»Das käme einem Dammbruch gleich«
Interview: Jakob Reimann
Die Berliner Abgeordnete Susanna Kahlefeld von Bündnis 90/Die Grünen fordert das Ende der städtischen Förderung für das Neuköllner Kulturzentrum »Oyoun«. Es geht um jährliche Fördersummen im siebenstelligen Bereich. Wie kam es dazu?
Kahlefeld bezieht sich auf einen Vorfall vom Oktober 2022 in unseren Räumlichkeiten. Dabei mussten wir einer Person ein temporäres Hausverbot für den Abend erteilen, da sie gegen unseren Code of Conduct verstieß. Einen antisemitischen Hintergrund, wie ihn Kahlefeld in einer Stellungnahme unterstellt, gab es jedoch nicht. Ebensowenig stimmt, wir seien ein »Safe Space«, in dem Kritik an Antisemitismus keinen Platz habe. Wir haben der Abgeordneten bereits 2022 ein Gesprächsangebot gemacht. Leider wurde darauf nicht eingegangen.
Es genüge nicht, »das Bekenntnis gegen Antisemitismus vor sich herzutragen«, begründete Kahlefeld das Vorgehen gegen das Zentrum. Sie wirft Ihnen ein »antisemitisches Statement« vor.
Uns ist unbekannt, worauf sie sich bezieht. Sie begründet diese Behauptung nicht weiter. Wir weisen diesen Vorwurf entschieden zurück und finden es fragwürdig, dem »Oyoun« als mehrheitlich von BIPoC (Schwarze, Indigene und People of Colour, jW) betriebener Kulturorganisation »Antisemitismus« vorzuwerfen, weil wir uns mit einem marginalisierten, aus jüdischen und israelischen Menschen bestehenden Verein solidarisieren, der eine Trauer- und Hoffnungsfeier in unseren Räumlichkeiten abhalten möchte. Die »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« ist Preisträgerin des renommierten Göttinger Friedenspreises 2019, gerade weil sie sich durch eine herausragende Arbeit zur Förderung von Frieden und Gerechtigkeit in Israel–Palästina ausgezeichnet hat.
Kultursenator Joe Chialo, CDU, wollte, dass die Veranstaltung abgesagt wird; die Förderung des »Oyoun« wolle er »grundsätzlich überprüfen«. Würde ein Stopp der städtischen Mittel das Ende des Zentrums bedeuten?
Dass der Senat unseren Vorwurf der Zensur zurückweist, dann aber gleichzeitig nicht nur die Absage der Veranstaltung von diesem Sonnabend fordert, sondern auch mit einer Prüfung unserer Förderung droht, verstärkt unseren Eindruck von Repression und Einschüchterung seitens der Kulturverwaltung. Wir hoffen sehr, dass wir als Projekt der freien Szene auch unser Recht auf Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit nutzen dürfen und nicht als ausführendes Organ politischer Interessen handeln müssen.
Die Einstellung der Zuwendung käme einem Dammbruch gleich. Damit würde die Existenzgrundlage 30 mehrheitlich marginalisierter Menschen wegfallen. Als international ausgezeichnete, antirassistische, dekoloniale, queer*feministische und klassenkritische Einrichtung mit mehr als 600 Veranstaltungen sowie 82.000 Besucherinnen und Besuchern im Jahr würde ein weiterer Ort für unsere Communitys wegfallen. Was das in Zeiten zunehmender rechter Gewalt und Repression bedeutet, können wir uns kaum vorstellen.
Verstehen Sie Drohungen, Ihrem Haus Gelder zu streichen, als Teil der »Zensur«, die Sie dem Berliner Senat vorgeworfen hatten?
Die Bindung von Fördermitteln an die Forderung, bestimmte Programmpunkte des Hauses mitgestalten zu dürfen, ist eine Form der Zensur, da es die freie inhaltliche und programmatische Ausgestaltung des Hauses unterläuft und die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit unterminiert. Zumindest kann die Drohung, die finanzielle Förderung einzustellen, als Disziplinierungsmaßnahme und Botschaft an uns über das Meinungsfreiheits- und Kunstfreiheitsverständnis des Berliner Senats verstanden werden.
Wie ist es aus Ihrer Sicht um die Meinungsfreiheit in der BRD bestellt?
Ihre Einschränkung drückt sich nicht nur durch strafrechtliche Verfolgung aus, sondern auch durch soziale und politische Ächtung sowie finanzielle Sanktionierung. Wir beobachten einen aggressiven und beängstigenden Rechtsruck, dessen Auswirkungen wir auch auf unsere Arbeit als künstlerisch-soziale Institution wahrnehmen. In Reden und Statements von Parteien werden immer offener repressive Gesetzesänderungen gefordert, wird Zuwanderung wiederholt als Quelle allen Übels genannt.
Louna Sbou ist Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin des Kulturzentrums »Oyoun«
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