EU macht Dampf
Von Reinhard Lauterbach
Die EU-Kommission will nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters an diesem Mittwoch beschließen, Beitrittsgespräche mit der Ukraine und Moldau zu empfehlen. Eine solche Empfehlung müsste zwar noch vom Gipfel der Staats- und Regierungschefs im Dezember bestätigt werden, das dürfte aber eher eine Formsache werden. Damit könnten Beitrittsgespräche Anfang 2024 beginnen. EU-Ratspräsident Charles Michel hatte schon vor einiger Zeit die Parole ausgegeben, die Ukraine könne »bis 2030« Mitglied werden. Bei einem Besuch in Kiew in der vergangenen Woche hatte auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen der Ukraine »große Fortschritte« bei der Angleichung ihres Rechts- und Verfassungssystems an die EU-Standards bescheinigt.
Faktisch ergänzen sich die Beschleunigung der Beitrittsgespräche mit Kiew durch die EU und die Skepsis, die vor allem in den USA und Großbritannien bezüglich der ukrainischen Siegeschancen lautgeworden ist. Für die Ukraine wäre eine Beitrittsperspektive ein Trostpflaster für mögliche Gebietsverluste, auf die sich Kiew bei einem eventuellen Waffenstillstand wahrscheinlich einlassen müsste. Eine Mitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union war eine der Ausgangsforderungen des sogenannten Euromaidans gewesen, der vor fast zehn Jahren den prowestlichen Staatsstreich in Kiew vorbereitet hatte.
Ein solcher Neuzugang wird das Staatenbündnis stark verändern. Vorschläge aus dem EU-Parlament zu einer Reform der Gründungsverträge in Richtung einer weiteren Einschränkung des Einstimmigkeitsprinzips sind das eine Element, das mit dieser Situation begründet wird. Unabhängig davon, ob diese Vorschläge letztlich umgesetzt werden, wird sich das ganze finanzielle Gefüge der EU mit ihrem Labyrinth von Ausgleichszahlungen völlig umstellen. Auf einen Schlag würden sämtliche 27 bisherigen Mitgliedstaaten zu Nettozahlern des EU-Budgets, da die Ukraine auf viele Jahre alles Geld verschlingen würde, das Brüssel übrig hätte. Die Kommission verlangt daher bereits, den Haushaltsrahmen für die EU deutlich zu erhöhen – entweder in Gestalt höherer Beiträge der Mitgliedstaaten oder durch die Zuweisung eigener Steuereinnahmen.
Ein solches Szenario entspricht, wie in den USA über die geopolitischen Folgen des Ukraine-Kriegs gedacht wird: Viele Thinktanks raten den USA, sich auf die Bekämpfung Chinas und die Beherrschung des pazifischen Raums zu konzentrieren und die Sanierung der Ukraine »Europa« zu überlassen. Dass die EU durch die Integration der Ukraine langfristig geschwächt und damit als Konkurrent für die USA nicht mehr relevant würde, wird wohl gern mitgenommen. Ein Aspekt dieser Schwächung kann eine Erosion des Rückhalts für die EU in den Ländern sein, die bisher besonders von den EU-Zahlungen profitiert haben. Ein Beispiel ist gerade auf lokaler Ebene in Polen zu beobachten. Seit einigen Tagen protestieren polnische Lkw-Fahrer mit Blockaden an drei Grenzübergängen zur Ukraine dagegen, dass ukrainische Speditionen ihnen den Frachtverkehr in die Ukraine durch Billigkonkurrenz weitestgehend entrissen haben. Die ukrainischen Firmen versuchen damit dieselbe Konkurrenzmethode zu kopieren, mit deren Hilfe sich polnische Unternehmen seit 2004 ein Viertel des ganzen Markts für Straßentransporte in der EU unter den Nagel gerissen haben. Um welchen Preis, das haben die Proteste osteuropäischer Subunternehmer polnischer Speditionen in Südhessen im Frühjahr und Sommer öffentlich gemacht.
Immer noch kein Abo?
Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (8. November 2023 um 16:38 Uhr)Die EU verfolgt ein bestechend logisches Konzept: Sie fasst immer neue wirtschaftlich Schwache zusammen, um stärker zu werden. Schließlich gießt man ja auch ganz viel Wasser in die Suppe, damit sie dicker wird. Ist wahrscheinlich ein Brüsseler Geheimrezept.
-
Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (8. November 2023 um 10:39 Uhr)Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger: »Es gibt nichts Neues unter Sonne.« Zur Erinnerung: Es gab es einmal das Heilige Römische Reich (später mit dem Zusatz: Deutscher Nation). Es entstand um 1200 und wurde in der Geschichtsschreibung gleich als heilig aufs Papier gebracht. Dessen Kaiser musste gewählt werde und so kam es auch dazu, dass die sehr klugen Reichs- und Kurfürsten möglichst einen sehr schwachen Kaiser wählten, um ihre eigenen »Freiheit« zu sichern. Heute haben wir es ähnlich: auf dem Papier gibt es eine schwache, nicht selbstständige EU und die eher bestimmenden Nationalstaaten mit einem Einstimmigkeitsprinzip als gültiges Abstimmungsverfahren, was das Leben nicht gerade leichter macht. (…) Im Prinzip beruht die EU auf der deutschen Wirtschaftsleistung. Politisch sieht es ganz anders aus, hier sind eindeutig bestimmend die NATO und deren Oberbefehlshaber. Die EU wurde aber in einer Sackgasse geführt, durch den US-Oberbefehlshaber der NATO-Strategie! Dies mündete in einem Krieg in der Ukraine, auf den selbstschadende EU-Sanktionen folgten, und als ob das noch nicht genug wäre, wurden auch noch die Nord-Stream-Pipelines gesprengt. Die deutsche Wirtschaftsleistung bricht ein, eine zukünftige EU-Finanzierung auf dem bisherigen Niveau ist nicht mehr gewährleistet, käme dazu noch der Wiederaufbau der Ukraine dazu. Die Führung der EU will nach politischem Befehl aus Washington Dampf machen, jedoch werden sie sich als lahme Enten entpuppen, wenn zukünftig nicht mehr genügend Geld vorhanden ist. Entweder alles ist nur Show, oder die EU steht vor unüberbrückbaren Aufgaben und vor einer Zerreißungsprobe.
Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:
Ähnliche:
- ZUMA Press/imago07.02.2023
Die Achsenmacher
- Wladimir Smirnow/dpa-Bildfunk16.08.2016
Ostseepipeline ausgebremst
- wikimedia.org/Commons/CC BY-SA 2.530.09.2015
Rotlicht: Normandie-Format
Mehr aus: Schwerpunkt
-
Drohnen sollen’s richten
vom 08.11.2023