Ungeist entlarvt
Von Reinhard Lauterbach
Es passierte vor einigen Wochen im Parlament von Kanada, einer dieser gefestigten westlichen Demokratien. Das versammelte Plenum nebst diplomatischem Korps bedachte einen alten Mann mit stürmischen Ovationen. Nur war der Mann nicht irgendein Hochbetagter, sondern ein ukrainischstämmiger Veteran der 14. Waffen-SS-Division »Galizien«. Geehrt wurde er für »seinen Kampf gegen die Rote Armee«. Dass er diesen Kampf nach Lage der Dinge zwangsläufig im Rahmen der Streitkräfte Nazideutschlands geführt hatte, mithin ein Nazikollaborateur war, musste die bei der Ehrung anwesende deutsche Botschafterin nach Auskunft ihres Ministeriums »nicht zwangsläufig wissen«; die Lage sei »nicht ganz so eindeutig«, druckste ein Sprecher in der Bundespressekonferenz herum.
»Der Bandera-Komplex« hieß die am Sonntag in Berlin von jW und Melodie & Rhythmus veranstaltete Tageskonferenz zum nur selten beleuchteten Thema. 250 Besucherinnen und Besucher waren in den ausverkauften Münzenberg-Saal des ND-Gebäudes gekommen. Per Livestream wurde das Geschehen auf der Bühne in alle Welt übertragen, die Konferenz wurde online vor allem auch im englischsprachigen Ausland rezipiert. Etwa 500 Endgeräte waren regelmäßig im Stream, insgesamt erreicht wurden im Internet mindestens 3.000 Menschen. In Kürze werden Teile des Programms über Youtube abrufbar sein.
Empörung reicht nicht
Jürgen Lloyd, Vorstandsmitglied der Marx-Engels-Stiftung, erinnerte in seinem Vortrag auf der Konferenz an den anfangs geschilderten Vorfall und knüpfte daran die These an, dass die herrschenden Klassen der kapitalistischen Welt offenkundig dabei seien, den Faschismus zu rehabilitieren. Zuerst den in der Ukraine an die Macht gelangten Bandera-Faschismus, aber indirekt natürlich auch dessen Hegemon, den deutschen. Moralische Empörung reiche hier nicht mehr, so Lloyd, man müsse sich schon die Mühe machen, nach den Ursachen dieses »Zivilisationsbruchs« in der politischen Kultur zu suchen. Lloyd bestimmte sie in einem Herrschaftsbedürfnis, die »Maximalinteressen« des Kapitals »kompromisslos« durchzusetzen. Dazu müsse es die im demokratischen Normalbetrieb üblichen kleinen Rücksichtnahmen auf die Interessen der Bevölkerung durch eine vollständige Gleichschaltung der Gesellschaft ersetzen. Der theoretische Haken an dieser Konzeption: Etwas, was einerseits etwas qualitativ Neues sein soll, wird nur doppelt quantitativ bestimmt – als »völlig rücksichtslos« und »Maximalinteresse«, ohne zu diskutieren, ob denn das Kapital im Normalbetrieb nicht seinem »Maximalinteresse« folge. Vielleicht war es auch nur eine Zeitfrage, dass dieser Aspekt nicht zur Sprache kam. Jedenfalls: Wer nach dem Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapitalismus nicht fragen wolle, dessen gutgemeinte Abscheu gegen »Nazis« und »Naziideologien« bleibe hilflos, variierte Lloyd einen bekannten Satz von Max Horkheimer.
Wurzeln des Übels
Wie aber kam es dazu, dass Faschisten in der Ukraine den bedeutenden Einfluss bekamen, den sie heute genießen? Dazu trugen zwei Referenten aus den USA eine beeindruckende Masse an Material bei. Moss Robeson war mit gleich zwei Vorträgen der Hauptredner der Konferenz. Sein erstes Referat zeichnete auf Grundlage der Forschungslage zunächst die Geschichte des ukrainischen Faschismus nach: entstanden nach dem Ersten Weltkrieg in einer Nation, die bei der Aufteilung Osteuropas in neue Staaten zu kurz gekommen war, und in einer Generation, die sich durch diesen Umstand zu besonderer Rücksichtslosigkeit im Verfolgen ihrer nachholenden Staatsbildung berechtigt sah. Solcher Nationalismus der zu kurz Gekommenen hatte in der Zwischenkriegszeit faktische Vorbilder: den italienischen und später den deutschen Faschismus. Die rechten Fanatiker aus der Ukraine fanden Interessenten an ihrem Bestreben unter anderem in dem Militärgeheimdienst der deutschen Reichswehr: als eine Kraft, die potentiell den ungeliebten polnischen Nachbarstaat destabilisieren könnte. Mit deutschem Geld und Ausbildungsstätten im Reichsgebiet wuchs so über die 30er Jahre aus einer obskuren Sekte eine schlagkräftige Terrorgruppe hervor, geleitet von Stepan Bandera, Jahrgang 1909, Student der Agronomie ohne Abschluss und selbsterklärter »Prowidnik« (Führer) der ukrainischen Nation. Die Komplizenschaft seiner »Organisation Ukrainischer Nationalisten« (OUN) bei der Vernichtung der Juden in der Westukraine wird von nationalukrainischer Seite heute gern verschwiegen oder dadurch relativiert, dass das von den ukrainischen Faschisten angestrebte Bündnis mit Nazideutschland so nicht zustande kam, wie sie es angestrebt hatten. An einer unabhängigen Ukraine im Schatten des »Großdeutschen Reiches« hatte dieses kein Interesse. Erst als die Wehrmacht die Kontrolle über die Ukraine bereits wieder verloren hatte, lebte ihr Interesse an ukrainischen Untergrundkämpfern gegen die Rote Armee wieder auf. Mehrere zehntausend OUN-Kämpfer setzten sich in den letzten Kriegsmonaten im Schutz der Wehrmacht nach Österreich und in den Westen Deutschlands ab, wo sie, vor direktem sowjetischem Einfluss geschützt, ihre Sabotagedienste den westlichen Alliierten anboten. Die ukrainische Emigration war ein finsteres Milieu, das selbst die deutsche Polizei stets am Rande der organisierten Kriminalität verortete.
Schub durch Reagan
Die Geschichte, wie ukrainische Faschisten und vor allem US-amerikanische Geheimdienste zueinanderfanden, zeichnete Russ Bellant für die Jahrzehnte des Kalten Krieges nach. Eine »antikommunistische Weltliga« diente als Dachorganisation für Todesschwadronen zum Einsatz in aller Welt, in der sich auch Nazikollaborateure aus ganz Osteuropa für den »Tag X« bereithielten. Aktiviert wurden sie um 1980, als US-Präsident Ronald Reagan die Zeit für die Abrechnung mit dem »Reich des Bösen« für gekommen hielt. Heute verfügen die ukrainischen Nazimilieus vor allem in den englischsprachigen Ländern über ein umfangreiches Netzwerk aus Firmen, Thinktanks und Bildungsstätten, in denen sie seit Jahrzehnten Kader für die Übernahme ihres Heimatlandes schulten. Ab 1991 war ihre Stunde gekommen. Mit direkter Unterstützung neokonservativer US-Strukturen wie dem »Atlantic Council« und – von deutscher Seite – insbesondere der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Wie Leute aus dem OUN-Milieu seit dem westlich gesponsorten Staatsstreich (»Euromaidan«) von 2013/14 den ukrainischen Staatsapparat durchsetzt haben, war eines der Themen des zweiten Vortrags von Moss Robeson. Praktisch das Who’s who der heutigen Ukraine hat Wurzeln in den banderistischen Strukturen. Ihre Leute kontrollieren den ukrainischen Geheimdienst, die nationale Gedenkbehörde und das Erziehungswesen des Landes. Faschistenkult ist in der heutigen Ukraine Teil der Popkultur geworden. Und mehr als das: Mit einer »Antikapitulationsbewegung« stellen ukrainische Faschisten Präsident Wolodimir Selenskij vor die Alternative, entweder den Krieg auf absehbare Zeit fortzusetzen oder durch einen rechten Staatsstreich seinerseits gestürzt zu werden. Diese Aktivisten sind dabei keine randständigen Militanten: Die »Antikapitulationsbewegung« ist mit der Partei »Europäische Solidarität« des Expräsidenten Petro Poroschenko vernetzt. Der Westen hat so in der Ukraine gleich zwei Mannschaften am Start: um das Land in dem Stellvertreterkrieg gegen Russland zu verheizen, den der kollektive Westen auf die Tagesordnung gesetzt hat.
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