Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
Gegründet 1947 Donnerstag, 7. Dezember 2023, Nr. 285
Die junge Welt wird von 2753 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
Aus: Ausgabe vom 09.11.2023, Seite 12 / Thema
Faschistische Generalprobe

Endstation Feldherrenhalle

Gepäppelt mit Geldern der Industrie unternahm die NSDAP vor 100 Jahren in München einen Staatsstreich. Zum Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923
Von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker
12-13.jpg
Vorerst gescheitert: Bewaffnete SA-Mitglieder am Morgen des 9. November 1923 in München

Als Ende 1922 in Deutschland überall rechtsextreme Kräfte ihre Aktivitäten verstärkten und größere Anhängerscharen gewannen, flossen auch für die NSDAP reichlicher finanzielle Mittel aus den Kassen großbürgerlicher Kreise und mittelständischer Unternehmer. Sie erlaubten, den Völkischen Beobachter seit Dezember 1922 als Tageszeitung erscheinen zu lassen. Die Spendenbeträge wurden größer, der gesellschaftliche Rang der Spender immer gewichtiger. Zu ihnen gehörte u. a. Ernst von Borsig, der spätere Vorsitzende der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und Leiter des Gesamtverbandes Deutscher Metallindustrieller. Die von ihm bereitgestellten Mittel gelangten über Valentin Litz, den Direktor der Borsig-Werke in Tegel, an Ernst Pöhner, den aktiven Nationalsozialisten ohne Mitgliedsbuch im Münchener Polizeipräsidium. Zu den Großindustriellen, die früh als Finanziers der Partei in Erscheinung traten, zählte auch Hugo Stinnes, Generaldirektor der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten-AG, Emil Kirdorf, Gründer des deutschen Kohlensyndikats und Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, und Fritz Thyssen, der nach dem Tode seines Vaters 1926 an die Spitze der Vereinigten Stahlwerke AG rückte und einer der mächtigsten Männer des Ruhrgebietes war. Sie interessierten sich ebenfalls bereits seit 1922 für die NSDAP, wobei letzterer im Herbst 1923 mehrere Versammlungen der NSDAP besuchte sowie an Erich Ludendorff und Adolf Hitler 100.000 Goldmark überwies.

Während der Inflationszeit erhielt die NSDAP Zuwendungen in Goldmark, was von erheblichem Vorteil war, da sie ihre Schulden in wertlosem Inflationsgeld zurückzahlen konnte. Auch einige SA-Führer bekamen ihren Sold teilweise in Devisen ausgezahlt. Eine Reihe adliger Damen und Herren spendeten für die Partei, darunter Prinz Arenberg, Gertrud von Seydlitz und der Herzog von Coburg. Auslandsdeutsche Gönner rührten sich in Amerika, in der Tschechoslowakei, in Schweden, Finnland und anderen Ländern. Noch nach dem Putsch vom 8./9. November 1923 besaß die NSDAP ein beachtliches Vermögen von rund 170.000 Goldmark.

Nach italienischem Vorbild

Im Januar 1923 – als sich die Auseinandersetzung im Reich um die Erfüllungs- bzw. die Katastrophenpolitik aufs äußerste zuspitzte und die französische Regierung Sanktionen ankündigte – führte die NSDAP ihren ersten »Reichsparteitag« durch, ein Spektakel mit zwölf Massenkundgebungen, einer »Fahnenweihe« und einer Parade der zum Teil schon völlig uniformierten SA auf dem Münchener Marsfeld. Angesichts der allgemeinen Empörung in Deutschland gegen die am 11. Januar 1923 erfolgte militärische Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen wagte sie sogar eine Machtprobe mit der bayerischen Regierung, in deren Konzept Propaganda für einen aktiven Widerstand an Rhein und Ruhr und für den sofortigen Sturz der Reichsregierung nicht passte. Ministerpräsident Eugen von Knilling unterstützte die Taktik des »passiven Widerstandes«, mit der die Reichsregierung auf die Ruhrbesetzung reagierte.

Hitler versprach, nichts gegen die bayerische Regierung zu unternehmen, und das genügte, um ihn und seine Anhänger doch gewähren zu lassen. Prompt wurden die Bestimmungen des Ausnahmezustandes – obwohl die Reichsregierung den NSDAP-Parteitag zum formellen Anlass für seine Verhängung genommen hatte – nicht gegen diese Partei angewandt. Alle auf ihm beruhenden Maßnahmen richteten sich lediglich gegen Veranstaltungen der Arbeiterbewegung. Gerade dieses regierungsoffizielle Entgegenkommen steigerte den Zustrom neuer Mitglieder und ermunterte die NSDAP nun zur unmittelbaren Vorbereitung einer größeren Aktion.

Alles, was die Nationalsozialisten während des Jahres 1923 unternahmen, stand im Zeichen ihrer Vorbereitung auf einen Putsch, auf eine erneute Aktion à la Kapp. Nach italienischem Vorbild strebten sie einen »Marsch auf Berlin« und die Einsetzung einer neuen Reichsregierung an. Pläne und Einsatzbefehle nahmen eine immer konkretere Gestalt an. Die seit März 1923 von Hermann Göring geführte SA gebärdete sich offen als Wehrverband und veranstaltete in Bayern eine militärische Übung nach der anderen. Im Frühjahr 1923 wurde – wie immer, wenn sich rechtsradikale Verbände formierten und zum Losschlagen bereit hielten – das Gerücht ausgestreut, ein »Linksputsch« stünde bevor. Den Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern drohte Hitler, ihre für den 1. Mai vorgesehenen Demonstrationen würden nur stattfinden, wenn sie über seine »Leiche marschieren« könnten. In den frühen Morgenstunden des 1. Mai rotteten sich in München 1.300 SA-Leute und etwa 4.000 Mitglieder der vaterländischen Verbände – des »Bundes Oberland«, der »Reichsflagge«, des Blücher-Bundes, der Zellergruppe u. a. m. – aus ganz Bayern zusammen. Das militärische Kommando führte Hermann Kriebel, ein Vertreter der vaterländischen Verbände. Die politische Führung lag in den Händen Hitlers. Ernst Röhm sorgte dafür, dass sie zusätzlich zu ihren Gewehren, Handgranaten und Pistolen aus den Beständen der Reichswehr Maschinengewehre und ein Geschütz erhielten.

Die Trupps der NSDAP standen Gewehr bei Fuß. Sie warteten jedoch vergebens auf das Zeichen ihrer Führer, die friedliche Demonstration der Münchener Arbeiter zu überfallen. Die bayerische Reichswehrführung unterband jede größere Aktion und verlangte die Rückgabe ihrer Waffen, was wiederum von Röhm organisiert wurde. Nach den Gesetzen der Republik und Bayerns hätte Hitler bereits in dieser Situation wegen staatsgefährdender Betätigung und der Aktion vom 1. Mai 1923 zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden können. Doch Justitias rechtes Auge erwies sich wieder einmal als blind. Selbst die Verabschiedung Röhms aus der Truppe, die der Reichswehrminister Otto Geßler persönlich verfügt hatte, scheiterte am Einspruch des Generals Otto Hermann von Lossow, der die Reichswehr in Bayern kommandierte. Gegen die NSDAP gerichtete Untersuchungen eines Münchener Staatsanwalts wurden rasch abgeschlossen, als Hitler drohte, mit »landesverräterischen Enthüllungen« aufzuwarten.

Ungeachtet des am 11. Mai verhängten Ausnahmezustandes traten die paramilitärischen Wehrverbände weiter auf; sie hielten Übung auf Übung ab und formierten sich zu einer »Kampfgemeinschaft nationaler Verbände« unter Ludendorffs und Hitlers Führung. Ohne Einschränkungen konnten die Nationalsozialisten ihren »Helden« Albert Leo Schlageter feiern, der am 26. Mai 1923 von den französischen Besatzungsorganen im Ruhrgebiet wegen Sabotageaktionen hingerichtet worden war. Zu einem einwöchigen Verbot des Völkischen Beobachters kam es im Juli 1923 nur, weil in seiner Ausgabe vom 14. Juli allzu selbstbewusst erklärt worden war, im Falle von Behinderungen durch die Polizei werde sich die NSDAP der bayerischen Regierung nicht mehr als »Notpolizei« zur Verfügung stellen.

Varianten der Diktatur

Als im August 1923 Reichskanzler Wilhelm Cuno durch einen von der KPD initiierten Generalstreik aus dem Amt gezwungen und einen Monat später die Taktik des »passiven Widerstands« gegen die Ruhrbesetzung aufgegeben wurde, verkündete der neue Reichskanzler und DVP-Vorsitzende Gustav Stresemann: »Die beste außenpolitische Aktivität, die wir entfalten können, ist die Ordnung der deutschen Verhältnisse im Innern.« Die Beilegung des Ruhrkonflikts und der Kurs auf die Stabilisierung der Währung wurden von einer erneuten Verhängung des Ausnahmezustandes flankiert. Im Grunde handelte es sich dabei um einen Bruch der Weimarer Verfassung, in der kein Wort über ihn stand. Sollte er verfassungsmäßig gedeckt sein, wäre ein im Artikel 48 angekündigtes Gesetz erforderlich gewesen. Ein solches Gesetz war noch nicht ergangen. Auch auf diese Weise organisierte die neue Regierung selbst einen Rechtsruck, der die politische Macht in Deutschland mit militärischen Mitteln absichern sollte und auf einen rechtsgewendeten Parlamentarismus hinauslief.

Darüber entbrannten in den Reihen derer, die konkrete Diktaturpläne verfolgten, neue Auseinandersetzungen. Während die Reichsregierung und die Parteien der sogenannten Mitte das Schwergewicht der politischen Entscheidungen von der Legislative zur Exekutive verschieben wollten, ohne erstere zu beseitigen, traten nahezu alle konservativ-nationalen Kräfte mehr oder weniger offen für eine Militärdiktatur ein. Das von Stinnes propagierte Programm einer »Zerschmetterung des Kommunismus«, der Notverfassungsentwurf des Alldeutschen Verbandes und vieler extrem reaktionärer Kräfte, darunter auch jene der NSDAP und der bayerischen Wehrverbände, stimmten weitgehend überein. Als Ziel galt: Unterdrückung ihrer Gegner mit rücksichtsloser Gewalt, Auflösung der Parlamente, Verhängung des Standrechts, Todesstrafe für Streikende, Aufhebung der Pressefreiheit, Verbot der Gewerkschaften. Meinungsverschiedenheiten bestanden vor allem in der Frage, ob sich das angestrebte Regime vorrangig auf die Reichswehr oder auf rechtsextreme Bürgerkriegsorganisationen stützen solle. Der Einsatz der Reichswehr erschien vielen als aussichtsreicher, war diese doch zweifellos viel disziplinierter und militärisch schlagkräftiger als die Wehrverbände. Letztlich stellte ihr Einsatz auch das kleinere Risiko dar; eine Generalsherrschaft ließ sich in gewisser Hinsicht immer noch mit der Fassade »legaler« Mittel drapieren. Die Diktaturkandidaten der Wehrverbände vertrauten hingegen auf ihre Resonanz unter breiten Teilen der deutschen Bevölkerung, insbesondere unter den Mittelschichten.

In Bayern gingen die monarchistisch-partikularistischen Gruppen unter dem Triumvirat von Gustav von Kahr, Otto von Lossow und Oberst Hans Ritter von Seißer, dem Chef des Landespolizeiamtes, und die NSDAP lange Zeit Hand in Hand bei der Vorbereitung eines gemeinsamen Putsches gegen die Reichsregierung und den parlamentarisch-demokratischen Staat von Weimar. Für einen solchen Zweck wurde die Partei der Faschisten weiter gepäppelt, obwohl sie mehr und mehr mit eigenen Forderungen hervortrat und aus der Rolle eines nur regional wirksamen und beliebig zu dirigierenden Juniorpartners herauszuwachsen begann. Sie organisierte am 2. September einen »Deutschen Tag« in Nürnberg. An dieser provokatorischen Machtdemonstration nahmen rund 100.000 Menschen teil. Unter den »Ehrengästen« befanden sich Erich Ludendorff, der sich offen zum Nationalsozialismus bekannte, Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern, der Herzog von Coburg, Admiral Reinhard Scheer und zahlreiche bayerische Generäle und Offiziere. Am gleichen Tag entstand unter aktiver Mitwirkung der NSDAP der »Deutsche Kampfbund«, der die organisatorische Grundlage für die weiteren Putschvorbereitungen bot. Die Nürnberger Generalprobe für den geplanten Umsturz verlief verheißungsvoll, zumal sich SPD und KPD nicht auf eine gemeinsame Gegenwehr zu einigen vermochten. Drei Wochen später gelang es Röhm, die Wahl Hitlers zum politischen Leiter des »Kampfbundes« durchzusetzen.

Streit in der Fronde

Die NSDAP, die während des Jahres 1923 in ihren Mitgliederlisten mehr als 35.000 Neuaufnahmen verzeichnen konnte, profitierte vor allem von den gegen Berlin gerichteten Maßnahmen der bayerischen Regierung. Diese ernannte am 26. September Kahr zum Generalstaatskommissar, stattete ihn mit diktatorischen Vollmachten aus und kam Forderungen der Reichsregierung nach einem Verbot des Völkischen Beobachters nicht bzw. nur mit erheblicher Verzögerung nach. Kahr stellte nicht nur die Ausnahmegesetze des Landes über die des Reiches, er ließ sogar die Reichswehrtruppen des Münchener Wehrkreises auf die bayerische Landesregierung vereidigen. Lossow traf sich im Herbst mehrere Male mit dem Führer der NSDAP und versicherte, er sei mit Hitlers Auffassungen »in neun von zehn Punkten völlig einig«.

Trotz ihrer Gemeinsamkeiten entflammte im Herbst 1923 zwischen dem rechtskonservativen »weiß-blauen« und dem nationalsozialistischen Flügel der Putschistenfronde dennoch offene Rivalität. Der gemeinsam propagierte und intensiv vorbereitete »Marsch auf Berlin«, für den Lossow am 24. Oktober vor Vertretern der Reichswehr, der Landespolizei, der vaterländischen Verbände und des »Kampfbundes« die Parole »Sonnenaufgang« ausgab, entsprach nicht in allem den Plänen der »Weiß-Blauen«. Deren hauptsächliches Ziel bestand in einem weitgehend eigenständigen, von revolutionären Einflüssen aus den übrigen Teilen Deutschlands abgeschirmten Bayern. Dafür wurden zwar alle Aktivitäten der NSDAP als nützlich einkalkuliert, die Ansprüche auf eine Führungsrolle und auf Realisierung ihrer Ziele aber als überflüssig und ihrer eigenen Sache abträglich betrachtet, gingen sie doch weit über die von Kahr und Lossow hinaus. So erklärte Hitler am 30. Oktober im Zirkus Krone, für ihn sei »die deutsche Frage erst gelöst, wenn die schwarz-weiß-rote Hakenkreuzfahne vom Berliner Schloss« wehe. Keineswegs wollte er sich mit einer starken »nationalen« Regierung oder einer Militärdiktatur zufriedengeben, sondern erreichen, dass eine nationalsozialistische Herrschaft in den Sattel gehoben werde.

Für Kahr und die von ihm repräsentierten Kreise war diese Alternative zu ihren eigenen Plänen jedoch erledigt, als sich im Reich die Verhältnisse zu stabilisieren begannen. Am 13. Oktober beschloß der Reichstag ein Ermächtigungsgesetz, das erlaubte, von den verfassungsmäßig garantierten demokratischen Grundrechten abzugehen. Ende Oktober marschierte die Reichswehr auf Veranlassung des Reichspräsidenten und der Regierung in Sachsen und Thüringen ein, wo die legalen, von Sozialdemokraten und Kommunisten gebildeten Landesregierungen abgesetzt wurden. Ein Aufstandsversuch der KPD, der in Hamburg begann, wurde niedergeschlagen. Die Übergabe der gesamten vollziehenden Gewalt an Reichswehrchef General Hans von Seeckt zeichnete sich ab.

Für Kahr schien sich nunmehr die Aufgabe der bayerischen »Ordnungszelle« erübrigt zu haben, mit dem »Saustall in Berlin« aufzuräumen. Nicht zuletzt bröckelte die sogenannte nationale Opposition gegen den Kurs der Machthaber in Berlin, weil sich die Zeichen einer Wende der inneren Verhältnisse Deutschlands mehrten. Sie waren mit der beginnenden Stabilisierung der Mark und stützenden finanzpolitischen Maßnahmen der USA verbunden. Mit Gespür für die veränderte Situation begriff ein Teil der bayerischen Rechten, dass unter Deutschlands ökonomisch Mächtigen und politisch Herrschenden sich jene Richtung durchgesetzt hatte, die eine parlamentarische Staatsform für unentbehrlich und vorläufig lediglich graduelle Veränderungen am politischen Herrschaftssystem für erreichbar hielt. Kahr, Lossow und Seißer eröffneten am 6. November den Führern der vaterländischen Verbände, dass einzig und allein sie das Kommandorecht beanspruchen und jede Eigenmächtigkeit brechen würden. Dies kam einer Distanzierung vom nationalsozialistischen Flügel der Putschistenfront gleich.

Terroristische Generalprobe

Die Führung der NSDAP versuchte dennoch am 8. November 1923 vollendete Tatsachen zu schaffen. Angesichts der für sie ungünstigen Entwicklung wollte sie wenigstens retten, was zu retten war. Sie befürchtete auch, ihre aufgeputschten Anhänger nicht mehr bei der Fahne halten zu können, und sorgte sich um den drohenden Zerfall der so mühsam unter ihrem Kommando formierten »Kampfbund«-Einheiten. Hitler drang an der Spitze einer bewaffneten SA-Formation in den Münchener Bürgerbräukeller ein, wo Kahr gerade eine programmatische Rede halten wollte. Mit ausgesprochenem Sinn für theatralische Effekte verkündete der NSDAP-Führer nach einer kurzen Beratung im Nebenzimmer (und einer Versammlungspause, in der Göring die erregten Teilnehmer unter anderem mit dem Argument beruhigte, die Bayern würden auch künftig ihr Bier bekommen!) den Beginn einer »nationalen Revolution« und die Bildung einer neuen Reichsregierung. Dieser würden außer ihm auch Ludendorff, Kahr, Lossow, Seißer und Feder angehören. Die Verantwortlichen für die Revolution von 1918/19 – wüst als »Novemberverbrecher« beschimpft – sollten vor ein Gericht gestellt und innerhalb von drei Stunden hingerichtet werden. »Tumultuarisches begeistertes Geschrei« und das Deutschlandlied gellten danach durch den Saal. Nach anfänglicher und erzwungener Zustimmung zogen sich Kahr, Lossow und Seißer jedoch in der Nacht von diesem Unternehmen zurück und wandten sich gegen den Putsch. Die Verbrüderungsszene mit den Nationalsozialisten und die Anerkennung einer Reichskanzlerschaft Hitlers vergaßen sie rasch. Kahr wechselte die Front und erklärte die NSDAP und den »Kampfbund« für aufgelöst; zugleich verbot er – ohne jede Begründung – ebenfalls die KPD. Aus anderen bayerischen Garnisonen wurden Reichswehreinheiten nach München beordert.

In der Nacht vom 8. zum 9. November 1923 gaben die Putschisten eine Probe ihres propagandistischen und terroristischen »Könnens«. Aus der Kasse einer Buchdruckerei »besorgten« sie sich Sold für die SA-Leute. Der »Stoßtrupp Hitler« stürmte und verwüstete auf Görings Befehl das Verlagsgebäude der sozialdemokratischen Münchener Post. Unter Leitung Röhms besetzte eine Gruppe das Wehrkreiskommando. Rudolf Heß organisierte die Geiselnahme und Bewachung von Mitgliedern der bayerischen Regierung und des Münchener Stadtrates. Wahllos wurden vor allem jüdische Bürger verhaftet. In blinder Hoffnung glaubte Hitler – darin von Ludendorff nachhaltig unterstützt – noch immer, durch den ohne Erfolgsaussicht begonnenen Putsch eine Wende erzwingen zu können. Er befahl seine Anhänger für die späten Vormittagsstunden des 9. November zu einem »Erkundungs- und Demonstrationsmarsch« durch die Münchener Innenstadt. Eine Polizeisperre konnte den Zug zunächst nicht aufhalten; beim ersten Schuss, so drohte Göring, werde man die inhaftierten Geiseln erschießen. Als die SA-Leute und Mitglieder des »Bundes Oberland« das Regierungsviertel erreichten, fiel ein Schuss, dem für etwa eine Minute ein heftiger Feuerwechsel folgte. Bei der Feldherrnhalle – einem zum Ruhme Wittelsbacher Heerführer erbauten klassizistischen Gebäude – stoppten einige Salven der hier aufmarschierten Landespolizei die vordringenden Putschisten endgültig. 16 Mitglieder der NSDAP und drei Polizisten lagen tot oder sterbend auf der Straße. Ludendorff, Drexler, Frick und einige wenige ließen sich an Ort und Stelle verhaften. Eilig zerstreuten sich die etwa 3.000 Faschisten, die sich am Marsch beteiligt hatten. Mancher stob in wilder Flucht davon. Auch hierin sollte sich der um seine eigene Rettung bemühte Hitler als »Führer« erweisen. Zunächst konnte er sich in einem Landhaus der befreundeten Familie Hanfstaengl verbergen, bevor er am 11. November verhaftet wurde. Göring, Esser, Feder, Berchthold und andere flüchteten ins Ausland.

Die Parteigeschichtsschreibung, die dem fehlgeschlagenen Staatsstreich stets einen zentralen Platz in ihrer heroisierenden Selbstdarstellung einräumte, konstruierte so manche Legende und fälschte viele Details des Geschehens, um Abenteuerlichkeit und Dilettantismus vergessen zu machen. Das braune Regime feierte später die Toten als »Blutopfer« und »Helden der Bewegung«. Ihrer wurde regelmäßig und in düsterem Pomp gedacht. Ausgezogen, nach Berlin zu marschieren und die Macht zu erobern, kamen die Putschisten am 5. Jahrestag der Novemberrevolution nicht weit. Die Endstation hieß: Feldherrnhalle. Vorläufig.

Der obenstehende Text ist ein Nachdruck aus Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker: Geschichte der NSDAP 1929 bis 1945, Köln: Papyrossa-Verlag 2009, 3., verb. u. erg. Aufl., S. 79–86.

Kurt Pätzold schrieb für diese Zeitung zahlreiche Artikel und Aufsätze, vornehmlich zur Geschichte des Faschismus. Er starb am 18. August 2016.

Manfred Weißbecker rezensierte an dieser Stelle am 6. November 2023 das Buch »›Stets korrekt und human‹. Der Umgang der westdeutschen Justiz mit dem NS-Völkermord an den Sinti und Roma« von Ulrich Friedrich Opfermann. Im Papyrossa-Verlag erschien von ihm zuletzt der Sammelband »Noch einmal über die Bücher gehen. Texte aus einem geteilten Historikerleben«, Köln 2020, 468 Seiten, 32 Euro

Immer noch kein Abo?

Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in René B. aus Greifswald (11. November 2023 um 19:34 Uhr)
    Es ist immer wieder betrüblich, dass Autoren, die bestimmt etwas relevantes zu sagen haben, kein freundliches Lektorat zuteil wird. Was genau soll ich mir unter »der zum Teil schon völlig uniformierten SA« vorstellen? Manche haben eine komplette Uniform, anderen fehlt ein Knopf? Da ich mit Phantasie geschlagen bin, habe ich durchaus Ideen dazu, was die Autoren damit tatsächlich gemeint haben könnten. Wieso wurden sie nicht freundlich gebeten, ihr tatsächliches Meinen auch tatsächlich aufzuschreiben? Bei dieser Gelegenheit: es muss doch wirklich nicht sein, dass diese Zeitung, die ich als meine Tageszeitung auch dann jeden Tag haben möchte, wenn ich nicht mit allen Einschätzungen d'accord bin, die allerdümmsten Logikfehler sprachlich regelrecht kultiviert: www.jungewelt.de/artikel/200526.nichts-weniger-als-die-revolution.html »Es ging es um nichts weniger als die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks« in www.jungewelt.de/artikel/458543.%C3%B6ffentlich-rechtlicher-rundfunk-kulturfreie-zone-ein-abend-mit-dem-ard-chef-in-berlin.html NichtS weniger … Gesagt wird im ersten verlinkten Beitrag, dass es nichtS gibt, was die Protagonisten weniger wollen als die Revolution. Demnach wollen sie also absolut alles, nur keine Revolution. Ich hege die Vermutung, dass sie »nicht weniger« als die Revolution meinten. Aber vielleicht liegt in der Formulierung bezogen auf die Beschriebenen auch eine tiefere Wahrheit. Bei www.jungewelt.de/artikel/57350.peter-hacks-war-ein-klassiker-nichts-weniger.html hat es einen gewissen inhaltlichen Charme. Herzliche Grüße, René Bartsch.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. November 2023 um 23:39 Uhr)
    Der Bierkellerputsch, der sich in der Nacht vom 8. zum 9. November 1923 in München ereignete, war ein erfolgloser Versuch von Adolf Hitler und Erich Ludendorff, die Weimarer Republik zu stürzen und eine nationale Revolution zu starten. Die politische Lage in Deutschland zu dieser Zeit war instabil, und rechtsextreme Kräfte gewannen an Einfluss. Die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) erhielt finanzielle Unterstützung von wohlhabenden Kreisen, darunter Großbürger und mittelständische Unternehmer. Dies ermöglichte es der NSDAP, ihre Aktivitäten zu intensivieren. Während des Putsches versuchten die Putschisten, die Kontrolle über die bayerische Regierung zu übernehmen. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, darunter die Besetzung des Wehrkreiskommandos und die Geiselnahme von Mitgliedern der bayerischen Regierung und des Münchener Stadtrates. Es wurden auch politische Gegner willkürlich verhaftet, vor allem jüdische Bürger. Der Hitler-Ludendorff-Putsch war ein Misserfolg, aber er half, Hitler national bekannt zu machen. Nach seiner Verhaftung wurde Hitler vor Gericht gestellt, wo er seine politischen Ansichten propagierte und eine vergleichsweise milde Strafe erhielt. Der Putsch hatte weitreichende Auswirkungen auf die politische Landschaft in Deutschland und trug zur späteren Machtergreifung der Nationalsozialisten bei.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (13. November 2023 um 14:14 Uhr)
      »Die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) erhielt finanzielle Unterstützung von wohlhabenden Kreisen, darunter Großbürger und mittelständische Unternehmer.« Ich frage mich, warum Sie so liebevoll die Selbstbezeichnung der Nazis erklären. Das dürfte den meisten Lesern bekannt sein. Dass die Nazis mit Sozialismus nichts am Hut hatten, sieht man schon an ihren Sponsoren. »Sozialistisch« in den Parteinamen einzubauen, war ein wahltaktisches Manöver, um der KPD Stimmen abzujagen. Zum Schluss sprechen Sie noch von »Machtergreifung«, statt von Machtübertragung und wieder von »Nationalsozialisten«. Es gibt ja das Gerücht, dass Autoren von Schulbüchern (BRD) mit Entlassung gedroht wurde, wenn sie Faschismus statt Nationalsozialismus schreiben.

Ähnliche: