503 Tage in London
Von Frederic Schnatterer
Es war der Beginn eines 503 Tage dauernden juristischen und politischen Tauziehens. Vor 25 Jahren, in der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober 1998, tauchten im privaten Hospital The London Clinic in der britischen Hauptstadt unvermittelt Beamte von Scotland Yard auf. Dort, in Zimmer Nummer 801, war der frühere chilenische Diktator Augusto Pinochet untergebracht, der zwei Wochen zuvor an der Bandscheibe operiert worden war. Den einzigen diensthabenden Personenschützer des 82jährigen schickten die Beamten aus dem Raum. Pinochet, der gerade noch geschlafen hatte und unter dem Einfluss von Schmerzmitteln stand, fand sich plötzlich seiner Freiheit beraubt – Tausende Kilometer vom Ort der ihm zur Last gelegten Verbrechen entfernt.
In Chile selbst musste der Faschist, der das Land von 1973 bis 1990 regiert hatte, trotz der offiziellen Rückkehr zu bürgerlich-demokratischen Verkehrsformen keine Strafverfolgung befürchten. Daher versuchten Opfer und Hinterbliebene der Militärdiktatur im Verband mit spanischen Juristen dafür zu sorgen, dass Pinochet auf die Anklagebank kommt. Bereits im Juli 1996 hatte der spanische Richter Manuel García Castellón von der Sondergerichtsbarkeit für Terrorismus, Wirtschafts- und Finanzverbrechen in Madrid, der Audiencia Nacional, eine Klage unter anderem gegen Pinochet angenommen. Gegenstand der Ermittlungen, die im Jahr darauf aufgenommen wurden, waren »Verbrechen gegen die Menschheit, die in Chile oder im Ausland von 1973 bis 1990 von Personen, die General Pinochet unterstanden, begangen wurden«. In ihrem Zentrum standen Verbrechen an acht spanischen Staatsbürgern sowie mehreren Nachkommen spanischer Auswanderer in Chile.
Internationaler Haftbefehl
Ausschlaggebend für die Verhaftung Pinochets in London war jedoch ein über Interpol ausgestellter Haftbefehl, den der ebenfalls spanische Richter Baltasar Garzón von der Audiencia Nacional am 15. Oktober 1998 erlassen hatte. Garzón ermittelte in erster Linie gegen die argentinische Militärjunta (1973–1983). Unter deren Herrschaft »verschwanden« rund 30.000 Menschen gewaltsam. Bald erweiterte er die Ermittlungen jedoch auf die Geheimdienste anderer südamerikanischer Staaten, die im Rahmen der sogenannten Operation Cóndor kooperiert hatten, um Oppositionelle auszuschalten. Neben Argentinien, Paraguay, Uruguay und Brasilien war auch Chile Teil dieser »Operation«.
Für den internationalen Haftbefehl stützte sich Garzón exemplarisch auf den Fall des Chilenen Edgardo Henríquez. Das Mitglied der Bewegung der revolutionären Linken (MIR) war im April 1976 in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires gefoltert und dann nach Chile gebracht worden. In die Hände des Geheimdienstes Dina, der direkt Pinochet unterstand. Ab da verliert sich seine Spur. Als Rechtsgrundlage beider Ermittlungen diente das erst kurz zuvor eingeführte neue spanische Gesetzbuch, laut dem sogenannte Verbrechen gegen die Menschheit nicht verjähren und weltweit geahndet werden können.
Die Vorwürfe gegen Pinochet – Verbrechen gegen die Menschheit, Folter und gewaltsames Verschwindenlassen – beziehen sich insbesondere auf die ersten fünf Jahre der Militärdiktatur. Als Chef der Streitkräfte hatte Pinochet die Putschisten angeführt, die der Volksfrontregierung unter Salvador Allende am 11. September 1973 ein blutiges Ende bereitetet hatten. Bis zur formalen »Rückkehr zur Demokratie« im Jahr 1990 stand er an der Spitze des Staates. Offizielle Stellen sprechen von mehr als 3.000 verschleppten oder ermordeten Menschen während der Diktatur. Mehrere hunderttausend Oppositionelle oder vermeintlich Andersdenkende wurden gefoltert.
Den Aufenthalt des Exdiktators in London nutzte Garzón, um bei der britischen Justiz einen Antrag auf Auslieferung Pinochets nach Spanien zu stellen. Dort sollte dann ein Verfahren eröffnet werden. Damit begann das Tauziehen um die Zukunft des Exdiktators, das mehr als ein Jahr dauern sollte. Pinochet war zum Zeitpunkt seiner Festnahme nicht einfach nur der ehemalige Chef eines verbrecherischen Staates. Noch bis zum 10. März 1998 hatte er als Oberbefehlshaber der Streitkräfte fungiert. Nach seinem Ausscheiden aus der Armee wurde er dank eines kurz vor dem Ende der Diktatur beschlossenen Gesetzes zum »Senator auf Lebenszeit« ernannt.
Internationale Verbündete
Pinochets Verteidigung sowie die chilenische Regierung argumentierten, der 82jährige genieße als Senator diplomatische Immunität. So erklärte der regierende Christdemokrat Eduardo Frei direkt nach der Festnahme: »Chilenischen Staatsbürgern muss in Chile der Prozess gemacht werden.« Unerwähnt ließ er dabei, dass ein 1978 beschlossenes Gesetz den chilenischen Militärs Straffreiheit für Verbrechen zusicherte, die während der Diktatur verübt worden waren. Auch andere Staaten, allen voran die USA, setzten sich gegen eine Auslieferung ihres ehemaligen Verbündeten nach Spanien ein – wohl auch aus Angst davor, dass weitere Details über die eigene Verwicklung in die Verbrechen bekannt werden könnten.
Die britische Regierung hingegen gab sich offiziell neutral. So betonte ein Sprecher des damaligen Premiers Anthony Blair, es handle sich um »einen rein juristischen Vorgang«, der »seinen normalen Lauf« nehmen werde. Ende März 1999 kamen die Lordrichter des Oberhauses zu dem Urteil, Pinochet genieße keine Immunität in Großbritannien. Zugleich schränkten sie ein, der Exdiktator dürfe nur für ihm zur Last gelegte Verbrechen nach dem 8. Dezember 1988 belangt werden. An dem Tag hatte Chile die Antifolterkonvention der UNO unterzeichnet. Doch nicht einmal dazu kam es: Am 2. März 2000 entschied der britische Innenminister John Whitaker Straw, Pinochet aus »humanitären Gründen« ausreisen zu lassen. Dem lag mutmaßlich ein Deal mit der chilenischen Seite zugrunde.
Noch am selben Tag flog der ehemalige Diktator zurück in sein Heimatland. Damit gingen für den Faschisten 503 Tage im Hausarrest zu Ende – die er unter durchaus angenehmen Bedingungen verbracht hatte. Das Weihnachtsfest feierte er beispielsweise mit extra eingeflogenen Priestern im Kreise seiner Familie. Nach seiner Ankunft in Santiago de Chile machte er deutlich, dass es mit seinen körperliches Beschwerden, dank derer er der Auslieferung nach Spanien entgangen war, nicht weit her sein konnte: Er erhob sich mit Leichtigkeit, um seinen Anhängern zujubeln zu können.
Gute sechs Jahre später, am 10. Dezember 2006, starb Pinochet. Auch wenn nach seiner Rückkehr nach Chile immer wieder Verfahren gegen ihn eingeleitet worden waren – verurteilt wurde er nie. Trotzdem brachte seine Festnahme in London gerade in Chile Strafverfahren gegen Täter der Militärdiktatur ins Rollen – nicht zuletzt die Verurteilungen von Exmilitärs wegen der Ermordung des Musikers und Kommunisten Víctor Jara im August dieses Jahres.
»Ein Faktor der internationalen Anarchie«
Aus einem Brief des chilenischen Außenministers José Miguel Insulza an UN-Generalsekretär Kofi Annan:
»Herr Generalsekretär,
ich habe auf ausdrückliche Anweisung meiner Regierung die Ehre, mich an Sie, Herr Generalsekretär, zu wenden, um Sie über die Besorgnis der Regierung von Chile angesichts einer Situation zur Kenntnis zu bringen, die auf eine Missachtung des geltenden Völkerrechts und der Ziele und Grundsätze der Charta de Vereinten Nationen hinausläuft und die einen schwerwiegenden Präzedenzfall für die freundschaftlichen Beziehungen der Staaten darstellen könnte. Diese Situation ist durch die Verhaftung des chilenischen Senators Augusto Pinochet Ugarte in London entstanden. (…) Wie meine Regierung wiederholt erklärt hat, beruht ihr Anliegen in diesem Fall ausschließlich auf der Notwendigkeit, bestimmte Grundprinzipien des Völkerrechts zu verteidigen. (…) Nach Ansicht der chilenischen Regierung darf die Tendenz zur Universalisierung der Justiz und der Menschenrechte, die es zu fördern und zu stärken gilt, nicht auf Kosten der Souveränität der Staaten und ihrer rechtlichen Gleichheit verfolgt werden. Wenn diese Grundsätze durch einseitige Maßnahmen verletzt würden, würde die Universalität der Strafgerichtsbarkeit zu einem Faktor der internationalen Anarchie werden, der es den mächtigsten Staaten erlauben würde, sich die Macht anzumaßen, selektiv den Schwächsten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die internationale Gemeinschaft kann eine solche Situation nicht akzeptieren.«
Brief veröffentlicht im Anuario Social y Político de América Latina, FLACSO, Nueva Sociedad. 1998/2
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