Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
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Aus: Ausgabe vom 13.11.2023, Seite 12 / Thema
Peter-Hacks-Tagung

Kritik der falschen Utopie

Schwärmereien und Illusionen führen zwangsläufig zur Enttäuschung. Peter Hacks zeigt dies in seinen Komödien »Die Vögel« und »Rosie träumt«
Von Jürgen Pelzer
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Verspottung eines versponnenen Luftreichs, das sich als chaotische Kopie der Gegenwart erweist. Szenenbild aus Aristophanes’ »Die Vögel«

»Zwitschert nicht von den besseren Sachen. Stört nicht den Gang der wirklichen Dinge und den Flug der Entwürfe.«

Herakles (in Peter Hacks: »Die Vögel«)

Im ersten Band von Ernst Blochs »Das Prinzip Hoffnung«, dem großen Kompendium utopischen Denkens, kommt es zu einem bemerkenswerten Fehlurteil. Im Kapitel über die Entstehung diverser Wunschbilder zieht Bloch die »Vögel« des Aristophanes als Beispiel für den Hass der herrschenden Klassen auf neue Denkansätze heran. Aristophanes habe diese Komödie geschrieben, um den »Hass des Spießbürgers im Demos« auf Neues und Ungewohntes zu provozieren.¹ Seine Satiren, seine besten Komödien, seien ausdrücklich gegen Utopien gerichtet gewesen. In den »Vögeln« habe er »die sozialistische Utopie schlechthin« verspottet. Der von Aristophanes verwendete Begriff des Wolkenkuckucksheimes habe bis in die Gegenwart dazu gedient, die Visionen möglicher Zukunftsstaaten zu denunzieren. Bloch geht davon aus, dass Aristophanes, als Vertreter der Oberklasse, eine »genialische Verleumdungsstrategie« verfolgt und aus Hass auf die Wunschbilder der unteren Klassen eine dramatische Fabel konstruiert habe, um das Fehlgeleitete irgendwelcher neuen Welten zu demonstrieren. Die Struktur des Fabelaufbaus untersucht Bloch aber ebensowenig wie die Motive der beiden Haupthelden oder den tatsächlichen Inhalt des angeblichen sozialen Wunschtraums. Am Schluss wundert sich Bloch darüber, dass »die schöne Stadt in den Wolken, dieser Reflex aller fernen Glücksinseln« erstmals ausgerechnet im Medium des Spotts erschienen sei.

Dystopisches Athen

Der Philosoph zieht nicht in Betracht, dass es sich bei den »Vögeln« um eine höchst witzige und durchaus legitime Verspottung einer falschen, in sich unstimmigen oder gar reaktionären Utopie handeln könnte. Geschrieben wurde die Komödie im Jahre 414 v. u. Z., sieben Jahre nachdem der Peloponnesische Krieg durch einen Friedenspakt beendet worden war, ohne dass die Konfrontation der beiden Machtblöcke Athen und Sparta aufgehoben worden wäre. Fast zeitgleich hatte Aristophanes seine den Friedensschluss antizipierende Komödie »Der Frieden« geschrieben. Die Spannungen zwischen den beiden Machtblöcken hielten allerdings an, angeheizt vor allem durch Athen, das 417 im sogenannten Melierkonflikt zu höchst drakonischen Mitteln griff, um seine Machtposition in dem von ihm beherrschten Seebund zu demonstrieren. Im Jahr 415 kam es sogar zu einer höchst riskanten – und schließlich gescheiterten – Militärexpedition, um Sizilien zu erobern. Die Komödie »Die Vögel« wurde ein Jahr später uraufgeführt, zu einem Zeitpunkt, als sich das katastrophale Ende noch nicht abzeichnete. Doch man kann davon ausgehen, dass Aristophanes den Versuch, das Athenische Seereich weit nach Westen auszudehnen, kritisch sah. Die Anspielungen auf die konkrete Situation halten sich aber, anders als in früheren Komödien, in Grenzen. Aristophanes zielt in den »Vögeln« offensichtlich auf etwas Allgemeineres, nämlich auf die Haltlosigkeit und die objektive Komik eines verbreiteten unrealistischen Wunschdenkens, eines Wunschdenkens, das obendrein nicht von sozialen Konzepten, sondern individuellen Gefühlen und Zielen ausgeht.

Dies wird bereits beim Personal der Komödie deutlich. Die Helden sind der ältere Athener Bürger Euelpides, der Sohn der guten Hoffnung, sowie Peisetairos, der Überreder des Gefährten. Letzterer ist der eigentliche Protagonist der Komödie. Beide haben ihre Polis fluchtartig verlassen, um eine Stadt zu finden, in der sie nicht die meiste Zeit bei Gerichtsprozessen oder sinnloser Geschäftigkeit verbringen müssen. Tereus, der laut der Sage von Zeus in einen Wiedehopf verwandelte thrakische König – er hat seine Schwägerin vergewaltigt –, kennt eine solche Stadt nicht. Darauf entwickelt Peisetairos kurzerhand einen großen Plan, nämlich an Ort und Stelle eine neue Stadt zu bauen, von der aus Menschen und Götter beherrscht werden können.

Um eine solche im Luftreich angesiedelte Stadt zu legimitieren, wird die Geschichte umgeschrieben. Begründet werden soll, dass die Herrschaft der Vögel derjenigen der Götter und Menschen vorausgehe. Dies überzeugt die durch den Chor vertretenen Vögel, die in einer ornithomorphen Kosmologie zu schwelgen und von der Weltherrschaft zu träumen beginnen. Während sich die beiden Protagonisten schrittweise in Vögel verwandeln, erinnert die Stadtgründung von Wolkenkuckucksheim, nephelokokkyia, immer stärker an Athen, das sie zurücklassen oder überwinden wollten. Wie sich bald herausstellt, dient die neue Stadt letztlich auch nicht den Interessen der Vögel, sondern menschlichen Interessen, ja Peisetairos schwingt sich zügig zu einer Art Tyrann auf, der mögliche Konkurrenten und Trittbrettfahrer, Menschen, die von der neuen Stadt profitieren wollen, komödiantisch effektvoll wegprügeln lässt. Auch dieser Konkurrenzkampf erinnert an Athen.

Der Popularität der neuen mittlerweile durch eine Mauer befestigten Stadt tut das keinen Abbruch. Es bricht eine regelrechte Ornithomanie aus. Das Attraktive liegt in der quasi naturgegebenen Vogelfreiheit, die auf eine konsequente Aufgabe von Gesetzen und moralischen Normen hinausläuft. Die neuen Götter sind jetzt die Vögel, Peisetairos der neue Zeus. Für die traditionellen Götter setzt sich schließlich, bei aller Vorsicht und Ängstlichkeit (er versteckt sich unter einem Sonnenschirm, um nicht von oben entdeckt zu werden), Prometheus ein. Er rät zu einem Friedensschluss, Zeus sei bereit, ihm sein Zepter auszuhändigen und verspreche ihm zudem die schöne Basileia, eine Königin, als Frau. Schließlich verhandelt eine Gesandtschaft – bestehend aus Poseidon, Herakles und einem Triballer, dem Vertreter einer nichtgriechischen Gruppe – mit Peisetairos. Jeglicher Widerspruch oder gar eine Rebellion gegen das neugegründete Reich soll scharf geahndet werden.

Dem großen Finale steht letztlich nichts mehr im Weg, da Poseidon überstimmt und Herakles mit kulinarischen Leckerbissen, und zwar ausgerechnet gebratenen Vögeln, bestochen wird. Wie üblich endet die Komödie des Aristophanes mit einem großen Fest. Doch anders als etwa im »Frieden« oder der »Lysistrate« ist dieser Komödienschluss ein höchst ambivalenter. Die andere Welt, das Wolkenkuckucksheim, hat sich keineswegs als Utopie oder konkretes Wunschbild, sondern eher als dystopische Variante Athens herausgestellt.

In den »Vögeln« geht es nicht um Frieden oder soziale Gerechtigkeit. Die Motive für die Suche nach einem imaginären Luftreich – einem Reich zwischen Himmel und Erde – waren von vornherein aufs Individuelle beschränkt und enden schließlich in einer chaotischen Kopie der Gegenwart. Dieses Wolkenkuckucksheim ist, wie schon Heinrich Heine in der »Romantischen Schule« richtig erkannte, nichts anderes als ein Narrenparadies.

Romantisches Wolkenkuckucksheim

Peter Hacks griff diesen Stoff eines antiken Wolkenkuckucksheimes 1971 auf. Die Arbeit begann, wie er André Müller brieflich mitteilte, im August 1971, also drei Monate nach der Entmachtung Walter Ulbrichts, die sich bald als einschneidende Zäsur der DDR-Geschichte erweisen sollte. Gedacht war zunächst an eine Opernfassung, die Musik sollte der Komponist Siegfried Matthus schreiben, der bereits die Musik für »Omphale« sowie die Komödie »Noch ein Löffel Gift, Liebling?« geschrieben hatte. Der Text lag zunächst als Libretto vor, eine Bühnenfassung wurde 1981 uraufgeführt. Die Oper selbst kam nicht zustande. Hacks hat seine »Vögel«-Adaptation in einem Aufsatz von 1983 kommentiert, worin er feststellt, dass er bereits frühzeitig Tendenzen kritisiert habe, die sich erst später voll entwickeln sollten.² Der Autor denkt dabei u. a. an den zunehmenden Hang zum »Dissidieren«, ohne auf Einzelfälle einzugehen. Nicht überraschend sind auch die meisten Theater, denen er sein Stück vergeblich anbietet, in der Hand von Vertretern eines imaginären Vogelreiches, das sich aus freischwebenden, intellektuell fragwürdigen oder dem westlich-modischen Regiekult ergebenen Regisseuren und Intendanten rekrutiert.

Hacks musste bei der Bearbeitung, dem Charakter und der Funktionsweise des Operngenres entsprechend, vor allem drastisch kürzen. Zuviel stofflicher Ballast hätte sich zuungunsten der Musik ausgewirkt. Zum Opernhaften gehört auch die Vielzahl von arienhaften Passagen, die die individuellen emotionalen Befindlichkeiten der Heldinnen und Helden ausstellen, sowie der systematische Einbau von Chorpartien, auf die Hacks in seiner früheren Bearbeitung des »Friedens« noch verzichtet hatte. Ansonsten hat sich Hacks bemüht, das Gerüst der Handlung, sieht man vom Schluss ab, beizubehalten. Die beiden Protagonisten heißen jetzt Hoffmeier und ­Liebinger; sie geben sich als Auswanderer. Hoffmeier störte die Demokratie in seiner Heimatstadt, da in ihr zwar »alle dürfen, was alle wollen«, aber eben keiner darf, was er will.³ Will Hoffmeier mehr persönliche Freiheit, so denkt Liebinger an eine freie, von den üblichen Zwängen befreite Liebe. Die Erfahrungen, die er bisher gemacht hat, haben ihn tief enttäuscht, da die »Weiberliebe« immer auf der Suche »nach etwas Festem«, also nach Heirat, sei.

Wie bei Aristophanes kennt Tereus, der in einen Wiedehopf verwandelte thrakische König, den idealen Ort nicht, den Hoffmeier und Liebinger suchen, aber das bereits existierende Reich der Vögel erweist sich, da Arbeit und Ehe hier unbekannt sind, als derart attraktiv, dass beide sofort um Einbürgerung bitten. Und wie bei Aristophanes muss Hoffmeier aus dem Stand eine Utopie für die Vögel entwickeln, die zunächst einmal von den Menschen, dem »gri-gri-gri-Griechenpack«, alles andere als angetan sind.

Als Ort dieser Utopie präsentiert Hoffmeier den hohlen Raum des sie umgebenden Äthers. Die von der Vogelschar bewohnte Sphäre soll neu definiert werden: »Dann nennt ihr, was nicht Erde ist noch Himmelsort, / Was menschlich nicht noch göttlich ist, das eurige.« Damit sind sie sogleich Herren und Beherrscher des Alls. Prokne, die Anführerin des Chors, durchschaut dies zwar als typisch menschliches Manöver, doch Tereus ist einverstanden. Er sorgt auch dafür, dass sich Hoffmeier und Liebinger in Vögel verwandeln, um nicht weiter als Menschen aufzufallen. Zusammen will man eine utopische Stadt bauen, die, wie es heißt, weder Pflicht noch Plage kennt, »ein Dach der Muße, Heimstatt allem Heiteren«, eine Stadt erbaut »nach der Träume Schnur, / Vom Stoff der Kühnheit, auf Entschlusses Fundament, / Wo ihr euch selbst begegnet, eurer Wirklichkeit / Denn wir ihr leben wolltet, lebtet ihr ja nicht«. Das Ziel besteht also darin, die schlechte, von Arbeit und Enttäuschungen geprägte Wirklichkeit hinter sich zu lassen. Ein Traumbild, das sich angeblich im Hier und Heute einrichten lässt. Letztlich aber ein Trugbild.

Und tatsächlich weist die Stadt, an der nun zügig und aufwendig gebaut wird, sogleich einen Makel auf. Liebinger leidet weiter unter seinen erfolglosen Liebeserlebnissen, dieses Mal betrügt ihn seine neue Braut bereits in der Hochzeitsnacht. Eine wirkliche Utopie kann es also – zumindest für ihn – nicht sein, denn dort wäre eine befreite Liebe denkbar oder wahrscheinlich. Hacks spielt hier vermutlich auf die Illusionen der Außerparlamentarischen Opposition und der neuen Linken im Westen an, die sich von der »sexuellen Revolution« eine Aufhebung der Entfremdung zwischen den Geschlechtern oder sogar der Gesellschaft erhofften.

Derweilen enthüllt Hoffmeier sein Denkei, die Verfassung der neuen Gesellschaft, derzufolge sich die Vögel zu neuen Göttern erklären. Was dies in der Praxis bedeuten kann, zeigt Hacks in einer neu ausgeführten Szene, in der ein Schornsteinfeger aus Grimma die neuen Freiheiten nutzen will, um in ein »näheres Verhältnis« zu Hera, der Gattin des Zeus, des alten Gottes, zu treten – die wohl deutlichste Anspielung, dass in den »Vögeln« die DDR zumindest mitgemeint ist. Tereus warnt vor den bekannten mythologischen Folgen eines solchen Übergriffs (der brutalen Bestrafung durch Zeus), auch der Chor weist solche Ansprüche zurück. Das neue Reich grenzt sich deutlich nach oben, den alten Göttern, wie nach unten, den Menschen, ab. Zuwiderhandlungen oder Grenzüberschreitungen werden mit drakonischen Maßnahmen geahndet, gegebenenfalls »mit verschärfter Bratpfanne«.

Den Schluss hat Hacks entscheidend geändert. Zunächst tritt auch hier Prometheus, der angebliche Götterfeind, als Opportunist auf: Statt sich unter einem Sonnenschirm zu verstecken, stellt er sich bei Hacks unter ein unheilverheißendes Regendach. Doch während bei Aristophanes die göttliche Intervention scheitert, greift bei Hacks die aus Gott und Schatten zusammengesetzte und deshalb handlungsfähige Figur des Halbgotts Herakles erfolgreich ein. Als Deus ex machina bereitet er dem Spuk des Wolkenkuckucksheims ein abruptes Ende.

Sein Urteil über das »götterverlassene Nest« ist kategorisch: Es hat »keine Vernunft«, deshalb muss es beendet werden. Die Vögel sollen aufhören, »von besseren Sachen zu zwitschern«, da sie den »Gang der wirklichen Dinge« sowie »den Flug der Entwürfe« nur störten. Nach diesem Machtwort des Herakles kehren die Vögel wieder in ihren anarchischen, unzivilisierten Urzustand zurück. Hoffmeier und Liebinger werden wieder jene Greise des Anfangs, die sich aufgrund ihrer Enttäuschungen nach einer bequemeren, freieren Welt sehnten. Statt eines großen Finales kommt es nur zu einem kleinen: Die Protagonisten erhalten zwei Frauen als Ehepartnerinnen. Eine Art Trostpreis. Das vermeintliche Utopieideal hat sich als Schimäre erwiesen, als Resultat bleibt das kleine individuelle Glück. Auch dies wird mit einem Festessen gefeiert. Der Braten wartet in der Küche.

Jenseitiges

Die Utopiekritik – die Kritik an illusionären oder utopistischen Wunschvorstellungen – bleibt auch in den folgenden Jahren ein Thema für Hacks. Im Oktober 1974 beginnt er ein Stück, das sich auf Dramenfragmente der Stiftsdame Hrosvith von Gandersheim aus dem 10. Jahrhundert stützt, in dem es immer wieder darum geht, wie man den allgegenwärtigen sexuellen Anfechtungen widersteht.⁴ Hacks lässt nun Rosvitha oder Rosie, wie er sie im Titel nennt, selbst in einem Stück auftreten, das Ende des vierten Jahrhunderts spielt. In der »Legende in fünf Aufzügen« – man erwartet eine Heiligen- oder Märtyrerlegende – ist Rosie eine der Töchter des römischen Kaisers Dio­kletian, der – wie üblich – mit Feldzügen gegen diverse Feinde befasst ist und den Siegeszug des Christentums mit allen Mitteln verhindern will. Als er seine Töchter an seinen Juniorkaiser Gallikan verheiraten will, stellt sich heraus, dass die beiden ersten – Fides und Spes – längst Christinnen sind, die ihre Unschuld behalten wollen, um unversehrt in den Himmel zu gelangen. Diokletian reagiert unverzüglich: Er lässt seine Töchter von einem trotteligen, stets alles kommentierenden Henker hinrichten.

Auch Rosie, die später hinzukommt, verweigert sich einer Ehe mit Gallikan, entgeht aber dem gleichen Schicksal. Sie wird statt dessen als Sklavin mit in den nächsten Feldzug verschleppt. Dort hilft sie mit klarem Blick auf die strategischen Entwicklungen und vor allem mit phantastischen Wundern, die entscheidende Schlacht zu gewinnen. Gefragt, warum sie dies tue, antwortet sie, dass nur Rom den Sieg des Christentums über die heidnischen Barbaren garantieren werde. Trotz aller Bemühungen gelingt es aber Gallikan nicht, Rosie zu »schänden«; die sorgt mit einem weiteren Wunder dafür, dass dieser ein Ofenrohr für die begehrte Frau hält. Selbst Thais, seine erfahrene, mit allen Wassern gewaschene sexuelle Lehrmeisterin, beginnt ihre Sünden zu bereuen und sich zum Christentum zu bekennen. Gallikan selbst wird zwar nicht Christ, aber er will Rosie schützen und endet schließlich zusammen mit ihr unter dem Richtbeil. Diokletian hält an seiner Herrschaftsideologie fest, derzufolge der römische Kaiser selbst Gott ist.

Da er seinen Juniorkaiser verloren hat, zieht sich Diokletian aber überraschend auf seinen neu erbauten Altersruhesitz in Spaletum zurück. Damit ist auch der Weg frei für den weiteren Siegeszug des Christentums. Rosie und Gallikan finden sich im Jenseits, im Himmel, wieder, der sich aber für Rosvitha als große Enttäuschung herausstellt. Er ist nicht die ideale Welt, die sie sich vorgestellt und für die sie alles zu opfern bereit war. Auch Jesus, auf dessen »liebende Arme« sie sich besonders gefreut hat, ist nicht da. Vielmehr finden sich im Himmel all jene Personen, die sie aus dem Diesseits kennt – wohin sollen sie auch sonst. Der Himmel selbst ist gestaffelt, es gibt verschiedene Abteilungen, über die jeweils nur Gerüchte existieren. Ob Gott existiert oder wo er wohnt, bleibt unbekannt. Rosies Glaube und Gottvertrauen sind zutiefst erschüttert. Kann man unter diesen Umständen überhaupt noch glauben? »Ich denke, man muss glauben, wenn man noch kann« – so die Auskunft der konsultierten Äbtissin.

Anders als die »Vögel« wurde »Rosie träumt« bereits 1976 uraufgeführt, und zwar mit großem Erfolg. André Müller, der das Manuskript bereits frühzeitig las, fand viel Aristophanisches in diesem Stück, was bei einer angeblichen Legende überraschen mag. Aber das Legendenhafte, das der Titel verspricht, sowie die Häufung von Wundern und anderen Absonderlichkeiten, ist einfach ein Seitenhieb auf die in der DDR um sich greifende Romantik mit ihrer diffusen Sehnsucht nach einem Ziel jenseits der konkreten Realität. Hacks entlarvt – so betrachtet – die Romantik mit ihren eigenen Mitteln. Die Kritik gilt ferner einem am Jenseits orientierten Christentum oder – allgemeiner – an christlich getönten Utopievorstellungen.

Vernunft statt Schwärmerei

Hacks selbst hat in einem kommentierenden Essay das Stück als »Liebesgeschichte zwischen einem Mann von dem entschlossensten Hange zum Durchführbaren und einem Mädchen von der APO« beschrieben, also einem Pragmatiker und einer Vertreterin jener Außerparlamentarischen Opposition in der BRD, die nach 1968 zum Teil in utopistische Wunschvorstellungen abglitt.⁵ Die spätrömische Situation, die Hacks in »Rosie träumt« beschreibt, ist dadurch gekennzeichnet, dass der Untergang trotz einzelner Stabilisierungserfolge nicht mehr zu vermeiden war. Damit ergeben sich Ähnlichkeiten zur weltpolitischen Lage von 1968 bis zum Ende der 1970er Jahre, in denen sich die Krise des Imperialismus verschärfte – man denke an den Vietnamkrieg und die Serie antikolonialer Befreiungskämpfe. Auch in diesem Fall schien ein Ende der alten Ära absehbar.

»Rosie träumt« wäre dann zugleich eine Warnung vor einer Ideologie, die sich – wie das Christentum – auf eine idealisierende oder romantisierende Wunschvorstellung jenseits der Realität versteift. Wenn Rosies schonungslose Desillusionierung darin besteht, dass die erste Abteilung des Himmels der irdischen Realität weitgehend ähnelt, so weist dies darauf hin, dass Utopien anschließbar sein sollten, um nicht von vornherein als unrealisierbar abgetan zu werden. Hacksens Utopiekritik richtet sich damit sowohl gegen irgendwelche Wolkenkuckucksheime als auch gegen illusionäre Visionen eines imaginären Jenseits, in dem alles besser sei. Wegen des permanenten Missbrauchs, der mit dem Wort Utopie getrieben wird, zog Hacks schließlich den Begriff des Ideals vor, um so das Vernunftgeleitete und Zielgerichtete im Gegensatz zum Schwärmerischen oder unbestimmt Sehnsuchtshaften zu betonen.⁶ Bei echten Idealen freilich wissen wir: »Das kriegen wir nie«, und dennoch müssen wir »es immer kriegen wollen«.

Anmerkungen

1 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt 1985, S. 505

2 Vgl. Peter Hacks: Ein Drosseljahr. In: Peter Hacks: Werke, Berlin 2003, Bd. 15, S. 191 ff.

3 Zitiert wird nach: Hacks: Werke, Bd. 5, S. 5 ff.

4 Zitiert wird nach: Hacks: Werke, Bd. 5, S. 153 ff.

5 Vgl. Peter Hacks: Zehn Zeilen über »Rosie träumt«. In: Hacks: ­Werke, Bd. 15, S. 206 ff.

6 Vgl. Peter Hacks: Glossen zur Untersuchung. In: Hacks: Werke, Bd. 13, S. 235

Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung des Vortrags, den Jürgen Pelzer am 4. November auf der Peter-Hacks-Tagung 2023 gehalten hat.

Soeben erschienen: Kai Köhler (Hg.): Hacks Jahrbuch 2022. Das poetische Werk nach 1989. Aurora Verlag, Berlin 2023, 316 Seiten, 25 Euro

Jürgen Pelzer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 6. Juli 2023 über die von Karl Marx redigierte Neue Rheinische Zeitung.

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