Auf Verschleiß
Von Suitbert Cechura
Der Bundesgesundheitsminister ist zuständig für die Volksgesundheit, die nicht überwiegend durch Viren oder Bakterien bedroht ist: Die vorherrschenden Krankheiten sind sogenannte nicht übertragbare Erkrankungen oder Zivilisationskrankheiten. So vermeldet der AOK-»Fehlzeitenreport« vom 18.10.2023: »Anhaltend hohe arbeitsbezogene Beschwerden und stetig steigende Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen«. Das Wissenschaftliche Institut der AOK berichtet: »Die Beschäftigten, die die Zukunftsfähigkeit ihrer Organisation oder ihres Betriebes positiv bewerten, (fehlten) nach eigenen Angaben in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung im Schnitt 11,6 Tage erkrankungsbedingt an ihrem Arbeitsplatz. Bei den Beschäftigten, die die Zukunftsfähigkeit schlechter beurteilen, waren es dagegen 16,2 Tage.«
Bedrängnisse der Lohnarbeit
Was sich in den Ergebnissen dieser Befragung ausdrückt, ist die Abhängigkeit der Beschäftigten von der Lage ihres Betriebes, hier soziologisch gefasst als Zukunftsfähigkeit, ganz so, als ob die Zeit und nicht die Konkurrenz die Existenz vieler Menschen unsicher und diese damit auch krank macht. So ist immer wieder viel vom Stress nicht nur in der Arbeit, sondern auch im Privatleben die Rede, der die Menschen krank werden lässt und dazu führt, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht nur an der Spitze der Krankheits-, sondern auch der Todesfälle stehen. Dabei ist es die Form der Arbeit, die die Menschen fertigmacht, viele erholen sich ja bei der Gartenarbeit. Es ist die Art und Weise der Arbeit, die das Leben der Menschen bestimmt. Kaum noch jemand will von Lohnarbeit reden, selbst Gewerkschaftler sprechen nur noch von Entgelt, doch der Sachverhalt bleibt derselbe. Schließlich muss die Mehrheit der Bürger im Lande sich als Arbeitskraft verdingen, weil sie über nichts außer sich selbst verfügen. Eine Arbeitsstelle gibt es für »Arbeitnehmer« nur, wenn sich die Ausgabe für Lohn oder Gehalt für den »Arbeitgeber« lohnt, also möglichst viel Leistung für möglichst wenig Geld zu haben ist. Deshalb belasten die Arbeitsbedingungen die Menschen in einem Maße, dass Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Rückenbeschwerden Volkskrankheiten sind.
Doch nicht nur die Belastungen des Alltags schädigen die Menschen. Sie sind zudem einer Vielzahl von Giften und Strahlungen ausgesetzt, die sich ebenfalls in der Krankenstatistik niederschlagen. Sie wirken über den Feinstaub in der Luft, über Pestizid-, Herbizid- und Fungizidrückstände in der Nahrung, über Weichmacher in der Kleidung etc. auf den Organismus ein. Zwar gibt es für viele Gifte gesetzliche Grenzwerte, die eine akute Vergiftung verhindern sollen. Diese aber werden lediglich für die einzelnen Gifte ermittelt, wohingegen die Bürger ständig ganzen Cocktails ausgesetzt sind. So ist es nicht verwunderlich, dass die Krebserkrankungen an der zweiten Stelle der Todesursachen rangieren, wobei man nie sagen kann, welches der vielen aufgenommenen Gifte nun die Ursache darstellt.
Neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen und Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats durch einseitige und hohe Belastungen gelten Asthma und Allergien sowie die psychischen Erkrankungen zum Kreis der Zivilisationskrankheiten. Die wachsende Zahl an psychischen Erkrankungen macht deutlich, dass zu den körperlichen Beanspruchungen auch der Wille der Menschen gefragt ist, diese Belastungen auszuhalten und sich immer wieder den Anforderungen der Konkurrenz zu stellen. In einer Gesellschaft, in der die Ideologie vorherrscht, dass jeder seines Glückes Schmied sei, obgleich andere über Noten in Schule oder über die Vergabe von Arbeitsplätzen entscheiden, ist es wenig verwunderlich, dass sich so mancher für einen Versager hält und Depressionen bekommt.
Die Gesundheitspolitik ist neben somatischen und psychischen Störungen mit dem Sachverhalt konfrontiert, dass viele Menschen die Belastungen des Alltags nur mit Drogen aushalten wollen oder sich mit Drogen von diesen Anforderungen verabschieden. So ist Alkohol die Volksdroge Nummer eins, die so lange kein Problem für die Gesundheitspolitiker darstellt, wie der Konsum nicht die Arbeitsfähigkeit der Menschen beeinträchtigt. Schließlich geht es der Gesundheitspolitik nicht darum, dass jeder Bürger gesund bleibt. Vielmehr zielt die Pflege der Volksgesundheit auf die Funktionsfähigkeit der Bürger für die verschiedenen Tätigkeiten, seien es Arbeit im Betrieb, Lehre in der Schule oder Spekulation an der Börse. Solange diese Funktionsfähigkeit im großen und ganzen gewährleistet ist, kann auch die Schädigung eines Teiles der Bevölkerung in Kauf genommen werden.
Dass die Menschen sich durch den Konsum von Drogen selbst schädigen, um die Belastungen des Alltags auszuhalten, ist immer wieder Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Der Versuch, Alkohol staatlicherseits zu verbieten, ist nicht gelungen und hat der Kriminalität einen Aufschwung gebracht. Mit dem Cannabiskonsum großer Teile der Bevölkerung hat die Gesundheitspolitik nun ein ähnliches Problem. Die Politik hat sich beim Verbot von Cannabis lange Zeit mit der Begründung des Verbots schwergetan, denn der Konsum führt nicht zur Abhängigkeit und hat weniger gesundheitsschädigende Wirkung als der erlaubte Konsum von Zigaretten oder Alkohol. Begründet wurde das Verbot damit, dass Cannabis eine Einsteigerdroge sei, die Konsumenten also gefährdet seien, auf härtere Drogen umzusteigen. Eine Begründung, die auf wackeligen Füßen stand. So haben viele in ihrer Jugend gekifft, ohne dass sie deshalb abhängig wurden. Es gab allerdings auch Gegenbeispiele.
Der Wille, sich den Anforderungen der Konkurrenz in Schule, Ausbildung oder Arbeit zu stellen, ist ein Sorgeobjekt der Gesundheitspolitik. Und wenn der Konsum von Rauschmitteln durch ein Verbot nicht zu stoppen ist, dann braucht es den kontrollierten Anbau und den beschränkten Konsum, um die Kontrolle durch den Staat wiederzuerlangen, die mit dem neuen Gesetz gewährleistet werden soll.
Gesundheit als Kostenfaktor
Wie alles in dieser Gesellschaft kosten auch die Aufwendungen für die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Bevölkerung trotz beständiger Schädigung durch den kapitalistischen Alltag Geld, das aufgebracht werden will. In die Pflicht genommen werden in erster Linie die Betroffenen selbst durch die gesetzliche Krankenversicherung. Die Aufwendungen für die Gesunderhaltung übersteigen bei abhängig Beschäftigten deren finanzielle Möglichkeiten zur Vorsorge für den Krankheitsfall. Deshalb hat der Gesetzgeber die gesamte Klasse der abhängig Beschäftigten in die Pflicht genommen, gegenseitig füreinander aufzukommen in Form von Zwangsversicherungen, die er zu »Solidargemeinschaften« erklärt hat, obwohl es sich nicht um freiwillige Zusammenschlüsse handelt. Formal werden auch die »Arbeitgeber« in die Pflicht genommen und der Beitrag paritätisch aufgeteilt. In der Rechnungsweise des Kapitals tauchen aber beide Teile als Bestandteil der Lohnkosten auf, auch wenn diese unterschiedlich benannt werden, zum Beispiel als Lohnnebenkosten. Dennoch sind es notwendige Kosten zum Erhalt der Arbeitskraft. Unabhängig von der Bezeichnung belastet die Höhe der Lohnkosten die Gewinnrechnung der Unternehmen, erhöhen sie doch den Vorschuss, der getätigt werden muss, um einen Gewinn erzielen zu können.
Da von der Gewinnrechnung der Unternehmen in diesem Lande alles abhängig gemacht ist, was sich in den Medien und der Politik an dem ständigen Interesse am Wirtschaftswachstum und seinem Gelingen ausdrückt, sind diese Kosten gering zu halten. Selbst die Zusammenfassung aller Beiträge aus den Lohnkosten kann die notwendigen Aufwendungen für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Bürger nicht abdecken. Also ist auch der Staat gefordert, mit Zuschüssen und Investitionen aus Steuermitteln seinen Beitrag zu leisten. Das belastet die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden. Von dieser Seite besteht daher ein Interesse, die Kosten für die Volksgesundheit zu beschränken auf das immer neu festzustellende notwendige Maß.
In Deutschland sind durch die Politik die Kosten für die Volksgesundheit zu einer eigenen Geschäftssphäre gemacht worden. So soll aus den Kosten eine Gewinn- und damit eine neue Steuereinnahmequelle geschaffen werden. Eine Geschäftssphäre, die wachsen und blühen soll und die inzwischen 12,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes umfasst. Nach Auskunft des Bundeswirtschaftsministeriums ist dort jeder sechste Erwerbstätige beschäftigt, 645 Milliarden Euro werden erwirtschaftet. Das Gesundheitswesen wird aber finanziert auf Kosten des Rests der Gesellschaft. Womit sich die Politik einen Widerspruch eingehandelt hat: Ständig muss sie darauf achten, einerseits die Kosten für Staat und Wirtschaft nicht zu hoch werden zu lassen, andererseits das Wachstum der Gesundheitsindustrie nicht zu sehr zu beschränken.
Doch das ist nicht der einzige Widerspruch, den sich die Gesundheitspolitik mit der Einrichtung des Gesundheitswesens als Geschäftssphäre eingehandelt hat: Das Interesse am Gewinn oder an einem hohen Einkommen ist nicht identisch mit dem Interesse an einer möglichst guten Gesundheitsversorgung der Bürger. Schließlich ist diese nur das Mittel, um an möglichst viel Geld zu kommen. Insofern besteht von den Akteuren im Gesundheitssystem immer nur ein bedingtes Interesse an einer guten Gesundheitsversorgung. Die Aufgabe der Gesundheitspolitiker besteht daher beständig darin, diese besondere Geschäftssphäre zu betreuen, indem sie die Finanzierung als Anreizsystem gestaltet, das die Akteure dazu bewegen soll, nicht nur für ihren Geldbeutel, sondern auch für die Funktionsfähigkeit der Bürger zu sorgen.
Damit die Bürger, die ihren ständigen Verschleiß hinnehmen, ihre Gesundheit aber nicht durch eigene Aktivitäten weiter ruinieren, gibt es auch eine eigene Propagandaabteilung des Ministeriums, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die sich meist mit ihren Mahnungen für eine gesunde Lebensführung nicht direkt an die Bürger wendet, sondern die Erzieher der Nation in Form von Lehrern und Journalisten mit dem entsprechenden Material versorgt.
Big Pharma und Apotheken
Die Liste derer, die an der Gesundheit der Bevölkerung verdienen wollen und auch sollen, ist umfangreich. Da ist zum einen die Pharmaindustrie, die mit ihren Medikamenten die Grundlagen für die medizinische Versorgung schafft. Als Anreiz zur Erforschung neuer Medikamente für den medizinischen Fortschritt und den Erfolg dieses Wirtschaftszweiges weltweit stellt der Staat die Ergebnisse ihrer Forschung nicht nur unter Patentschutz und schafft so die Vorbedingung, um aus diesen Ergebnissen ein Geschäft zu machen, sondern er räumt ihnen auch für die erste Phase des Verkaufs Monopolpreise ein. Geforscht wird vor allem im Bereich der Volkskrankheiten und epidemischen Erkrankungen, weswegen im Rahmen der EU besondere Anreize für die Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung seltener Erkrankungen geschaffen wurden.
Mit Antibiotika und Impfungen können Erkrankungen durch Bakterien und Viren bekämpft werden. Aber nicht wenige Antibiotika haben ihre Wirkung durch den massenhaften Einsatz vor allem in der Viehhaltung weitgehend verloren. Die Erforschung neuer Medikamente gestaltet sich immer schwieriger und damit teurer, weswegen nicht wenige Pharmafirmen diesen Bereich aufgegeben haben. Der Markt für Antibiotika für Kinder ist wesentlich kleiner, Monopolpreise nach Auslaufen der Patente sind nicht zu erzielen – und so zeigen sich ständig Versorgungsengpässe, denen der Gesundheitsminister mit seinem Fünfpunkteplan zur Sicherung mit Kinderarzneimitteln im Herbst/Winter 2023/24 begegnen will: Ärzte müssen nicht mehr das billigste Mittel verschreiben, Apotheker dürfen bei fehlendem Mittel dieses durch ein anderes ersetzen, und die Preisbeschränkung auf Kinderarzneimittel wird ausgesetzt. So wird der finanzielle Anreiz für die Pharmafirmen geschaffen, wieder durch die Herstellung von Kinderarzneimitteln Geld zu verdienen.
Die Zivilisationskrankheiten sind mit Medikamenten nicht zu heilen, die Schädigungen können allenfalls gelindert, eingeschränkt oder gemildert werden. Kaputte Gelenke kann man zwar inzwischen austauschen und durch Ersatzteile ersetzen, geschädigte Blutgefäße allerdings ebensowenig wie eine durch Gifte oder Strahlungen ausgelöste Wucherung von Zellen. Das schafft zum einen einen umfangreichen Massenmarkt für Medikamente, aber auch einen Markt für Scharlatane, die aus der Enttäuschung über die Wirkungen der Schulmedizin ein Geschäft machen. Auf dem Markt für Medikamente gegen die Folgen der Volkskrankheiten gibt es wenige Neuentdeckungen. Zwar haben viele Firmen versucht, die auslaufenden Patente auf ihre Medikamente durch geringfügige Änderungen zu verlängern und damit weiter hohe Profite zu erzielen. Doch diesen Bestrebungen hat die Gesundheitspolitik durch ihr Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen einen Riegel vorgeschoben. Es prüft die Neuerungen darauf, inwieweit sie einen zusätzlichen Nutzen erbringen, der einen höheren Preis rechtfertigt.
Zur Kostenbegrenzung hat die Gesundheitspolitik Rabattverträge zwischen den Krankenkassen und Pharmafirmen für Medikamente eingeführt, die letzteren einen großen Absatz sichern, wenn sie den Kassen niedrige Kosten garantieren. Die Firmen haben sich darauf eingestellt. Sie haben ihre Produktion weitgehend in Billiglohnländer verlagert, in denen außerdem keine Umweltauflagen die Produktion kostenmäßig belasten. Da die Produktion der Grundstoffe für die Medikamente sich auf wenige Firmen konzentriert, kommt es bei Störungen der Produktion oder der Transportwege zu Lieferengpässen, die inzwischen zum Alltag im Gesundheitswesen gehören. Die Reaktion des Gesundheitsministers darauf besteht darin, bei Abschluss von Rabattverträgen die Pharmafirmen dazu zu verpflichten, einen Teil der Produktion in der EU oder Deutschland stattfinden zu lassen.
Die meisten Medikamente sind wegen ihrer für den Laien nicht immer erkennbaren Wirkung nicht frei käuflich, sondern apothekenpflichtig. Damit kommt den Apothekern eine bedeutsame Rolle im Gesundheitswesen zu. Die Apotheker protestieren zur Zeit, weil die Beratungspauschale seit ihrer Einführung vor elf Jahren trotz erheblicher Preissteigerungen nicht erhöht wurde. Eingeführt wurde diese Pauschale, damit die Beratung ihrer Kunden nicht immer in Richtung des Geldbeutels der Apotheker geht. Denn zuvor waren die Apotheken wie andere Geschäfte auch prozentual am Verkaufspreis beteiligt. Das Interesse der Verkäufer ging von daher in Richtung hochpreisiger Medikamente. Die Beratungsgebühr, die unabhängig von der Höhe des Verkaufspreises ist und so das Einkommen der Apotheken sichern soll, dient dazu, dies einzugrenzen.
Der Minister hat als Entgegenkommen den Apothekern angeboten, dass sie mehrere Apotheken betreiben können. Der Anreiz zur Ausweitung des Geschäfts kommt bei den Apothekern aber gar nicht gut an. Gabriele Regina Owerwiening, Präsidentin der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, sagte anlässlich der Eröffnung des Deutschen Apothekertags am 27. September: »Der Minister hat seine Pläne für das Apothekensystem der Zukunft vorab über die Medien gestreut. Die Vorhaben bedeuten in der Konsequenz die Aufhebung des Mehrbesitzverbotes. Das führt langfristig dazu, dass unser heilberufliches und unabhängiges Apothekensystem den Angriffen von Fremdkapital ausgeliefert wird. Der Minister verfolgt auch tief einschneidende Leistungskürzungen, konkret sollen Filialapotheken zu bloßen Arzneiabgabestellen herabgewürdigt werden. In Filialapotheken, von denen es in Deutschland Tausende gibt, sollen keine Rezepturen und keine Nacht- und Notdienste mehr angeboten werden.«
Angegriffen sehen sich die Apotheker durch die Vorschläge des Ministers in ihrem Status als Angehörige eines Heilberufs, durch den sie sich auf derselben Ebene wie Ärzte befinden. Obwohl sie überwiegend industriell hergestellte Medikamente ausgeben, wollen sie sich nicht auf dem Status von reinen Verkäufern wiederfinden. Bis vor wenigen Jahren musste in jeder Apotheke ein akademisch ausgebildeter Apotheker arbeiten, weil diese in der Lage sind, auf Rezept des Arztes selber Medikamente herzustellen. Dies ist aber nur in wenigen Fällen gefordert, zum Beispiel bei Salben gegen spezielle Hautkrankheiten oder bei Infusionen für Krebspatienten. Die Regelung wurde bereits aufgeweicht, weswegen es bereits Filialapotheken gibt und Apotheker nicht mehr nur als Freiberufler, sondern eben auch als Unternehmer tätig werden können. Damit geraten die selbständigen Apotheker unter den Druck von Kollegen, die sich als reine Unternehmer betätigen.
Patient Krankenhaus
Anders ist dies bei niedergelassenen Ärzten. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat in Bild am Sonntag vom 22. Oktober 2023 angekündigt, dass die Budgetierung der Praxen aufgehoben werden soll. So können Ärzte wieder mehr verdienen, der Arztberuf soll wieder attraktiver gemacht werden. Schließlich fehlen bei vielen in den Ruhestand gehenden niedergelassenen Ärzten die Nachfolger.
Eingeführt wurde das Praxisbudget zur Kostenbegrenzung. Niedergelassene Ärzte rechnen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen nach dem »Einheitlichen Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen« ab. Darin ist festgehalten, was Allgemeinmediziner und was Fachärzte abrechnen dürfen, was die einzelne Leistung kostet. Unterstellt ist dabei ein bestimmter Zeitaufwand. Mit dem Praxisbudget sollten Ärzte nur noch Leistungen abrechnen dürfen, die zeitlich etwa einem Achtstundentag entsprechen. Durch das Budget wurde mithin die Leistungsmenge begrenzt. Begründet wurde dies damit, dass die Ärzte nicht ein Maximum an Leistung erbringen sollen, sondern sie bemüht sein müssten, ein Übermaß an Leistungen zu vermeiden. Das ist jetzt offensichtlich hinfällig, da es darum geht, wieder mehr Mediziner für die Versorgung in der Fläche zu gewinnen. Ärzte sind zudem nicht nur Heiler, sondern auch Gutachter, die Lohnabhängige von der Erfüllung ihrer Pflichten aus dem Arbeitsvertrag befreien können.
Mit seiner Krankenhausreform ist der Gesundheitsminister inzwischen auch weitergekommen. Er hat sich mit seinen Plänen weitgehend durchgesetzt. Mit seinen Ministerkollegen der Länder konnte er sich auf Eckpunkte der Reform einigen, zumal Nordrhein-Westfalen bereits viele von seinen Vorschlägen in die Krankenhausplanung des Landes aufgenommen hatte. Das gemeinsame Ziel besteht darin, die Behandlung der Patienten auf weniger und spezialisiertere Häuser zu konzentrieren. Für die Patienten bedeutet dies längere Wege ins Krankenhaus. Im Falle von Herzinfarkt oder Schlaganfall kann das gefährlich werden, weil es da auf jede Minute ankommt. Außerdem werden die finanziellen Anreize zur Steuerung des Gesundheitswesens neu gesetzt. Die Fallpauschalen, gemäß denen die Krankenhäuser nach Diagnose für eine Behandlung eine feste Summe Geld bekommen, haben ihren Dienst getan. Sie zogen als unerwünschten Effekt Behandlungen nach sich, die nicht dem Patienten, sondern den Krankenhäusern genutzt haben.
Zur Senkung der Liegezeiten in den Krankenhäusern und zur Senkung der Kosten hat diese Form der Bezahlung aber erfolgreich beigetragen. Patienten werden nun schnell entlassen, auch wenn sie noch weiterer Pflege bedürfen, die Personalkosten wurden radikal gesenkt durch Outsourcing von vielen Bereichen wie Krankenhauswäscherei, Putztätigkeiten, Krankenhausküche. In diesen Bereichen wird nun nicht mehr nach öffentlichem Tarif gezahlt, sondern oft nur der Mindestlohn oder nach dem Billigtarif anderer Gewerkschaften. Bereiche wie Radiologie, Labor oder Apotheken wurden in eigenständige Betriebe umgewandelt, ihre Kosten wurden damit nicht nur durch die Patienten der Klinik erwirtschaftet. In der Pflege waren die Kürzungen so radikal, dass das Krankenhaus zum gefährlichen Ort für die Patienten geworden ist. Wenn zum Beispiel Essen von Hilfskräften ausgegeben wird, die nicht darauf achten, ob der Patient selber essen kann oder nicht, dann hängt es an den Angehörigen oder anderen Helfern, ob die Patienten hungern oder nicht.
Als Reaktion auf die häufig auftretenden Missstände in den Kliniken wurden die Kosten für das Personal aus den Fallpauschalen herausgerechnet und entsprechend dem Kostendeckungsprinzip Gegenstand von Budgetverhandlungen mit den Kliniken. Eine Anpassung der Personalkosten an die Inflation oder entsprechend der Tariferhöhungen ist dennoch bis heute nicht erfolgt und treibt die Krankenhausmitarbeiter auf die Straße. Die Herausnahme der Personalkosten aus den Fallpauschalen hat die durch sie geschaffene Personalnot in der Pflege jedoch nicht beseitigt. Deshalb gibt es nun Bestrebungen des Bundesgesundheitsministers, den Pflegeberuf wieder attraktiver zu machen. Zum Beispiel dadurch, dass Studierende in der Pflege in Zukunft eine Vergütung erhalten sollen.
Die neuen finanziellen Anreize für die Kliniken zielen auf eine größere Spezialisierung der Häuser für bestimmte Krankheitsgruppen. Welche Klinik für welche Gruppen zuständig sein soll, wird in den Landeskrankenhausplänen geregelt. Um die entsprechenden Leistungen abrechnen zu können, müssen die Häuser entsprechende Vorleistungen an Personal und Ausstattung erbringen. Dafür erhalten sie eine Vorhaltepauschale, die einen Teil der Kosten abdecken soll. Die anderen Kosten sollen dann durch eine reduzierte Fallpauschale erwirtschaftet werden, womit diese trotz gegenteiliger Meldungen nicht vom Tisch ist. Die Kosten für die Fallpauschale werden um die Aufwendungen für die Vorhaltepauschale gekürzt. Denn mehr Geld wollen die Politiker für die Gesundheit nicht ausgeben, sondern die Spezialisierung soll schließlich auch zu einer Rationalisierung der Behandlungsabläufe beitragen. Ob die Spezialisierung auch zu einer verbesserten Behandlung der Patienten beiträgt, bleibt angesichts der vielfach multimorbiden Patienten fraglich.
Dass die Neuregelung auch zur Schließung einer Reihe von Kliniken führen wird, ist eine ausgemachte Sache. Für diese steht das Angebot im Raum, »Krankenhaus Level II« zu werden: ein Krankenhaus, das nicht mehr unbedingt einen Arzt beschäftigen muss, sondern eine Art Pflegeeinrichtung darstellt. Diese hat Verträge mit Belegärzten, die ambulant operieren, oder mit niedergelassenen Ärzten. Als sektorübergreifende, also die von der Gesundheitspolitik geschaffene Trennung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung überwindende Einrichtung wird diese Art Krankenhaus vom Gesundheitsminister angepriesen. Die anderen Krankenhäuser bekommen wegen des Widerstandes der Länder keine Bezeichnung, auch wenn die Stufung deutlich ist. Neben den »Level-II-Krankenhäusern« gibt es dann die stärker spezialisierten Häuser und dann noch die Universitätskliniken.
Bei aller Reform auf allen Ebenen bleibt den Bürgern eines erhalten: ein ständig stattfindender Gesundheitsverschleiß – und ein geschäftlich organisiertes, staatlich reguliertes Gesundheitswesen, das diesen Verschleiß nicht rückgängig machen kann.
Suitbert Cechura schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12. Juni 2023 über die »Letzte Generation«.
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