatz, einem Gräberfeld aus fränkischer Zeit, trifft er den christdemokratischen Kollegen Korodin, der darauf hofft, Keetenheuves »Haltung« zu ändern. Man müsse ein Gräberfeld wagen, um ein größeres zu verhindern. So wird begründet, was in den Geschichtsbüchern »Remilitarisierung« oder »Wiederbewaffnung« genannt wird. Die Zeit der Spaltung der Welt mit Deutschland an der Nahtstelle ist Koeppen »Atempause auf einem verdammten Schlachtfeld«. So lautet der Schlusssatz des Romans.
In der »Pressebaracke« sucht Keetenheuve seinen früheren Redaktionskollegen Mergentheim auf: »Dreiunddreißig trennte sich’s wie Scheidewasser, Keetenheuve wanderte ins Exil, Mergentheim wandelte erfolgreich auf dem Pfad der Bewährung«, wurde »Chefredakteur des gewandelten Blattes«. Nun schwimmt er wieder oben, rät Keetenheuve zur Anpassung. Den Widerstand hätten seine Kollegen in der neuen Auflage des »Jahrbuchs des Hohen Hauses« schon aus ihrem Lebenslauf gestrichen. Mit feiner Ironie skizziert Koeppen jene Zeit, in der Widerstand schon wieder als Vaterlandsverrat diffamiert wird.
Ein prominenter Korrespondent steckt ihm das Blatt eines ausländischen Nachrichtendienstes zu, ein Interview mit englischen und französischen Siegergenerälen. Die, Führer in der geplanten Europaarmee, sahen eine »Verewigung der deutschen Teilung« und »in dieser Teilung den leider einzigen Gewinn des letzten großen Krieges«. Das war brisant, galt doch die Einheit offiziell als wichtigstes Staatsziel, auch wenn sie angesichts der Zugehörigkeit der beiden deutschen Staaten zu je zwei gegensätzlichen Militärblöcken zur Lebenslüge der frühen Bundesrepublik wurde.
Keetenheuve nun will diese Meldung in seiner Rede als »Bombe« nutzen, auch um seinen Fraktionsvorsitzenden Knurrewahn »standhaft zu machen«. Diesen »sozusagen deutschnationalen« Politiker stattet Koeppen unübersehbar mit Zügen des damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher aus, der Intellektuelle wie Carlo Schmid in die Fraktion einband, um ihr ein bildungsbürgerliches Flair zu geben. An den Baudelaire-Übersetzer Schmid erinnern denn auch einige Charakterzüge Keetenheuves. Schmid war jedoch schon 1948 Befürworter einer »bewaffneten Macht«. Wie er in seiner Biographie bekennt, gehörte er zu jenen sozialdemokratischen »Reformern«, die schon früh, wenn auch angesichts der weitverbreiteten »Ohne-mich-Stimmung« nicht offen, eine Kursänderung der SPD Richtung Westbindung und Wiederbewaffnung betrieben. Daher auch fädelte er Gespräche Schumachers mit jenen Wehrmachtsgenerälen ein, die hinter den Kulissen Adenauer berieten.⁴
Auch Knurrewahn ist »für die Generäle, aber sie sollten sozial und demokratisch sein. Narr, meinte Keetenheuve, die Generäle würden Knurrewahn eine schöne Komödie vorspielen«. Tatsächlich lehnte die überwiegende Mehrheit der Offiziere die Demokratie ab, wie Befragungen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zeigten⁵ und verlangte vor der Beteiligung an ihr die Freilassung der verurteilten Kriegsverbrecher und die Wiederherstellung ihrer »Soldatenehre«, was ihnen der designierte NATO-Oberbefehlshaber Eisenhower prompt gewährte.⁶ Den von Keetenheuve-Koeppen befürchteten Selbstherrlichkeiten der preußischen Generäle hat der rheinische Machtpolitiker Adenauer, anders als Ebert-Noske, allerdings früh einen Riegel vorgeschoben.
Der große Regisseur
Im von der Polizei abgeriegelten Parlament soll Keetenheuve am nächsten Morgen sprechen. Er passiert eine zu »hysterischer Einsatzbereitschaft gedrillte Mannschaft, der man auf dem Übungsplatz das Gespenstersehen beigebracht hat«, und eine »eigentlich dürftige Demonstration«: Das Volk habe das Gefühl, nicht verhindern zu können, was es ablehne und versuche es daher nicht einmal.
Drinnen stehen die Fronten fest, es ist undenkbar, dass die oppositionelle Minderheit die regierende Mehrheit überzeugen könnte, es herrscht eine Art »Diktatur auf Zeit«. Ein besseres System als das parlamentarische sieht auch Keetenheuve nicht – aber er wünscht sich das Parlament als Opposition »gegen die Exekutive und ihre Säbel«. Mit dieser Darstellung folgt Koeppen der Kritik, die der christliche Sozialist Theo Pirker in seinem Buch »Die verordnete Demokratie« (1956) an der Entleerung des Parlamentarismus vorgebracht hatte.
Der Kanzler, dem »nach Jahren ärgerlicher Pensionierung die Chance zugefallen ist, als großer Mann in die Geschichte einzugehen«, »war kein Diktator«, aber er war der Regisseur, »der alles bereitet, alles veranlasst hatte, und er verachtete das oratorische Theater, in dem er mitspielen musste«. Das Parlament war Adenauer, sagt Sontheimer, nur Instrument seiner manipulativen Politik, und zu deren Durchsetzung bediente sich der »Regisseur« ohne Skrupel Personen wie Hans Globke. An diese graue Eminenz des Kanzleramts, den Verfasser der Rassegesetze, erinnert der in einer früheren Kaserne residierende »Herr Frost-Forestier«, dem die Beteiligung am Naziregime »keine Alpträume« verursacht. Er bietet Keetenheuve einen angenehmen Botschafterposten im links regierten Guatemala an und will ihn mit Regierungs-Mercedes schon mal »an die Annehmlichkeiten gewöhnen«, doch der »Träumer« lässt sich nicht wegloben.
Remilitarisierung
Die spätestens seit Anfang 1948 ins Auge gefasste und von den »Joint Chiefs of Staff« bald als dringlich geforderte Nutzung des Potentials der Westzonen für die 1949 gegründete NATO galt zunächst der kriegsmüden Bevölkerung als nicht vermittelbar.⁷ Der Koreakrieg 1950 erwies sich dann als »unverhoffter Glücksfall«⁸ für Adenauer, denn er lieferte ihm die Blaupause für ein von ihm selbst nicht geglaubtes, aber in der Propaganda ständig wiederholtes Bedrohungsszenario. In der »Öffentlichkeitsarbeit« der CDU diente das Vordringen nordkoreanischer Truppen über den 48. Breitengrad als »Lehrfilm« für das Vordringen von Einheiten der DDR-Volkspolizei über die »Zonengrenze«.⁹ Der verbreiteten Stimmung des »Ohne mich« müsse nun »Wehrfreudigkeit« entgegengesetzt werden.
Zunächst geheimgehalten vor der Öffentlichkeit, dann gegen alle Kritik sogar in den eigenen Reihen und mit der Täuschung, es gehe nur um eine Polizeitruppe, schließlich ohne Einbeziehung des Parlaments trieb Adenauer seine Pläne zur Remilitarisierung voran und unterzeichnete im Mai 1952 den Beitritt zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Der Bundestag durfte am 19. März 1953 nur noch zustimmen. Über sein Angebot eines »Wehrbeitrags« innerhalb einer Europaarmee hatte der Kanzler nicht einmal das Kabinett informiert. Prompt trat Innenminister Gustav Heinemann zurück und engagierte sich in der entstehenden Friedensbewegung. Dort spielten auch Kommunisten eine wichtige Rolle, verstärkten aber, etwa durch den Aufruf »zum revolutionären Sturz des Adenauer-Regimes« (November 1952), die antikommunistische Stimmung, die sich zusehends gegen alles Fortschrittliche richtete.
Bei den Bundestagswahlen am 6. September 1953, kurz vor Erscheinen des Romans, bestätigten die Wählerinnen und Wähler angesichts des durch Marshallplan und Koreakrieg beschleunigten Wirtschaftsaufschwungs eine Wiederbewaffnung, die sie mehrheitlich so wenig wollten wie die 1956 eingeführte Wehrpflicht.¹⁰
Ein literarischer Skandal
1946 hatte Koeppen den Verleger Henry Goverts kennengelernt, einst sozialistischer Student in Heidelberg, der im Nachkriegsdeutschland Talente suchte. Dem von häuslichen Problemen geplagten Koeppen verschaffte er in Stuttgart, wo der Verlag Scherz & Goverts residierte, eine Art Klausur. 1945 war der Luftschutzbunker unter dem Marktplatz zum Hotel umgebaut worden und im von Bomben zerstörten Stuttgart gut frequentiert. Hier bezog Koeppen im Mai 1953 seinen »kühlen Sarg«: »Mir geht es in jeder Hinsicht schlecht. Ich sitze jetzt unter dem Marktplatz von Stuttgart im Rathausbunker. Der Raum ist wie eine Gefängniszelle groß und Tag und Nacht ohne Licht und mit künstlicher technischer Belüftung. Oben in Stuttgart ist es schwül. Hier unten herrscht eine Grabesluft.« Manchmal streift er durch die Stadt, notiert bei Trollinger Beobachtungen zu Orten und Menschen, die in sein Manuskript einfließen.
Vom Arzt verschriebene Medizin kann er sich nicht leisten, sein Vorschusskonto hat er längst überzogen, in München versetzt seine alkoholkranke Frau seine Uhr. Die pure Not treibt ihn an, besonders als die Abgabefrist naht. »Ich sitze hungrig hier. Ich habe keinen Pfennig Geld und kann nicht essen gehen. Ich sitze im Bunker und schreibe und schreibe. Ende nächster Woche werde ich fertig sein. Ein böses Buch. Man wird mir keine Sympathien mehr entgegenbringen«, schreibt er am 18. Mai.¹¹
Verleger Goverts ist vom Manuskript beeindruckt, befürchtet aber den Entzug der Verlagslizenz und will angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl das Buch sogar an den Rowohlt-Verlag abschieben. Schließlich einigt man sich auf eine heute lächerlich erscheinende Streichung von »Obszönitäten« und die »Entschärfung von Passagen, die zu politischen Schwierigkeiten für den Verlag führen könnten«.¹²
»Bonn habe seine erste literarische Sensation«, schrieb nach Erscheinen der Konstanzer Südkurier am 30. Dezember 1953 und erwartete, dass der Roman von vielen Menschen verschlungen werde. Doch der Verkaufserfolg blieb mit 6.000 Exemplaren bescheiden. Die Reaktionen der Presse waren negativ. In dieser Phase der öffentlichen Aufrüstung bezweifelten die Rezensenten den Bezug zur Bonner Realität, beklagten den »porno-politischen Nihilismus« eines wirren Toilettenschmierers, der von bodenlosem Hass gegen die junge BRD zerfressen sei, unterstellten gar eine Subventionierung durch den Osten.¹³ Die von der Information Control Division herausgegebene Neue Zeitung befürchtete, dass das Buch »unserem bisschen Staatssubstanz schadet«. Von einer Lesung in einer Bonner Buchhandlung wurde Koeppen ausgeladen – mit der Begründung, man könne nicht für seine Sicherheit garantieren.¹⁴
Dass die gewerkschaftliche Welt der Arbeit Koeppen gar die »notwendige demokratische Gesinnung« absprach, wird man kaum ohne die frühe Zustimmung des DGB-Vorstands zu Adenauers Außenpolitik begreifen können. Als Gegenleistung hatte sich der DGB Entgegenkommen bei den gewerkschaftlichen Forderungen zur Mitbestimmung erhofft.¹⁵
Kämpferisch im Resignieren
Ein politischer Roman, der das große politische Trauer- und Satyrspiel der Entscheidung um die Wiederbewaffnung zum Thema hat, schrieb Karl Korn in der FAZ vom 7. November 1953, aber eben kein Schlüsselroman, sondern eine »Phantasmagorie«, die »mir aus einem tiefen Leiden an der deutschen Gegenwart zu kommen scheint«. Er sage mehr über die politische Gesamtsituation in diesem Land aus als ganze Jahrgänge von Leitartikeln.
Koeppen sprach erklärend von »poetischer Wahrheit«, einem Versuch, das »Klima der Zeit« zu finden, das »Bezeichnende«, das mit der öffentlichen »politischen Wahrheit« nicht in eins geht; ein Roman über »das Scheitern eines Moralisten in Bonn«, wie Koeppen selbst formuliert¹⁶, der subjektive Blick einer Person auf die deutsche Misere, meist in Form des inneren Monologs, mit Techniken, die Koeppen erst in die deutsche Nachkriegsliteratur einführte.
»Koeppen war der Dichter unserer Niederlagen und unseres Scheiterns«, so formulierte es Koeppens Freund Marcel Reich-Ranicki 1996 in seinem Nachruf.¹⁷ Koeppens Figur Keetenheuve steht auch für Koeppen selbst, er steht für den SPD-Abgeordneten Hermann Brill, Autor des Buchenwaldmanifests und einer der Väter des Grundgesetzes, der sich als Vorsitzender der »Deutschen Friedensgesellschaft« für eine dauerhafte Entmilitarisierung Deutschlands engagierte, für Alfred Andersch und Hans-Werner Richter, die im Zeitungsprojekt Der Ruf für eine sozialistische und demokratische Erneuerung Deutschlands und dann in der »Gruppe 47« wirkten, sie steht für den Gewerkschafter Theo Pirker, der in München nicht nur gegen die Remilitarisierung aktiv wurde, sondern auch Ideen basisdemokratischer Selbstermächtigung formulierte, die sich in Keetenheuves Reflexionen wiederfinden.
Zu einem Roman noch konnte der Verleger Goverts Koeppen drängen. »Der Tod in Rom« handelt vom Personal der Restauration, vom Überleben der Täter und ihres Denkens. Danach verstummte Koeppen als Romanautor, reüssierte aber als scharf beobachtender Reiseschriftsteller. Im Süddeutschen Rundfunk hatte Alfred Andersch mit dem Radioessay ein Genre geschaffen, das gleichzeitig als »Überlebenskasse für schon wieder verrufene Schriftsteller fungierte«, schreibt Koeppen.¹⁸ Schon sein erster Bericht brachte ihm ein Einreiseverbot nach Franco-Spanien ein.
1962 erhielt Koeppen den angesehenen Georg-Büchner-Preis für seine Romane, die getragen seien von der Verantwortung des Schriftstellers bei der Beobachtung gesellschaftlicher Zustände und der Aufdeckung ihrer Schwächen. Erneute Anläufe zu einem Roman erbrachte nur das Fragment »Jugend« (1976), das Koeppens Haltung eines »Fahnenflüchtigen aus allen Heeren der Welt« aus seinen eigenen Jugenderlebnissen begreifbar macht, jener Zeit, in der ein Garnisonskommandant vor allem seine Außerdienststellung ohne Heldentaten fürchtete, bevor der Krieg 1914 über Ostpreußen hereinbrach und Koeppens Familie zur Flucht zwang.¹⁹ Auch nach 1918 hatten viele schon bald »die Toten vergessen«, die Korpsstudenten schlugen die Rebellion der Arbeiter nieder und bereiten in der »Schwarzen Reichswehr« den nächsten Krieg vor. Koeppen ahnte neue Leichenfelder. Er neigte zur Linken, doch ihm fehlte »das Laster der Konsequenz« – zwar unterschrieb er Aufrufe gegen die Atomrüstung, doch er mied Gruppen, »selbst die linken«. Er glaubte nicht daran, die Welt verändern zu können und hoffte doch auf »die Wirkung des Wortes«,²⁰ sah sich engagiert »gegen die Macht«. Selbst im Resignieren blieb er kämpferisch, wie Marcel Reich-Ranicki formulierte.²¹
Der Krieg an der Bruchstelle zwischen Ost und West, vor dem Keetenheuve warnt, blieb Deutschland erspart. Dass dabei für die Bundeswehr die Rolle eines Festlandsdegens der USA und für Deutschland die des atomaren Schlachtfelds vorgesehen war, ist aus dem politischen Gedächtnis geraten.
Anmerkungen
1 Elisabeth Endres: Die Literatur der Adenauerzeit. München 1983, S. 161
2 Erhard Korn: Hilfloser Antifaschismus. Zur Diskussion um Wolfgang Koeppens »Tauben im Gras«. Sozialismus 6/2023, S. 59
3 Kurt Sontheimer: Die Adenauer-Ära. München 1991, S. 19
4 Carlo Schmid: Erinnerungen. München 1981, S. 491 f. und Udo F. Löwke: Für den Fall, dass … SPD und Wehrfrage 1949–1955. Hannover 1969, S. 65
5 Klaus Naumann: Generale in der Demokratie. Generationsgeschichtliche Studien zur Bundeswehrelite. Hamburg 2007, S. 32
6 Klaus von Schubert: Wiederbewaffnung und Westintegration. Stuttgart 1970, S. 19
7 Wilfried Loth: Die Teilung der Welt 1941–1955. München 1980, S. 230
8 Arnulf Baring: Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Bd. 2, München 1971, S. 141, 149
9 Manfred Koch: Wolfgang Koeppen. Stuttgart 1973, S. 88
10 Hans Karl Rupp: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Köln 1970, S. 49
11 Wolfgang und Marion Koeppen: Trotz allem, so wie du bist. Briefe. Frankfurt 2008, S. 35 und 75
12 Arne Grafe: Wolfgang Koeppen. Das Treibhaus. Frankfurt 2006, S. 210
13 Eckart Oehlenschläger: Wolfgang Koeppen. Frankfurt 1987, S. 278
14 Karl-Heinz Götze: Wolfgang Koeppen »Das Treibhaus«. München 1985, S. 120 f.
15 Arnulf Baring, a. a. O., S. 68
16 Karl-Heinz Götze, a. a. O., S. 8
17 Zit. n. Hiltrud und Günter Häntschel: Ich wurde eine Romanfigur. Frankfurt 2006, S. 88
18 Wolfgang Koeppen: Gesammelte Werke. Frankfurt 1990 (GW) Bd. 6, S. 393
19 GW 6, S. 381
20 GW 6, S. 406
21 Marcel Reich-Ranicki: Wolfgang Koeppen. Frankfurt 1998, S. 90
Erhard Korn ist stellvertretender Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 7. November 2022 über die Errichtung der deutschen Kolonie in der Bucht von Jiaozhou (Kiautschou) in China.
Immer noch kein Abo?
Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.
Ähnliche:
- United Archives International/imago16.09.2023
Mit allen Mitteln
- Dwi Anoraganingrum/Panama Pictures/imago28.08.2023
»Es fügt sich ein in das Gesamtbild der Kriegspropaganda«
- Nick Brauns/jW25.08.2023
Her mit der Waffe, weg mit der Waffe