»Eine totale Verhöhnung des Völkerrechts«
Interview: Jamal Iqrith
Bundeskanzler Olaf Scholz hat bei einer Regierungserklärung am vergangenen Donnerstag erklärt, Israel habe im Gazastreifen ein »völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung«. Wo ist das festgelegt?
In Artikel 51 der UN-Charta ist deutlich verankert, dass derjenige, der militärisch angegriffen wird, ein solches Verteidigungsrecht hat. Das stimmt auch in diesem Fall: Israel kann sich gegen den Angriff der Hamas verteidigen, was allerdings mit der Einschränkung versehen ist, dass solch eine Verteidigung immer verhältnismäßig sein muss. Wenn die israelische Armee im Gazastreifen, der ohnehin seit Jahrzehnten abgeriegelt ist, ein wahres Blutbad anrichtet, ist das auf keinen Fall durch das Verteidigungsrecht nach Artikel 51 gedeckt.
Gilt Artikel 51 auch für eine Besatzungsmacht im von ihr besetzten Gebiet?
Ja. Aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Mittel und Zweck ist zentral. Eine Verteidigung hat sich stets innerhalb der Grenzen des humanitären Völkerrechts, die insbesondere in den »Haager« und »Genfer« Konventionen verankert sind, zu halten. Der Angriff ist erfolgreich zurückgeschlagen worden. Wenn die Armee aktuell darüber hinausgeht und erklärt: »Wir vernichten die Hamas«, und der Zivilbevölkerung Energie und Nahrung abschnürt, dann ist das bereits eine Überschreitung des Gebots der Verhältnismäßigkeit und daher völkerrechtswidrig.
Die Hamas und andere palästinensische Fraktionen berufen sich auf das »Recht zum bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung«. Was hat es damit auf sich?
Völkerrechtlich gesehen ist auch das eine richtige Forderung, denn die israelische Besatzung ist völkerrechtswidrig und also wie ein Angriff. Nun wird behauptet, der Gazastreifen sei, nachdem die Siedler und die Armee sich 2006 aus dem Gebiet zurückgezogen haben, nicht mehr besetzt. Das stimmt nicht. Die Blockade wird international – auch durch das Auswärtige Amt – als rechtswidrige Besatzung gewertet. Gegen eine solche darf man sich verteidigen. Allerdings auch hier mit der Einschränkung, die Vorschriften des humanitären Völkerrechts einzuhalten. Zivilisten sind absolut tabu, das hat die Hamas verletzt.
Der Gazastreifen ist seit 2007 abgeriegelt, im aktuellen Krieg wurde eine vollständige Belagerung der Bevölkerung verhängt. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Das ist ein Kriegsverbrechen. Die Abschnürung von Energie, Nahrungsmitteln etc. ist ebenfalls rechtswidrig. Die Blockade war es bisher schon. Diese zusätzlichen Maßnahmen, die eine heftige Verschlechterung der Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung in Gaza bedeuten, die bis hin zum Verhungern, Verdursten und Krankheit führen, sind Kriegsverbrechen und völkerrechtlich absolut verboten.
Die israelische Regierung hat am Freitag 1,1 Million Einwohner von Gaza-Stadt dazu aufgefordert, ihre Häuser in Richtung Süden zu verlassen. Wie ist das juristisch zu beurteilen?
Es ist eine totale Verhöhnung des Völkerrechts, wenn man sich dabei auf das Verteidigungsrecht der UN-Charta beruft. Die Allgemeinheit kennt die Situation vor Ort. Es gibt genügend Fotos, die zeigen, dass es faktisch gar keine Rückzugsmöglichkeiten für die Menschen im Norden gibt. Es handelt sich offensichtlich um die Vorbereitung, damit Gaza in Schutt und Asche gelegt werden kann. Das ist ein schweres Kriegsverbrechen, das sieht auch die UNO so.
Macht sich Deutschland an diesen Kriegsverbrechen mitschuldig?
Moralisch auf jeden Fall. Inwieweit das juristisch relevant wird, ist noch nicht klar. Wir hätten aber meines Erachtens nicht nur darauf bestehen müssen, dass die Versorgung der Bevölkerung bei der bevorstehenden Bodeninvasion gesichert ist, sondern alle politischen Hebel in Gang setzen müssen, um Netanjahu und sein furchtbares Kabinett davon abzubringen.
Wo soll das hinführen? Selbst wenn man die Hamas »vernichtet« und den Gazastreifen dem Erdboden gleichmacht, den Widerstand des palästinensischen Volkes wird man nicht brechen können. Mit solch einer Aktion wird nie Frieden in dieser Region eintreten. Das ist nur durch Verhandlungen und den Rückzug aus den besetzten palästinensischen Gebieten insgesamt möglich.
Norman Paech ist Jurist und emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Hamburg
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Leserbrief von Frank Pahlke aus Ebersbach (19. Oktober 2023 um 17:07 Uhr)»Macht sich Deutschland an diesen Kriegsverbrechen mitschuldig?« wird Herr Peach gefragt und er antwortet: »Moralisch auf jeden Fall. Inwieweit das juristisch relevant wird, ist noch nicht klar.« Das sehe ich anders, denn am 30. Juni 20002 trat das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) der BRD in Kraft. In § 11 Absatz 1 VStGB heißt es: »Wer im Zusammenhang mit einem internationalen oder nicht internationalen bewaffneten Konflikt … (5) das Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegsführung einsetzt, indem er ihnen die für sie lebensnotwendigen Gegenstände vorenthält oder Hilfslieferungen unter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht behindert, … wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft.« Das Abschneiden der Bevölkerung des Gazastreifens von allem Lebensnotwendigen, durch die israelische Regierung angekündigt und umgesetzt, verstößt also nicht nur gegen das humanitäre Völkerrecht, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Charta der Vereinten Nationen sondern ist nach bundesdeutschem Recht strafbar. Die räumliche Wirkung des VStGB bestimmt sich nach dessen § 1: »Dieses Gesetz gilt für alle in ihm bezeichneten Straftaten gegen das Völkerrecht, für Taten nach den §§ 6 bis 12 auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist …« § 2 VStGB besagt: »Auf Taten nach diesem Gesetz findet das allgemeine Strafrecht Anwendung, soweit dieses Gesetz nicht in den §§ 1, 3 bis 5 und 13 Absatz 4 besondere Bestimmungen trifft.« Demnach entfaltet auch § 152 StPO Wirkung, also das Legalitätsprinzip, die Strafverfolgung von Amts wegen. Ebenso ist § 29 StGB einschlägig, wo es heißt: »(1) Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat …« Vorsicht also mit bedingungsloser Solidarität für den Staat Israel! So jedenfalls meine bescheidene Meinung. Freundliche Grüße Frank Pahlke
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Leserbrief von Dr. med. Götz Kilburger aus Deutschland,Lauchheim (22. Oktober 2023 um 12:23 Uhr)Sehr geehrte Frau Pahlke, herzlichen Dank für diese sehr gute Recherche. Ich bin kein Jurist und finde es sehr bereichernd, dass es Menschen gibt, die ein aufklärendes, unparteiisches Interesse an der Recherche und Faktensuche haben. Haben Sie Ihren Leserbrief an Olaf Scholz gesendet? Es ist erschütternd, dass das Recht auf Selbstverteidigung herangezogen wird, um Menschen zu peinigen, zu töten und in schwere Not zu bringen – von der wir in unserer behüteten satten Welt – keine Ahnung haben. Haben Sie vielen Dank.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (20. Oktober 2023 um 12:41 Uhr)Ich bewundere Ihr Vertrauen in unsere Justiz auf politischem Gebiet. Diese Paragraphen klingen ja ganz wunderbar, wie auch unser Grundgesetz. Was fehlt, ist eine Staatsanwaltschaft, die nicht weisungsgebunden ist. Aus der Traum … Was fehlt, sind Gerichte, welche sich mit solchen Rechtsverletzungen entgegen dem Mainstream befassen wollen bzw. es dürfen, falls sie wollen. Etwaige Klagen wegen der Unterstützung von Kriegsverbrechen werden im Fall von Israel oder der Ukraine von vornherein nicht angenommen. Es kann sogar passieren, dass derjenige, welcher die Klage einreicht, nach Paragraph 130 wegen Antisemitismus und Volksverhetzung seinerseits angeklagt wird, da sich ja Israel nur zur Wehr setzt und durch den Kläger »verunglimpft« wird. Wird eine Klage ausnahmsweise behandelt, müssen Sie jedem Politiker und Abgeordneten nachweisen, dass er Waffenlieferungen nach Israel billigte zum Zwecke, dass Israel damit Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begeht. Wie schon für die Ukraine werden diese Waffen ausschließlich aus edlen Motiven zur Verteidigung gesandt. Wenn dann die Ukraine oder Israel damit Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung begehen, können Sie diese Staaten vor dem IGH anklagen, nicht aber das selbstlos helfende Deutschland oder seine Politiker. Der IGH nimmt die Klagen dann seinerseits nicht an, nur beim »Kinder raubenden Putin«. Dieses Gericht wird weder von Israel, Russland noch den USA anerkannt. Wenn trotzdem dann noch jemand schuldig gesprochen werden sollte, hilft zunächst die Immunität als Abgeordneter, Minister oder Bundeskanzler, anschließend notfalls eine Erkrankung und Haftunfähigkeit, Bewährungsstrafen, vorzeitige Entlassung. Die Adenauer-BRD der 1950er Jahre bietet da einen reichen Erfahrungsschatz, wie man auch die schlimmsten Verbrecher reinwäscht. Kein Land hat so viel Erfahrung, alle, aber auch alle durchkommen zu lassen, die man durchkommen lassen will.
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Leserbrief von Reinhold Schramm aus 12105 Berlin (17. Oktober 2023 um 14:29 Uhr)Eine ganz andere Fragestellung: Die feudal-religiöse Klassengesellschaft des Islam. Warum können die steinreichen Golfmonarchien für die Fußball-WM mehr als 200. Milliarden Dollar ausgeben, aber nicht 100. Milliarden Dollar für fünf Millionen palästinensische Glaubensbrüder des Islam? Wäre doch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eine Voraussetzung für die Gleichstellung von Palästinensern und Israelis im Nahen Osten! PS: Gibt es doch keine materielle und soziale Solidarität mit den palästinensischen Brüdern und Schwestern des Islam? Verfügt doch das saudische Königshaus über ein Vermögen von mehr als 1.000 Milliarden Dollar/Euro und die königliche Fürstenherrschaft Katars über mehr als 300 Milliarden Dollar/Euro. Zudem sind alle Golfmonarchien mit Milliarden an westeuropäischen und nordamerikanischen Konzernen beteiligt! Sie brauchen den Gegensatz zwischen Palästinensern und Israelis, um ihre feudal-religiöse Macht und Herrschaft über die arabische und islamische Welt zu behalten.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Philipp S. aus Innsbruck (19. Oktober 2023 um 20:32 Uhr)Stimmt schon, allerdings ist es eine komische Grundfrage anzunehmen, dass irgendwelche Länder/Oligarchen primär dafür zuständig wären, jetzt die Beherbergung der Vertriebenen zu übernehmen (sofern sie denen gegenüber Solidarität zeigen/ bzw. kulturell ähnlich sind) und kritisiert werden sollten, wenn sie es nicht tun. Würden die Italiener die Südtiroler vertreiben wäre es wohl auch nicht die erste Frage warum nicht gefälligst die Österreicher sie alle Aufnehmen und durchfüttern sollen, haben ja genug Geld. Vielmehr würde man dann Fragen, weshalb die Italiener denn die Südtiroler vertreiben und ob nicht eigentlich die Italiener die Hauptschuldigen an der Vertreibung sind und nicht primär die blechen sollten. Auch sollte man die Eigennutzorientierung von Kapitalisten nicht als Grundlage einer Verschwörungstheorie stilisieren, dass die Reichen ihr Geld nicht gerne mit ihren armen Brüdern teilen, sondern – wie ihre sehr treffenden ausgewählten Beispiele zeigen – lieber in Konzernbeteiligungen akkumulieren, ist vielmehr die Grundlage des Kapitalismus und Global (auch im »zivilisierten« Westen) leider eher die Regel, als die Ausnahme. (Weshalb sie dies tun, kann man bei Karl Marx nachlesen.) (Nebenbei bemerkt, führt sich der Westen rhetorisch auch immer als der Träger der Menschenrechte aus, sofern es nur leere Worte sind und es nichts kostet. Für Rüstung stehen gerne mal 100 Milliarden bereit, dass man damit auch den globalen Hunger bekämpfen könnte, fällt aber niemanden ein.)
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Josie M. aus 38448 Wolfsburg (17. Oktober 2023 um 16:36 Uhr)Ja, lieber Reinhold Schramm, wohl wahr, aber sitzen wir nicht selber im Glashaus? Und ist jetzt die Zeit, das System der Islamisten anzuprangern? Jedes System hat die Kriminellen, die es verdient. Wir haben bspw. die kapitalistischen Oligarchen. – So, wie bei uns die eigentlichen Profiteure in der Rüstungsindustrie sitzen. Und jedes System hat seine einsamen »Rufer in der Wüste«, die nur von Wenigen gehört werden. Und auch wir schaffen es nicht, die darunter meisten Leidenden zu retten, jedenfalls nicht, wenn wir die Fehler derer anprangern, von denen wir uns menschliches Entgegenkommen wünschen – oder? Josie Michel-Brüning, Wolfsburg
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Josie M. aus 38448 Wolfsburg (17. Oktober 2023 um 10:40 Uhr)Vielen herzlichen Dank für dieses unbedingt verbreitenswerte Interview, vor allem an den Völkerrechtler Norman Paech, Professor em. an der Hamburger Universität! Josie Michel-Brüning, Wolfsburg
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