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Aus: Ausgabe vom 25.10.2023, Seite 10 / Feuilleton
Nachruf

Der Unersetzliche

Zum Tod des marxistischen Ökonomen und Publizisten Alexander Wladimirowitsch Busgalin
Von Ulrich Heyden
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Alexander Wladimirowitsch Busgalin im Januar 2011

Am 18. Oktober starb der international bekannte Ökonom, Theoretiker und Publizist Alexander Wladimirowitsch Busgalin im Alter von 69 Jahren. Der Tod kam überraschend. Das Moskauer Sklifosowski-Krankenhaus diagnostizierte einen ischämischen Schlaganfall.

Busgalin war seit 1991 Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift Alternatiwy (Alternativen). Ihr Schwerpunkt war die Kritik der neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik in Russland. Die Philosophische Fakultät der Moskauer Universität, an der Busgalin ein Zentrum für marxistische Forschungen leitete, würdigte den Verstorbenen in einem Nachruf als einen der »führenden russischen Ökonomen«. Am Freitag nahmen Verwandte, Freunde und Kollegen von dem in der Moskauer Universität aufgebahrten Leichnam Abschied, wie es in Russland Brauch ist.

Ich habe Alexander Wladimirowitsch als kontaktfreudig in der Erinnerung. Er sprach verständlich, gestelzte Formulierungen waren ihm fremd. Für ihn zählten Wissen, Fakten und Argumente. Und er wollte von allen, auch von den »einfachen Leuten«, verstanden werden.

Busgalin vollbrachte ein Wunder. In einem postmarxistischen Land machte er sich als marxistischer Ökonom einen Namen und schrieb für russische sowie ausländische wissenschaftliche Zeitschriften. Er veröffentlichte 350 wissenschaftliche Arbeiten und publizierte zusammen mit seinem Koautor Andrej Kolganow, mit dem er seit Studentenjahren verbunden war, 26 Bücher. Zudem verfasste er vier wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher.

Busgalin wurde 1954 in der Familie eines Moskauer Armeeangehörigen geboren und studierte Wirtschaftswissenschaften. Schon als Student hatte er eine kritische Position zum sowjetischen System. Seine 1979 verteidigte Doktorarbeit trug den Titel »Widersprüche der planmäßigen Organisation in der sozialistischen Produktion«.

1990/91 – in der Endphase von Gorbatschows Perestroika – wurde der Ökonom mit 36 Jahren Mitglied des ZK der KPdSU. Aber die Partei mit ihren 19 Millionen Mitgliedern wurde im November 1991 vom damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin verboten. Eine wissenschaftliche Karriere schien nach dem Parteiverbot unmöglich geworden. Dennoch wurde Busgalin 1993 Wirtschaftsprofessor an der Moskauer Staatlichen Universität (MGU).

Aus dem Umfeld der Alternatiwy baute er im Jahre 2000 unter gleichem Namen eine politische Bewegung auf. Die akademische Karriere allein genügte ihm nicht. Wo es nur ging, suchte er Kontakt »zu den Massen«. Er schrieb Kolumnen für die Moskauer Boulevardzeitung Moskowski Komsomolez und war häufiger Gast zahlreicher Internettalkshows. 2002 organisierte er die russische Delegation für das Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre und war Mitorganisator der »Russischen Sozialforen« in den Jahren 2003 bis 2008.

Nach Busgalins Ansicht hängen die Probleme des heutigen Russland auch mit der Stalin-Ära zusammen. In einem Streitgespräch für die Zeitschrift Alternatiwy mit einem Stalin-Sympathisanten erklärte Busgalin, dass für Hauptfehler des sowjetischen Systems »Bürokratismus, Formalismus und ideologisches Diktat« waren.

Aber nicht nur der Stalinismus, auch die Perestroika unter Gorbatschow hatte Opfer gefordert. Die soziale Lage der »einfachen Menschen« verschlechterte sich ab Ende der 80er Jahre rapide. Gleichzeitig gab es eine Verschiebung des politischen Spektrums nach rechts. »Zuerst kritisierte man nur den Bürokratismus, dann kritisierte man Stalin, dann Lenin und dann alle Linken. Sogar Salvador Allen­de und Olof Palme galten den russischen Liberalen als ›Anhänger des roten Terrors‹«. Der Höhepunkt der »liberalen Attacke« sei die Beschießung des russischen Parlaments im Oktober 1993 und die Verehrung von Augusto Pinochet durch die russischen Liberalen gewesen.

Die Übertreibungen und Lügen der Liberalen hätten, so Busgalin, zu unangenehmen Gegenreaktionen in der russischen Gesellschaft geführt. Viele Menschen hätten begonnen, die Repressionen unter Stalin zu rechtfertigen. Dabei sei völlig unklar, warum es in der Stalin-Ära urplötzlich mehr »innere Feinde« gegeben haben sollte als noch unter Lenin.

Busgalin war gegen jedes Kleinreden des stalinistischen Terrors. Selbst wenn es unter Stalin »nur 100.000 Repressierte« gegeben habe und nicht wie von einigen Liberalen behauptet »Millionen«, sei das eine »sehr große Zahl«. Er empfahl, zu dem Thema seriöse Bücher zu lesen.

Der Stalinismus habe in Russland Spuren hinterlassen. An die Stelle von Internationalismus trat Großmachtstreben, an die Stelle des revolutionären Enthusiasmus und der Kooperativen Zwangskollektivierung und materielle Privilegien. »Das rote System wurde deformiert.« Ein Ergebnis dieser Deformation sei, dass sich in Russland inzwischen sogar Monar­chisten für Stalin begeistern, weil der »Woschd« (Führer) in der Roten Armee die Schulterstücke wieder eingeführt hatte.

Auch für die bekannte Moskauer Kommunistin und ehemalige Dumaabgeordnete Darja Mitina ist Busgalin »unersetzlich«. »Ich glaube, heute werden viele Menschen weinen. Aber morgen werden sie das umsetzen, was Alexander Wladimirowitsch uns gelehrt hat. Er bleibt immer mit uns. Als Freund.«

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