Keine Selbstverteidigung
Von Knut Mellenthin
Nach vier Wochen israelischer Luftangriffe auf den Gazastreifen wurde am Montag die Marke von 10.000 Toten überschritten. Darunter mehr als 4.100 Kinder und 2.640 Frauen. Es handelt sich um aktuelle Angaben des Gesundheitsministeriums der dortigen palästinensischen Verwaltung, deren Größenordnung aber von mehreren Unterorganisationen der Vereinten Nationen, darunter dem Kinderhilfswerk UNICEF, bestätigt wird.
Dieser Krieg wird voraussichtlich noch mehrere Monate dauern. So hat es die Regierung in Jerusalem angekündigt, die aufgrund des Vetorechts der USA mit Sicherheit keinen Einspruch des UN-Sicherheitsrats befürchten muss. Die Ausstattung der israelischen Streitkräfte mit Winterkleidung hat begonnen. Was die nasskalte Jahreszeit für Hunderttausende obdachlos gebombte Bewohnerinnen und Bewohner des Gebiets, von denen die Hälfte Kinder und Jugendliche sind, bedeuten wird, ist voraussehbar.
In keiner früheren Militärkampagne in den seit 1967 besetzten Gebieten haben Israels Streitkräfte auch nur annähernd so viele Menschen getötet und verletzt wie in den zurückliegenden vier Wochen. Während der bisher heftigsten und langwierigsten Auseinandersetzungen, der zweiten Intifada, die von September 2000 bis Januar 2005 dauerte, gab es auf palästinensischer Seite zwischen 2.700 und 3.350 Tote.
Westliche Politiker rechtfertigen das großflächige Töten, das hauptsächlich aus der Luft besorgt wird, im absolut erscheinenden Einklang mit der israelischen Regierung als »Selbstverteidigung«. Aber dass es das nicht sein würde, war vom ersten Tag dieses Krieges an offensichtlich, als Premierminister Benjamin Netanjahu verkündete, Israels »Rache« für die am 7. Oktober von palästinensischen »Terroristen« begangenen Verbrechen werde »für Generationen nachklingen«. Verteidigungsminister Joaw Gallant assistierte: An die israelische »Vergeltung« werde die Welt sich »in den nächsten 50 Jahren erinnern«.
Israels »Reaktionen« sind schon immer weit über die Grenzen einer legitimen Selbstverteidigung hinausgegangen. Dass die israelischen »Gegenschläge« krass unverhältnismäßig ausfallen, ist geradezu das dahinterstehende Grundprinzip. Von der gegenwärtigen Kriegführung gegen die Bevölkerung des Gazastreifens versprechen sich Netanjahu und seine Regierung nicht nur eine langanhaltende Abschreckung, die auch auf die schiitische Hisbollah im Libanon und auf den Iran wirken soll, sondern zugleich eine dauerhafte Niederlage der Palästinenser, die ihnen jede Hoffnung auf das Erreichen eines eigenen Staates austreiben soll.
Israel folgt diesem zynischen Rezept seit der Staatsgründung vor mehr als 75 Jahren. Das Ergebnis der gegenwärtigen Militärkampagne werden eine weitere Verhärtung der palästinensischen Positionen und eine breite Verachtung des zionistischen Staates durch den »globalen Süden« sein.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (8. November 2023 um 12:25 Uhr)Die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist im Krieg oft nicht klar. 1. Verhältnis Aufwand zu Effekt: Militärisch ineffektive Maßnahmen sind verboten, z. B. vorrangig Zivilisten umzubringen. 2. Verhältnis Opferzahl durch Verteidigung zu Opferzahl der initialen Aggression: Da ist die israelische Bomberei klar unverhältnismäßig. 3. Verhältnis Opferzahl durch Verteidigung zur damit verhinderten Opferzahl künftiger Kriegsakte des Aggressors: Das ist stets die große Unbekannte, die auf den ersten Blick unverhältnismäßige Verteidigungsmaßnahmen doch noch rechtfertigen können. Wie ernst war Selenskijs Drohung mit der Atombombe zu nehmen? Genau davon hängt ab, ob die russische Verteidigung der Donbassrepubliken verhältnismäßig ist. Was für Mordakte plant die Hamas für die Zukunft? Auch da sind die Meinungen weit gestreut, so dass zunächst kein eindeutiger Maßstab für die Verhältnismäßigkeit der israelischen Gegenwehr erkennbar ist. 4. Verhältnis der Opferzahl der gewählten Verteidigungsmaßnahme zur Opferzahl alternativer Verteidigungsmaßnahmen: Das Ausmaß der Hamas-Übergriffe wurde durch ein Versagen des israelischen Hightechgrenzzaunes begünstigt. Billige Drohnen konnten dessen Technik und israelische Militärkommunikation ausschalten. »Hamas konnte überzogenes Vertrauen in Hightech für den Angriff ausnutzen« titelte overton-magazin.de am 12. Oktober. Drohnen können z. B. mit »Gepard«-Panzern bekämpft werden. Deren Besatzung könnte dann zwar nicht zum Sukkoth-Fest freibekommen. Aber ist das wirklich ein derart unzumutbares Opfer für die verteidigende Seite, dass statt dessen Menschen der Gegenseite zu Millionen in Not und Elend gestürzt und zu Tausenden getötet werden müssen? Könnte man die Geiseln nicht auch mit einem Austausch der rechtsstaatswidrig inhaftierten Palästinenser erreichen? Die überfällige Akzeptanz palästinensischer Staatlichkeit? Die in der Blockade Gazas liegende israelische Aggression? Nur, weil Hamas Wahlgewinner war? Da ist sehr sehr viel klar unverhältnismäßig.
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Leserbrief von Rainer Kral aus Potsdam (7. November 2023 um 12:01 Uhr)Wo kann man die Doppelmoral und die Scheinheiligkeit westlicher Politik im Allgemeinen und deutscher Politik im Besonderen besser erkennen, als beim Jahrhundertkonflikt im Nahen Osten? Mittlerweile 10.000 Tote, darunter Tausende Frauen und Kinder. Wer kann sich vorstellen, welcher Aufschrei der Politikerkaste und durch die gleichgeschalteten Medien hierzulande gehen würde, hätte es solche Opfer an der Zivilbevölkerung in der Ukraine je gegeben? Und wer nimmt hier die zivilen Opfer auf russischer Seite auch nur zur Kenntnis, ganz zu schweigen von den mehr als 10.000 Opfern zwischen 2014 und 2021 im Donbass, verursacht durch die ukrainische Armee an der eigenen Bevölkerung? Es ist beschämend, wie ein SPD-Kanzler und seine baerbockige Außenministerin, zweierlei Maß anlegen und die Kriegsverbrechen der Israelis und der ukrainischen Armee schönreden, während sie ihre unermessliche Russophobie tagtäglich zur Schau tragen.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (7. November 2023 um 15:09 Uhr)Was Sie schreiben, müsste jedem Menschen längst aufgefallen sein. Von der deutschen Regierung oder den Massenmedien erwarte ich schon gar nichts anderes mehr, als dieses zweierlei Maß. So widerlich es ist, erstaunt es doch nicht mehr. Doch sehr bedenklich und unendlich traurig finde ich es, dass große Teile der deutsche Bevölkerung – Propaganda hin, Propaganda her – dieses zweierlei Maß im Denken verinnerlicht hat. Diese Leserbriefe hier sind keineswegs ein Maßstab für die Mehrheitsmeinung in Deutschland. Wenn der vorige Krieg gegen Russland zu keinem Umdenken geführt hat, wird es der nächste auch nicht.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (7. November 2023 um 13:16 Uhr)Beschämend ist diese Politik schon, aber halt business as usual, eben Staatsräson und Staatsdoktrin: »Grundsatz, dem zufolge oberster Maßstab staatlichen Handelns die Wahrung und Vermehrung des Nutzens des Staates ist, auch unter Inkaufnahme der Verletzung von Moral- und Rechtsvorschriften« (https://de.wikipedia.org/wiki/Staatsr%C3%A4son)
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