Hunderttausende wohnungslos
Von David Maiwald
Mindestens 607.000 Menschen in der BRD sind wohnungslos – mehr als insgesamt in Dortmund leben. Bei dieser am Dienstag vorgestellten Gesamtzahl für das Jahr 2022 geht die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe zudem davon aus, dass etwa 50.000 besagter Wohnungsloser »ganz ohne Unterkunft auf der Straße« leben, also obdachlos sind.
Die Jahresgesamtzahl der Wohnungslosen in der BRD hat sich demnach von 383.000 im Jahr 2021 beinahe verdoppelt. Dies sei vor allem auf die Zunahme von Geflüchteten, insbesondere vor dem Ukraine-Krieg, zurückzuführen. Die statistische Unterscheidung in Wohnungslose mit deutscher Staatsangehörigkeit zeigt einen Anstieg von fünf Prozent, während die Zahl der Wohnungslosen ohne deutsche Staatsangehörigkeit um 118 Prozent drastisch gestiegen ist. Geflüchtete im Asylverfahren, mit Duldung oder Fiktionsbescheinigung, sind darin – wenn auch faktisch wohnungslos – nicht einmal erfasst.
»Armut, Wohnungsmangel, Flucht«, fasst die BAG die Gründe für Wohnungslosigkeit in der BRD zusammen. Mehr als die Hälfte (57 Prozent) verlieren ihre Wohnung durch Kündigung. Zudem sind Schulden bei Miete und Energiekosten (21 Prozent), »Konflikte im Wohnumfeld« (20 Prozent) und Trennung oder Scheidung (16 Prozent) genannt. Die Mehrheit der nichtdeutschen Wohnungslosen hatte zuvor nie in einer Wohnung in der BRD gewohnt, erklärte die Bundesarbeitsgemeinschaft. Steigende Lebenshaltungskosten durch Preisanhebungen bei Energie und Lebensmitteln sowie Mietsteigerungen belasteten insbesondere Haushalte mit geringerem Einkommen, erklärte BAG-Vorsitzende Werena Rosenke.
Gleichzeitig verschärft sich die Wohnungsnot hierzulande von Jahr zu Jahr. Von beinahe vier Millionen Sozialwohnungen in der Bonner Republik ist der Bestand Ende 2022 auf knapp eine Million zusammengeschmolzen, hatte eine Antwort des Bundesbauministeriums auf eine Anfrage der Linke-Abgeordneten Caren Lay ergeben. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Baukostenkrise werde die Ampelregierung das jährliche Ziel von 400.000 Wohnungen – 100.000 öffentlich gefördert – »bis 2025 mit Sicherheit nicht erreichen«, sagte Rosenke auf jW-Nachfrage. Sie wolle den »Nationalen Aktionsplan« der Ampel gegen Wohnungslosigkeit aber »keineswegs abschreiben«.
In den vergangenen Jahren sei viel gebaut worden: »Allerdings nur im hochpreisigen Segment.« Zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit bis 2030 fordert die BAG daher jährlich »weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen«. Zudem brauche es einen Bestand mit dauerhafter Sozialbindung, wofür die »Neue Wohngemeinnützigkeit« (eine für 2024 vereinbarte Kombination aus Steuererleichterungen und öffentlicher Förderung) sorgen soll. Es ließen sich zudem Wohnungen erschließen, könnten die im Bürgergeldbezug enthaltenen »Kosten der Unterkunft« (KdU) bei wohnungslosen Haushalten »deutlich überschritten werden«, befand die BAG.
Doch hier wird gekürzt. Bundesmittel für »Leistungen für Unterkunft und Heizung« – im Jahr 2022 immerhin 68,8 Prozent der KdU – sollen im Jahr 2024 um 700 Millionen Euro sinken. Es ist zu befürchten, dass die Kommunen diese dann eher restriktiv statt flexibel handhaben. Für Wohnungslose und von Wohnungsverlust Bedrohte werde sich die Situation dann »weiter zuspitzen«, sagte Rosenke zu jW. Wer bereits Mietschulden habe, oder sich die nächste Erhöhung absehbar nicht leisten könne, bekomme bei gedeckelten Kosten der Unterkunft »vermutlich keine Alternative«.
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Entscheidend waren damals drei Voraussetzungen. Durch eine umsichtige Baulandpolitik konnten die Kommunen Bauland zur Verfügung stellen. Hinzu kamen finanzielle Förderungen. Vor allem aus Mitteln der sogenannten Hauszinssteuer. Erhoben wurde sie von den Hausbesitzern, deren Hypotheken- und Kreditschulden die Inflation getilgt hatte. Bis zu 40 Prozent der Baukosten wurden durch sie finanziert. In den besten Jahren – 1928,1929,1930 – konnten so jeweils 300.000 Wohnungen errichtet werden. Die Hälfte durch die öffentliche Hand und gemeinnützige Unternehmen – zu erschwinglichen Mieten, da gemeinwohlorientiert und nicht profitfixiert!
Bereitstellung von Bauland aus öffentlichem Besitz und Realisierung durch gemeinnützige Bauträger wären auch heute vorstellbar. Und die Wohnungsunternehmen, die in den vergangenen Jahrzehnten durch Subventionen, öffentliche Zuschüsse und Steuererleichterungen auf Kosten der Allgemeinheit Vorteile erlangt haben, sollten bei Mietsteigerungen einen prozentualen Anteil dieser Erhöhung der Allgemeinheit zurückgeben. Ohne die öffentlichen Haushalte zu belasten, könnten diese Mittel für den sozialen Wohnungsbau eingesetzt werden. Sie kämen so den unteren Einkommensschichten zu Gute und wären wie die Hauszinssteuer von 1924 eine Maßnahme ausgleichender Gerechtigkeit. Wie vor hundert Jahren ist die Lösung des Wohnungsproblems eine Frage des politischen Willens.