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Aus: Ausgabe vom 30.10.2023, Seite 6 / Ausland
Krieg gegen Gaza

Genozidale Absichten

Dahiya-Doktrin und Hannibal-Direktive: Israels Kriegführung preist Bruch mit Völkerrecht ein
Von Lena Obermaier
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»Zerstörung, nicht Präzision« ist die Maßgabe der israelischen Militärführung (Gaza-Stadt, 20.10.2023)

In weniger als drei Wochen hat Israel bereits mehr als 7.000 Palästinenser in Gaza getötet und über 18.000 verwundet. Die Militäroffensive auf den Gazastreifen kam als Antwort auf die Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober in Israel, bei denen mehr als 1.400 Menschen gestorben sind, die meisten von ihnen Israelis. Wer sich über das schiere Ausmaß der Vergeltungsschläge wundert, täte gut daran, der israelischen Regierung zuzuhören, die ihre genozidalen Absichten nicht einmal versucht zu kaschieren. So sagte Armeesprecher Daniel Hagari über die Bombardierungen: »Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht Präzision.« In Hagaris Worten erkennt man eine zentrale Militärdoktrin Israels wieder: Unverhältnismäßigkeit.

Israel bekennt sich zu einem Kriegsverbrechen – Unverhältnismäßigkeit – als grundlegendes Element seiner Militärstrategie. Dieses Prinzip zieht sich durch Israels Militärgeschichte wie ein roter Faden. In diesem Kontext erscheinen Hagaris Worte wie die schlechte Fortsetzung eines berühmten Satzes, den der ehemalige israelische Premierminister David Ben-Gurion bereits 1953 sagte: »Wenn wir den Arabern nicht zeigen, dass sie einen hohen Preis für die Ermordung der Juden zahlen müssen, werden wir nicht überleben.« Diese Disproportionalität zeigt sich in der Entwertung palästinensischen Lebens: von der ethnischen Säuberung Palästinas (1947–1949) über die Erste Intifada (1987–1993) bis hin zu den massenhaften Verstümmelungen palästinensischer Demonstranten während des »Great March of Return« in Gaza (2018–2019). Es gibt sogar einen speziellen Namen für dieses militärische Vorgehen – die sogenannte Dahiya-Doktrin.

Die Doktrin, deren Auswirkungen gerade auch in Gaza zu sehen sind, entwickelte Gadi Eizenkot 2006: unverhältnismäßige Gewalt, die in massenhafter Tötung und Verstümmelung endet. Der frühere Generalstabschef Eizenkot ist als Beisitzer im Kriegskabinett von Premier Benjamin Netanjahu auch für die derzeitige israelische Militärplanung verantwortlich. Benannt ist die Doktrin nach dem Beiruter Vorort Dahiya. Eizenkot, damals Leiter des israelischen Nordkommandos im Libanon, zerstörte mit seiner Truppe Dahiya fast komplett. Stolz erläuterte er sein Vorgehen später: »Was 2006 im Dahiya-Viertel von Beirut geschah, wird in jedem Dorf geschehen, von dem aus Israel beschossen wird. (…) Wir werden dort unverhältnismäßige Gewalt anwenden und großen Schaden und Zerstörung anrichten. Aus unserer Sicht handelt es sich nicht um zivile Dörfer, sondern um Militärbasen. (…) Dies ist keine Empfehlung. Dies ist ein Plan. Und er ist genehmigt worden.« 2008 wurde die Doktrin – eine explizite Beschreibung kollektiver Bestrafung und Kriegsverbrechen – erstmals vom Institute for National Security Studies (INSS), einem Thinktank mit engen Verbindungen zum politischen und militärischen Establishment Israels, erwähnt.

Die Dahiya-Doktrin kam auch im Gazakrieg 2014 zur Anwendung. So hielt der darauffolgende UN-Bericht fest, dass Israel auf die »Bevölkerung des Gazastreifens als Ganzes« zielte, ohne zwischen Zivilisten und Kämpfern zu unterscheiden. Zudem bombardierte die israelische Armee absichtlich und systematisch die zivile Infrastruktur. Damit verstößt die Doktrin gegen zwei Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts: der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Die derzeitige Zerstörung des Gazastreifens – den viele zu Recht als Genozid bezeichnen – hat wenig mit Selbstverteidigung gegen die Hamas, als vielmehr mit Rache an den Palästinensern als Ganzes zu tun. Unklar ist auch, wie viele israelische Geiseln Israel selbst durch seine Bombardierungen getötet hat. Bei dieser Frage kommt die sogenannte Hannibal-Direktive auf: Ein Verfahren, das von der israelischen Armee angewandt wird, um die Gefangennahme eigener Soldaten durch feindliche Kräfte zu verhindern. Die Richtlinie erlaubt es den Truppen, unter Umständen extreme Gewalt anzuwenden, um zu verhindern, dass ein Soldat in die Hände des Feindes fällt. In der Vergangenheit wurde die Direktive in besonders exzessivem Ausmaß im Fall des entführten israelischen Soldaten Hadar Goldin 2014 angewendet: vier Tage intensiver Militärangriffe auf dessen vermuteten Aufenthaltsort, bei denen nach UN-Angaben 255 Palästinenser getötet wurden – und Goldin selbst. Offiziell zog das israelische Militär die Direktive 2016 unter öffentlichem Druck zurück.

Das Vorgehen der Hamas am 7. Oktober stellt klar ein Kriegsverbrechen dar. Gleichzeitig sind manche Details noch ungeklärt. So gibt es Berichte von Überlebenden der Angriffe, die besagen, dass die israelische Armee selbst Leute und Häuser im Kibbuz ins Visier genommen habe, unter anderem mit Panzergeschossen. Wie im Fall Hadar Goldin sollte es auch hier interne Untersuchungen geben, die klären, ob das israelische Militär die »Hannibal-Direktive« an jenem Tag angewendet hat.

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