Zweifel an Selenskij
Von Reinhard Lauterbach
Die Bundesregierung rechnet wohl nicht mehr damit, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen könne. Dies geht indirekt aus mehreren Äußerungen von Verteidigungsminister Boris Pistorius in den letzten Tagen hervor. Er wiederholte am Dienstag im Deutschlandfunk seine bereits zuvor im ZDF erhobene Forderung, die deutsche Gesellschaft müsse mental kriegsbereit gemacht werden. Die Deutschen müssten sich wieder mit dem Gedanken vertraut machen, das Land militärisch zu verteidigen. Im ZDF hatte Pistorius am Sonntag wörtlich gesagt: »Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen«.
Der aus der Äußerung von Pistorius sprechende Militarismus ist das eine. Das andere ist aber die implizite Voraussetzung seiner Forderung: dass die bisher im Westen verfolgte Strategie des in und auf Kosten der Ukraine geführten Stellvertreterkriegs gegen Russland womöglich nicht aufgehen könnte. Zweifel in diese Richtung verrät auch ein ausführlicher Beitrag aus Washington und Kiew, den das US-Magazin Time am Montag veröffentlichte. Demnach hält ein Teil von Wolodimir Selenskijs engster Umgebung in Kiew den Präsidenten inzwischen für abgehoben und beratungsresistent. Er habe sich in die Idee verrannt, den Krieg gewinnen zu müssen, obwohl es auf der Hand liege, dass der Ukraine die Optionen ausgingen. Der durch Insiderinformationen getragene Bericht erwähnt auch Fälle von offener Befehlsverweigerung durch ukrainische Frontkommandeure. Im Donbass sei auf einen Angriffsbefehl die Gegenfrage gekommen: »Womit denn?« Der Armee fehlten Waffen und vor allem Soldaten. In Selenskijs Umgebung herrscht dem Text zufolge auch die Befürchtung, dass die ukrainische Bevölkerung für neue Stromausfälle und Heizungsstörungen im kommenden Winter nicht mehr Russland, sondern die unzureichende Vorsorge der eigenen Führung verantwortlich machen werde – mit anderen Worten, dass die Stimmung kippen könnte. Für den Wahrheitsgehalt der referierten Stimmungen spricht das Detail, dass Selenskijs Stabschef Andrij Jermak erst öffentlich die Lektüre des Time-Textes empfahl und seinen Post dazu wenig später – offenkundig nach eingehenderem Studium des Inhalts – wieder löschte.
Am Montag hat der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu Voraussetzungen für eine Rückkehr seines Landes an den Verhandlungstisch und – so wörtlich – »eine weitere Koexistenz« genannt. Er sagte auf einem Militärforum in China, die westlichen Staaten müssten aufhören, Russlands strategische Niederlage anzustreben. Die Voraussetzungen für solche Gespräche seien daher noch nicht gegeben.
Der russische Präsident Wladimir Putin machte am Montag abend westliche Geheimdienste für die Unruhen in Dagestan am Wochenende verantwortlich. In der zur Russischen Föderation gehörenden nordkaukasischen Republik hatten Islamisten den Flughafen der Regionalhauptstadt Machatschkala mit Palästina-Fahnen gestürmt und vermeintlich jüdische Passagiere eines aus Tel Aviv kommenden Flugzeugs bedroht. Es dauerte Stunden, bis die Polizei die Lage wieder unter Kontrolle hatte. Putin warf den westlichen Diensten vor, sie hätten antijüdische Pogrome anzetteln wollen. In der Ukraine wurden die Vorfälle als »beginnender Kontrollverlust« Russlands in Teilen des Landes dargestellt und mit der Meuterei des Söldnerführers Jewgenij Prigoschin im Sommer in Beziehung gesetzt.
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Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (1. November 2023 um 15:34 Uhr)»Kriegstüchtig«, »wehrhaft« müsse die deutsche Gesellschaft sein, sich militärisch verteidigen können, erklärt SPD-Verteidigungsminister per Medien. Haben das alle vernommen, die es im Fall der Fälle betreffen wird? Haben Aussagen eines Ministers in dieser Klarheit keine Konsequenzen? Ist es nur so dahingeplappert? Haben wir aus der Bevölkerung irgendwelche Aufschreie, Proteste oder wenigstens Bedenken gehört? Sind alle betreffenden Jahrgänge kriegstüchtig und bereit wieder zu marschieren mit Hurra und Gebrüll, oder nehmen sie über Jugendmedien solches gar nicht wahr, geschweige denn ernst? Für den Kriegsfall rüsten, meint Pistolius. Was hat er im Blick dabei? Die Ukraine schaffe es wohl nicht, die Russen zu besiegen. Schaffen wir es denn mit Ostfronterfahrung der Alten, mit Russenhass und einen Krieg, den wir vielleicht doch noch gewinnen können? Wegen Antisemitismus und Judenhass schlägt unser schlechtes Gewissen mächtig, wie es scheint. Jede kritische Stimme zum Morden Israels an Palästinensern ist nahezu strafbar. Wie ist es mit dem Gewissen gegenüber Russen? Ein Mehrfaches an Opfern haben Russen erbracht gegen den deutschen Nazistaat. Zweierlei Maß wie immer, zweierlei Gewissen? Und die NVA? Wieviele Weltkriege hat sie geführt? Wieviele Angriffskriege? Welche Welt, welche andere Welt als eine imperialistische könnte den Kriegen ein Ende bereiten? Warum hat sie es nicht vermocht? Und jetzt werden wir endlich mit Kriegen, noch mehr Kriegen endlich Frieden schaffen, wenn wir denen glauben, die uns heute in Freiheit kriegstüchtig sehen wollen. Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt; wie wahr. Wie wahr seit 1945, nach 1990 auch ohne NVA. Wieviele Völker durften es erleiden und erfahren? Davon weiß ein Deutscher freilich nichts.
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Leserbrief von Ronald aus Burg (1. November 2023 um 13:27 Uhr)Pistorius = widerlicher Kriegstreiber! Und die Linke hat dazu nichts zu sagen? Typisch, sie schweigt wieder …
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Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (1. November 2023 um 12:25 Uhr)Pistorius: »Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen« – Im Prinzip sagt Herr Pistorius nicht viel anderes, als Wehrpflichtige in der Volksarmee der DDR zu hören bekamen. Zwei Sprüche sind mir noch in Erinnerung: »Besser auf den Krieg vorbereitet sein als der Gegner« und »Gefechtsbereit zu jeder Stunde«. Dazu würden die von Pistorius gebrauchten Worte »kriegstüchtig« und »wehrhaft« ebenfalls passen. – Übrigens: Die oft gehörte Aussage, dass die DDR nie einen Krieg geführt habe, ist nur die halbe Wahrheit, denn Entscheidungen dieser Tragweite konnte die DDR-Führung gar nicht allein treffen, die fielen in Moskau. Als beispielsweise die DDR-Führung 1968 von der Sowjetunion ungeduldig forderte, den »Prager Frühling« zu beenden, geschah das auch. Allerdings wurde die Volksarmee, anders als die übrigen Armeen des Warschauer Vertrages, nicht daran beteiligt.
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Leserbrief von Michael Friedrich Jedamzik (1. November 2023 um 18:44 Uhr)Kleine Anmerkung, ihre halbe Wahrheit ist natürlich auch eine Lüge. Auch wenn man es nicht wahrhaben will. Die DDR hat keinen Krieg geführt. Die Zahl völkerrechtswidriger Kriege nach 1945 und wer sie geführt hat, erklärt die Aussagen zur »Wehrbereitschaft« der DDR ganz gut.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (1. November 2023 um 16:32 Uhr)Sonnenklar – das Gewehr in der Hand eines revolutionären Matrosen 1917 oder 1918 oder eines alliierten Soldaten, der das KZ Auschwitz oder Dachau befreite, ist genau das Gleiche, wie in der Hand eines kapitalistischen Soldaten, der wieder mal ein Land »segnete« – also dessen Bewohner ermordet. Und natürlich war die DDR auch nur ein Staat wie jeder andere: Friedensgebot; Antifaschismus; Solidarität – alles Nebensache. Und auch die NVA war dann ja eigentlich auch die Wehrmacht 2.0, weil sie »gefechtsbereit« war?
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Leserbrief von Rainer Kral aus Potsdam (1. November 2023 um 08:21 Uhr)Wir sollen also kriegsertüchtig werden. Was für eine Aussage eines selbsternannten Sozialdemokraten. August Bebel und seine Mitstreiter würden sich im Grabe umdrehen, wüssten sie, was aus ihrer Partei des Jahres 2023 geworden ist. Der Transatlantiker Pistorius wird sicher Beifall seiner Lehensherren in Washington ernten, aber im Grunde geht er nur den Weg weiter, den diese SPD bereits im 20. Jahrhundert beschritten hat: Zustimmung zu den Kriegskrediten der deutschen Monarchie zur Finanzierung des Ersten Weltkrieges, Verweigerung der Einheitsfront zur Verhinderung der Nazidiktatur und des Zweiten Weltkrieges, die willfährige Bereitschaft zur Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, die Zustimmung zur Aufrüstung Westdeutschlands und der Beitritt zu NATO trotz des Schwurs, »Nie wieder Krieg«, SPD-Regierungsbeteiligung an mehreren völkerrechtswidrigen Kriegen. Also, Herr Pistorius, Sie sind auf dem »richtigen« Weg.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (1. November 2023 um 13:49 Uhr)So klar und eindeutig gegen Krieg oder Kolonialismus war der alte Bebel nun auch wieder nicht. Siehe dazu seine »Flintenrede« von 1904 oder seine Reichstagsrede vom 1. Dezember 1906 zu der Frage, ob Deutschland Kolonien haben sollte oder nicht bzw. wie man »richtig« (d. h. à la SPD) kolonialisiert.
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