Zug nach rechts
Von Gerrit Hoekman
Die Amtszeit des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte geht nach 13 Jahren zu Ende. Anfang Juli trat er mit seinem gesamten Kabinett zurück, weil sich seine Viererkoalition nicht auf eine gemeinsame Asylpolitik einigen konnte. Am 22. November wählen die Stimmberechtigten nun ein neues Parlament. Rutte tritt nicht mehr an, bleibt aber geschäftsführend im Amt, bis eine neue Regierung zustande gekommen sein wird. Das kann allerdings noch einige Monate dauern. Regierungsbildungen gehen in den Niederlanden selten leicht von der Hand.
Weil es anders als in Deutschland keine Sperrklausel gibt, reichten bei der vergangenen Wahl bereits etwas weniger als 70.000 Stimmen für einen Sitz im Parlament. Das Resultat: Im Moment sind 15 Parteien in der Tweede Kamer vertreten. In der kommenden Legislaturperiode werden es nicht viel weniger sein. Legt man die letzten Meinungsumfragen zugrunde, müsste eine Koalition, die nach dem 22. November mit Mehrheit regieren will, aus mindestens drei Parteien bestehen. Das Fehlen einer Prozenthürde macht zwar die Regierungsbildung schwerer, führt aber auch zu einer deutlich genaueren Abbildung des Wählerwillens im Parlament, als es zum Beispiel im Deutschen Bundestag der Fall ist, in dem 8,6 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht vertreten sind, also rund vier Millionen Menschen. Nach dem niederländischen Wahlsystem hätten es in Deutschland auch die Freien Wähler, die Tierschutzpartei, die Satirepartei Die PARTEI und die »Querdenker«-Partei Die Basis in den Bundestag geschafft.
»Wo ist der linke Wähler geblieben?«
Einer Umfrage von RTL-»Nieuwspanel« vom vergangenen Sonntag zufolge sollen noch 60 Prozent der Wählerinnen und Wähler unsicher sein, bei wem sie am 22. November ihr Kreuz machen. Die Zahl der Unentschlossenen werde von Mal zu Mal größer, so die Meinungsforschenden. Viele entscheiden sich erst in der Wahlkabine. Die Treue zu einer bestimmten Partei lasse mehr und mehr nach. »Es kann also noch sehr spannend werden«, stellte das »Nieuwspanel« von RTL fest.
Eine Voraussage kann man allerdings mit einiger Sicherheit bereits treffen: Die nächste Regierung wird erneut keine linke sein. Es riecht im Gegenteil streng nach einem Rechtsruck. »Wo ist der linke Wähler geblieben?« fragte das öffentlich-rechtliche Nachrichtenmagazin »Een Vandaag« Ende September. Zwar sagen die Umfragen der neuen gemeinsamen Liste aus der Ökopartei Groenlinks und der sozialdemokratischen Partij van de Arbeid (PvdA) einen Zugewinn an Sitzen voraus, aber nur auf Kosten der Sozialistischen Partei (SP) und der linksliberalen Democraten 66 (D66), die in den Niederlanden wohlwollend ebenfalls als links gelten. Das linke Lager an sich wächst indes nicht.
Frans Timmermans, der Spitzenkandidat von Groenlinks/PvdA, hat seinen Posten in Brüssel als EU-Kommissar für Klimaschutz aufgegeben, um niederländischer Ministerpräsident zu werden. Doch je näher der Wahltermin rückt, um so mehr verliert er an Boden. Ein Grund: Die Klimakrise, das zentrale Thema der gemeinsamen Liste, spielt in diesem Wahlkampf keine so große Rolle, wie sich Timmermans das wohl gewünscht hätte. Die immer schlimmer werdende Wohnungsnot, die rapide sinkende Kaufkraft einhergehend mit einer Preisexplosion bei Mieten und Energie sowie die Asylpolitik beschäftigen die Wählerinnen und Wähler deutlich mehr. Hinzu kommt, dass Timmermans bei weitem nicht die erwartete Zugkraft entwickelt. Einer Umfrage des Amsterdamer Instituts I & O Research zufolge glaubt nur ein Fünftel aller Wählerinnen und Wähler, dass er weiß, was die einfachen Menschen bewegt. Das polyglotte Schlachtross aus Maastricht spricht neben Limburgisch und Niederländisch auch fließend Englisch, Deutsch, Französisch, Russisch und Italienisch. Aber die Sprache der normalen Leute scheint er nicht zu verstehen.
Schwächelnde Sozialisten
Die Sozialistische Partei (SP) wird zu einer linken Regierung ganz bestimmt wenig beitragen können. Ihr droht am 22. November der nächste Tiefpunkt. Nur noch zwischen vier und sechs Sitzen sagen ihnen die Umfragen voraus. Bei der Wahl vor zwei Jahren waren es noch neun. Auch kein überragendes Ergebnis. Seit Lilian Marijnissen im Dezember 2017 den immer freundlichen Emile Roemer als Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidatin abgelöst hatte, reihte sich Niederlage an Niederlage.
Bei den über 60jährigen wählen immerhin noch 14 Prozent die SP, aber bei den Jüngeren haben die Sozialisten keine Chance. Lilian Marijnissen träumte vergangene Woche in der Sendung »Nieuwsuur« trotzdem von einer Regierungsbeteiligung. Sie glaubt, wer SP wählt, erwarte, dass die Partei endlich in einer Koalition Verantwortung übernehme. Untersuchungen zeigen aber laut »Nieuwsuur«, »dass die SP, wenn sie sich beispielsweise auf lokaler Ebene beteiligt, danach viel härter bestraft wird als andere Parteien«, wenn sie ihre Ziele nicht durchsetzen kann. Die Anhänger wollen Ergebnisse sehen und keine Kompromisse. Marijnissen liebäugelt gleichwohl schon mal mit dem Posten der Ministerin für Soziales und Gesundheit. Aber nicht um jeden Preis, schränkte sie ein: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in einem Kabinett sitzen, in dem die anderen Parteien nichts gegen die Kräfte des Marktes im Gesundheitswesen und die Spaltung der Gesellschaft unternehmen wollen.« Und auf keinen Fall werde die SP mit der rechtsliberalen VVD koalieren. Damit dürfte das Thema Regierungsbeteiligung schon rein mathematisch vom Tisch sein.
Der Ausschluss ihrer Jugendorganisation »Rood« im Juni 2021 hat der Partei keinen Aufschwung gebracht. »Rood« hatte kritisiert, dass die SP inzwischen zu angepasst sei, zu sehr darauf ziele, in die Regierung zu kommen. Die Partei müsse sich statt dessen wieder mehr auf ihre marxistischen Wurzeln besinnen. Die Parteiführung verlangte von »Rood« hingegen, sich nicht mehr an Debattierklubs wie dem »Marxistisch Forum« und der »Communistisch Platform« zu beteiligen, sonst müsse man sich trennen. Die Jugendorganisation warf der Spitze daraufhin stalinistische Methoden vor.
Der Konflikt mit »Rood« führte auch zum Streit innerhalb der SP. Längst nicht alle Parteimitglieder waren damit einverstanden, wie ihre Führung mit dem eigenen Nachwuchs umsprang. »Es ist wirklich Unsinn anzunehmen, dass gleich die ganze Partei übernommen wird, sobald ein paar Mitglieder für einen kommunistischen Kurs plädieren«, mahnte zum Beispiel Foppe de Haan, der Vorsitzende des Ortsverbands in Zeist. »Wir dürfen uns in dieser Zeit der historischen Schwäche der Linken nicht zersplittern.« Am Ende aber setzte sich der Vorstand der SP um Lilian Marijnissen durch und vollzog die Trennung von »Rood«.
Dabei würde ein Blick über die Grenze genügen, um festzustellen, dass es nicht schadet, wenn man an marxistischen Idealen festhält. In Belgien feiert die Partij van de Arbeid (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen niederländischen Sozialdemokratie) damit große Erfolge. Die niederländische SP brach hingegen schon 1999 mit ihrer marxistischen Vergangenheit. »Die sozialistischen Klassiker waren unsere Leitlinie. Das hat sich längst grundlegend geändert. Wir haben die Dogmen über Bord geworfen. Wir versprechen jetzt nicht mehr, als wir wirklich liefern können. Und das ist sehr vernünftig«, erklärte seinerzeit der damalige Parteivorsitzende Jan Marijnissen. Er ist nicht nur der Vater von Lilian Marijnissen, sondern auch der Grandseigneur der SP. 27 Jahre Parteichef, 14 Jahre Fraktionsvorsitzender. Inzwischen übt er aus gesundheitlichen Gründen kein Parteiamt mehr aus, aber im Hintergrund soll der 71jährige immer noch die Strippen ziehen. Tochter Lilian genießt vielleicht auch deshalb in der SP noch großen Rückhalt. Aber wenn die schlechten Prognosen am 22. November Realität werden sollten, dann wird die Frage gestellt werden, ob es nicht doch an der Spitzenkandidatin liegt, wenn sich die Partei im freien Fall befindet.
»Toeslagenaffaire«
Renske Leijten wäre vielleicht eine, die auch außerhalb der Partei Leute begeistern kann. Aber die 44jährige hat sich am 1. Juli von der großen politischen Bühne verabschiedet. »Nach fast 17 Jahren im Parlament ist es genug. Für mich ist es Zeit, aus der Haager Blase auszusteigen und mich auf andere Weise mit unserer Demokratie zu befassen«, begründete sie ihren Rückzug. Am Tag ihres Abschieds erhielt sie einen Anruf von Kristie Rongen. Sie habe Tränen in den Augen, wenn sie an Leijtens Abschied denke, sagte Rongen in der Tageszeitung AD: »Sie war die allererste Person, die sich für uns eingesetzt hat.«
Kristie Rongen ist ein Opfer der sogenannten »Toeslagenaffaire« (Beihilfeaffäre). Im Zeitraum von 2004 bis 2019 hatten rund 26.000 bedürftige Familien mit 70.000 Kindern Beihilfen zur Kinderbetreuung zurückzahlen müssen, weil sie im Antrag geringfügige Fehler gemacht hatten. Das geschah auch deshalb, weil sie teilweise von den Kindertagesstätten falsch informiert worden waren. Die Steuerbehörden unterstellten ihnen jedoch Sozialbetrug. Offenbar waren die Beamten eifrig bemüht, den von der Regierung Rutte verordneten rigiden Sparkurs umzusetzen.
Die Folgen für die betroffenen Familien waren gravierend: Alleinerziehende Mütter mussten ihren Job aufgeben, weil sie sich ohne Beihilfe keinen Kitaplatz leisten konnten und ihre Kinder zu Hause betreuen mussten. Manche Familien waren gezwungen, hohe Schulden zu machen. Bei Kristie Rongen belief sich die Summe auf 92.000 Euro. »Mein Monatslohn war 1.900 Euro, meine festen Kosten betrugen 1.350 Euro und das Finanzamt zog im Monat 900 Euro ein«, erzählte sie der Regionalzeitung Brabants Dagblad.
Zusätzliche Brisanz erhielt der Skandal, weil vor allem Familien mit Migrationshintergrund betroffen waren. Eingeleitete Ermittlungen stellten institutionellen Rassismus und Voreingenommenheit in den Behörden fest. Später kam außerdem heraus, dass auch beim Wohngeld, Krankengeld und der Einkommenssteuer ähnlich verfahren wurde. Im Januar 2021 trat die Regierung Rutte III wegen der Affäre zurück.
Die 45jährige Kristie Rongen hat sich nach dem Abschied von Renske Leijten entschieden, selbst politisch aktiv zu werden. Sie kandidiert am 22. November zum ersten Mal für die SP. Zwar nur auf dem hoffnungslosen Listenplatz 29, das stört sie aber nicht. »Ich stelle mir vor allem eine Rolle hinter den Kulissen vor.« Ins Parlament könnte sie allerdings einziehen, falls sie genügend sogenannte Vorzugsstimmen (Voorkeurstemmen) erhält. In den Niederlanden können die Wählerinnen und Wähler nicht nur eine Partei wählen, sondern mit einer zweiten Stimme einen bestimmten Kandidaten auf der Liste dieser Partei. Kommen genügend Stimmen zusammen, rückt die Person auf der Liste nach vorn und möglicherweise bis ins Parlament. Das gelingt aber nur sehr wenigen Kandidaten. Rongen ist jedoch keine völlig Unbekannte. Sie war 2021 vom Sender RTL ausgewählt worden, um im Fernsehen als Sprachrohr der Betroffenen der »Toeslagenaffaire« Mark Rutte die Leviten zu lesen, und sie erfüllte ihr Aufgabe ausgezeichnet.
Konservativer Robin Hood
Rongen spricht mit großer Hochachtung von Renske Leijten, weil sie den Stein in dem Beihilfeskandal erst ins Rollen gebracht hat. Aber nun erntet ein anderer die Lorbeeren: Pieter Omtzigt, damals noch Christdemokrat, der sich Leijten bei der Aufklärung des Skandals angeschlossen hatte. So ungerecht kann Politik sein: Leijten zieht sich aus Den Haag zurück, Omtzigt gilt der sogenannten bürgerlichen Mitte seitdem als konservativer Robin Hood.
Auf der Straße sehr beliebt, war Omtzigt bei Ministerpräsident Mark Rutte nicht mehr wohlgelitten. Er hatte den Ruf, ein Querulant und Heckenschütze zu sein, weil seine damalige Partei, der christdemokratische CDA, ja ebenfalls an der Koalition mit Rutte beteiligt war. Nach der Wahl im März 2021 begannen die vier Parteien, die bereits das vorherige Kabinett gebildet hatten, Sondierungsgespräche über eine Fortsetzung der Koalition. Gleich zu Anfang kam der Name Pieter Omtzigt auf den Tisch – ein eindeutiger Bruch mit den guten Sitten. In den Niederlanden wird über Personal traditionell erst dann gesprochen, wenn über die programmatischen Themen Einigkeit erzielt wurde und die Koalition praktisch steht. Der Affront kam durch eine kleine Ungeschicktheit an die Öffentlichkeit. Als eine der beiden in den Niederlanden üblichen Koalitionsvermittlerinnen eine Sitzung verließ, gelang einem Fotografen der Schnappschuss des Jahres. Auf einem Zettel, der aus den Unterlagen hervorlugte, stand die kurze Notiz »Positie Omtzigt, functie elders.« (»Position Omtzigt, Funktion woanders«). Anscheinend wollten die Koalitionäre den beim Volk äußerst populären Politiker wegloben, in der Hoffnung, er könne von dort aus der Regierung nicht mehr wehtun.
Die Beteiligten konnten sich hinterher beim besten Willen nicht mehr erinnern, wer diesen Satz gesagt hatte. »Jemand hat die Worte getippt. Hier in Den Haag gibt es keine Geisterschreibmaschine«, kommentierte Omtzigt die Totalamnesie der Koalitionäre. Das alles hinterließ deutliche Spuren bei dem 49jährigen. Bereits im Februar 2021 deutete er an, erschöpft zu sein und kürzer treten zu müssen. Im Mai nahm er schließlich vier Monate Auszeit als Abgeordneter. Er zog sich an seinen Wahlort Enschede zurück. Dem Vernehmen nach litt er an Burnout. Im Juni 2021 mache Omtzigt einen Schlussstrich und trat aus dem CDA aus, wo er 21 Jahre Mitglied gewesen war.
Fast genau zwei Jahre später meldete sich Pieter Omtzigt mit einer neuen Partei namens Nieuw Sociaal Contract (Neuer Gesellschaftsvertrag, NSC) zurück und pflügt seither die politische Landschaft gewaltig um. »Gutes Regieren«, »Existenzsicherung« und »Bewältigung der Wohnkrise« sind indessen drei recht schwammige Schlagworte. Außerdem will der NSC die Zuwanderung auf 50.000 Menschen »durch eine selektive und strenge Migrationspolitik« begrenzen. Vor allem soll die Arbeitsmigration eingedämmt werden. Ausländische Studierende sollen davon abgehalten werden, ins Land zu kommen, indem Niederländisch wieder die Unterrichtssprache an den Universitäten werden soll. Aktuell ist es in vielen Studiengängen Englisch.
Auch über die Wohnungspolitik macht er sich Gedanken: »Das Problem ist, dass der Wohnungsmarkt neoliberalen Regeln unterworfen ist. Immobilienfirmen können von den Mietern Höchstpreise herausholen. Der Staat hat weitgehend auf eine Regulierung verzichtet. Das war nicht immer so, wenn ich an die Zeit des rheinischen Kapitalismus zurückdenke«, sagte er am 6. November in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung. »Wir hatten früher in Bereichen von gemeinschaftlichem Interesse eine Balance zwischen Markt und Staat. Das betrifft nicht nur den Wohnungssektor, das betrifft auch die Gesundheitsfürsorge. In den Niederlanden ist es üblich geworden, dass internationale Investoren Arztpraxen und Kliniken aufkaufen. Hier geht der Kapitalismus zu weit.«
Die Partei hat tatsächlich die Chance aus dem Stand die stärkste Fraktion zu werden. Aber jetzt, wo der Wahlkampf in den Endspurt geht, ist Omtzigt drauf und dran, seine Anhänger gewaltig zu enttäuschen. Der 49jährige will nämlich erst nach der Wahl entscheiden, ob er überhaupt Ministerpräsident werden möchte. Eigentlich will er lieber Fraktionsvorsitzender sein. »Ich habe eine feste Präferenz, im Repräsentantenhaus zu bleiben, und ich habe diese Präferenz schon seit langem«, sagte er am Donnerstag in der öffentlich-rechtlichen Talkshow »Op 1«. Diese Aussage könnte die Karten noch einmal neu mischen. Es besteht nämlich kein Zweifel, dass seine Anhänger ihn als Regierungschef in Den Haag sehen wollen und niemanden sonst aus seiner Partei. Die Konkurrenz wittert bereits Morgenluft. »Ich sehe einen Mann, der sich nicht entscheiden kann (…), einen, der keinen reinen Wein einschenkt«, reagierte Frans Timmermans am vergangenen Donnerstag bissig.
Bauern und Calvinisten
Mit einem ähnlichen Problem hat die Boer-Burger-Beweging (Bauern-Bürger-Bewegung, BBB) zu kämpfen. Mit dem gewaltigen Rückhalt der Landwirte fuhr die BBB bei den Provinzwahlen im März einen unerwarteten Erdrutschsieg ein und wurde die mit Abstand stärkste Partei in der Eersten Kamer, die mit dem deutschen Bundesrat vergleichbar ist. Caroline van der Plas, die charismatische Führerin der BBB, wurde bereits als die kommende Ministerpräsidentin gehandelt. Als im Moment einzige Abgeordnete ihrer Bewegung im Parlament ist sie dementsprechend das Gesicht der BBB. Van der Plas ist das Sprachrohr der Landbevölkerung. Zwei Jahre wetterte sie resolut und wortgewaltig auf unzähligen Bauernkundgebungen gegen die Stickstoffpolitik der Regierung Rutte. Das Ergebnis: Auch landesweit lag die BBB im April in den Umfragen unangefochten vorne.
Dann die Ernüchterung: Van der Plas will sich das Amt der Ministerpräsidentin nicht antun. Erstens beeinträchtige es ihr Privatleben und zweitens will sie nicht eine internationale Konferenz nach der anderen besuchen. »Ich habe keine Lust, hübsche Kleidung zu tragen und um die Welt zu fliegen«, erklärte Van der Plas. Sie will Vorsitzende und Abgeordnete bleiben. Vor wenigen Monaten lag die BBB noch vorn, jetzt ist sie auf Platz fünf abgestürzt. Maximal elf Sitze geben ihr die Prognosen. Ein Platz in der kommenden Regierung ist jedoch allemal möglich. Die BBB kann bei Koalitionsverhandlungen ihre starke Position in der Eerste Kamer in die Waagschale werfen. Viele Gesetze müssen dort abgesegnet werden, ohne BBB am Kabinettstisch wird das schwierig.
Pieter Omtzigt will nicht Premierminister werden, Caroline van der Plas auch nicht. Frans Timmermans nur, wenn Groenlinks/PvdA die größte Fraktion werden, was immer unwahrscheinlicher wird. Bleibt also die rechtsliberale Dilan Yeşilgöz, die Rutte bereits als Vorsitzende der Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) beerbt hat. Die 46jährige wäre die erste Frau an der Spitze der niederländischen Regierung. Im Moment ist sie geschäftsführende Ministerin für Justiz und Sicherheit.
Wie ihr Vorgänger Rutte steht sie für eine stramme Asylpolitik: »Wir müssen die Kontrolle über die Migrationsfrage zurückerlangen«, sagte sie auf dem Parteikongress im September in Rotterdam. Unter anderem will sie den Familiennachzug deutlich einschränken. Der Plan wirkt aufgrund ihrer Vita zynisch: Sie kam 1984 als kleines Mädchen nur deshalb in die Niederlande, weil ihre Mutter von einem großzügigen Familiennachzug profitierte. »Ohne die niederländische Asylpolitik wäre ich nie hier gewesen«, gab sie laut der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt NOS zu.
Yeşilgöz wurde 1977 in Ankara geboren. Ihr Vater war in der Türkei als Kurde in der Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK) aktiv. Nach der Machtergreifung der Militärjunta von General Kenan Evren 1980 floh er in die Niederlande und durfte später seine Familie nachholen, die mit einem Boot von der Türkei auf die griechische Insel Kos übergesetzt hatte. Yeşilgöz’ Mutter ist seit Jahrzehnten in der niederländischen Flüchtlingshilfe aktiv.
Mit diesem Elternhaus im Rücken ist es kein Wunder, dass Dilan Yeşilgöz vor 20 Jahren in Amersfoort ihre politische Karriere in der Sozialistischen Partei (SP) begann. Wenig später wechselte sie jedoch zur sozialdemokratischen PvdA, danach zur Ökopartei Groenlinks, bevor sie bei der rechtsliberalen VVD landete. Eine Wanderung von links nach rechts quer durch das Parteiensystem. Politische Wankelmütigkeit scheint ihr Markenzeichen zu sein. Bis vor kurzem schloss sie eine Koalition mit dem Rechtspopulisten Geert Wilders nicht aus. Aber am 3. November rückte sie in einer Debatte der Spitzenkandidaten bei Radio 1 auf einmal deutlich von ihm ab. »Man muss lange suchen, bis man eine Überstimmung findet«, stellte sie plötzlich fest. Er wolle »die Niederlande kaputtmachen«, warf sie Wilders vor.
Wilders kann den Vorwurf verkraften. Er wirkt im Wahlkampf erstaunlich entspannt. Auf Einladung des öffentlich-rechtlichen Programms »Jeugdjournaal« (Jugendjournal) knuffelte Geert Wilders vergangene Woche in einem Tierheim süße Miezekätzchen. Die Haare auf seinem feinen Anzug störten ihn nicht, er habe selbst zwei Katzen zu Hause, erzählte er. Muslime mag Wilders bekanntlich weniger gerne. Er will den Koran, Islamschulen und Moscheen aus den Niederlanden verbannen. Leider fragte der junge Moderator des »Jeugdjournaals« nicht, ob Wilders auch Perserkatzen verbieten möchte.
Während der »weiche Wilders« mit seinem Katzenauftritt wenigstens zum Schmunzeln anregte und auch außerhalb seiner Anhängerschaft einige Sympathiepunkte gutmachte, sorgte der Fraktionsvorsitzende der orthodox-calvinistischen Staatkundig Gereformeerde Partij (SGP), Chris Stoffer, für große Empörung. Er solidarisierte sich am Donnerstag vor einem Krankenhaus in Rotterdam mit einem Dutzend radikaler Abtreibungsgegnerinnen und -gegner. Obwohl es in den Niederlanden ausdrücklich verboten ist, belästigen die Hardcoreprotestanten regelmäßig Frauen auf dem Weg in die Klinik, um sie noch kurz vor knapp von ihrem nach reiflicher Überlegung gefassten Entschluss abzubringen. Wegen der harschen Kritik von allen Seiten sah Stoffer von der Teilnahme an einer ähnlichen Aktion in Utrecht ab. Eigentlich kann der SGP ihre Außenwirkung aber vollkommen egal sein, sie kann sich auf ihre erzkonservative Basis im sogenannten Bijbelgordel (Bibelgürtel) verlassen, der in einem breiten Streifen von Zeeland bis hinter Zwolle reicht. Die ultrareligiösen Calvinisten sind übrigens der Grund, warum die Niederlande das Parlament an einem Mittwoch und nicht an einem Sonntag wählen.
Und was wird aus dem ewigen Mark Rutte? Im Juli wollte sich der 56jährige noch komplett aus der Politik zurückziehen. Und nun? Ein Sitz im Aufsichtsrat eines großen Unternehmens sei nichts für ihn, gestand Rutte im Oktober in der Radiosendung »Spuigasten«. Und nur noch vor Publikum Reden über seine Zeit als Premierminister zu halten, finde er »sehr traurig«. Er ließ durchblicken, dass er sich durchaus vorstellen könne, NATO-Generalsekretär zu werden, wenn Jens Stoltenberg im Oktober nächsten Jahres endgültig seinen Abschied nehmen will. Er werde sich nicht aktiv um den Posten bemühen, sagte Rutte, aber »wenn es in meine Richtung läuft« werde er ernsthaft darüber nachdenken. »Es ist ein sehr schöner Job«, so Rutte.
Gerrit Hoekmann schrieb an dieser Stelle am 13. Oktober 2022 über Energiekrise und Inflation in den Niederlanden.
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Leserbrief von Heinz H. Bleidick aus Soest (16. November 2023 um 19:32 Uhr)Ein großes Lob für G. Hoekmans »Zug nach rechts«. Als Bundesdeutscher mit seit Jahrzehnten jährlich wochenlangen Aufenthalten im Nachbarland bin ich sehr erfreut über einen solchen, m. M. n. sehr interessanten und fundierten Artikel zur niederländischen Parteienlandschaft und mehr. Und so wie ich seit 2005 mein jeweiliges Print- und/oder Onlineabonnent wegen oftmals ganz schlechter bis gar übler Artikel mehrfach kündigen musste (zuletzt 2021), rückt aktuell die Wiederaufnahme eines Abos in Sichtweite: Wenn doch nur endlich manche Artikel zu Inlandthemen und solche im Feuilleton und Sport zumindest schmerzlos lesbar wären! MfG Heinz H. Bleidick, Soest
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (15. November 2023 um 23:23 Uhr)Guter und informativer Artikel. Ich verfolge die niederländische Politik nur »indirekt«, daher sind die Erklärungen und Hintergründe von Gerrit aufschlussreich.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (15. November 2023 um 12:19 Uhr)Ein sehr informativer Artikel. Allerdings wäre er noch besser geworden, hätte er auf die Stanze verzichtet, Wahlen dieser Art wären dazu da, den Wählerwillen abzubilden. Wären sie dazu wirklich da, dann wären sie längst verboten.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (14. November 2023 um 22:23 Uhr)Es ist noch nicht lange her, da schien ganz Europa von einem grünen Geist erfüllt zu sein. Begeistert vom Protest der Klimajugend, kündigte sich ein neues Zeitalter an. Die Bürger schienen sich nur noch mit der Frage zu beschäftigen, ob sie ein Elektroauto anschaffen oder doch zunächst ein Solardach errichten sollten. Die unaufhörlichen Migrationsströme und der Krieg in der Ukraine trübten die Stimmung etwas, da sie den Europäern vor Augen führten, dass neben der »Klimakatastrophe« auch andere drängende Herausforderungen existieren. Die Themen Migration und die Angst vor dem Verlust ein »sicherer Heimat« stehen nun im Mittelpunkt! Der Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa basiert nicht auf bloßer Demagogie, sondern auf dem politischen Versagen der regierenden Parteien. In ganz Europa gewinnen die Rechtspopulisten an Zustimmung, während die etablierten Parteien wegbrechen, weil sie die Asylpolitik weiterhin nicht ernsthaft angehen. Die einst als Alternative erscheinende linke Seite ist heute praktisch bedeutungslos! Die Parlamentswahl in den Niederlanden verspricht Hochspannung. Derzeit deuten Umfragen auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin. Für die Linken sieht es tatsächlich gar nicht gut aus. Wer nach den vorgezogenen Neuwahlen am 22. November die neue Regierung bilden wird, bleibt völlig offen. Die EU galt lange Zeit als liberales Projekt. Nun könnten jedoch nationalistische Kräfte in der Mehrheit die Macht in Brüssel übernehmen und die EU nach ihren eigenen Vorstellungen umgestalten. Die Mehrheit hat in der Demokratie einen heiligen Stellenwert, oder nicht?
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