»Ermittlungen sollen vom größeren Skandal ablenken«
Interview: Kristian Stemmler
Im sogenannten Neukölln-Komplex, einer Serie rechter Anschläge von 2013 bis 2019, von denen auch Sie betroffen waren, wird gegen einen Polizeibeamten, Norbert M., ermittelt. Wer ist dieser Beamte, und was ist der Hintergrund der Ermittlungen?
Norbert M. ist ein Polizeibeamter, der mit dem »Neukölln-Komplex« befasst war, erst in der Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus – »EG Rex« – und dann bis 2021 in der Nachfolgeorganisation, der Operativen Gruppe Rechtsextremismus, »OG Rex«. Seine Aufgabe war es, Kontakt mit den Betroffenen vor Ort zu halten und auch die Stimmung im Kiez zu beobachten. In der letzten Septemberwoche war bekannt geworden, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eröffnet wurde. Er soll Dienstgeheimnisse, die die Ermittlungen im rechten Neuköllner Milieu betreffen, weitergegeben haben. Die Informationen seien möglicherweise auch in die rechte Szene gelangt. Sieben Orte wurden durchsucht, darunter auch M.s Wohnung.
Nach Medienberichten soll M. die fraglichen Informationen an jemanden weitergegeben haben, der sich lediglich als Neonazi ausgab. Was ist da dran?
Tatsächlich soll Norbert M. die Informationen an eine Person weitergegeben haben, die, wie sich herausstellte, eher dem linken Spektrum zugerechnet wird und versucht haben soll, die rechte Szene zu infiltrieren. Aber ganz genau wissen wir das nicht. Daher bleibt die Annahme zweifelhaft, dass es sich um einen Linken handelt.
Wie ordnen Sie die Ermittlungen gegen M. ein?
Ich halte sie für fragwürdig, vor allem auch, weil sie unmittelbar vor einer Sitzung des Untersuchungsausschusses zum »Neukölln-Komplex« stattgefunden hat. Es war bekannt, dass Norbert M. als Zeuge zu dieser Sitzung geladen war. M. ist ein Beamter, der den Betroffenen eher wohlgesonnen war und ihnen das Gefühl gab, für Aufklärung sorgen zu wollen. Dass bei ihm kurz vor seiner Aussage eine Hausdurchsuchung stattgefunden hat, erweckt den Eindruck, dass man ihn mundtot machen wollte.
Und dann sind die Ermittlungen gegen M. vermutlich ein Ablenkungsmanöver, sollen vom größeren Skandal ablenken. In der vergangenen Woche hat im Ausschuss ein LKA-Beamter ausgesagt, der die rechten Strukturen sehr lange beobachtet hat. Dabei musste er feststellen, dass die Nazis Informanten bei der Polizei haben müssen. Es gibt zum Beispiel einen Beamten, der bei der AfD ist, mit einem der Hauptverdächtigen in einem Chat war und dort Informationen weitergegeben hat.
Wie haben die Betroffenen der rechten Anschläge auf die Ermittlungen gegen M. reagiert?
Der Beamte war für uns Betroffene tatsächlich eine Vertrauensperson. Daher war die Nachricht, dass jetzt gegen ihn ermittelt wird, für viele, die zu ihm eine vertrauensvolle Beziehung hatten, ein Schock. Der ganze Wirrwarr erzeugt bei mir als Betroffenem Angst.
Norbert M. ist kurz nach den Durchsuchungen im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses angehört worden. Wie ist er dort aufgetreten?
Im Ausschuss kam er sehr glaubwürdig rüber. Er beantwortete fast alle Fragen, auch solche, die das gegen ihn anhängige Ermittlungsverfahren berühren könnten. Er hat erklärt, dass sich die Anschuldigungen gegen ihn nicht bewahrheiten werden. Für mich wäre wichtig, dass wir hier weiter recherchieren.
Im Ausschuss soll auch noch der Beamte Stefan K. vernommen werden, der wie Norbert M. in der »EG Rex« Dienst getan hat. Was hat es mit diesem Zeugen auf sich?
Stefan K. verprügelte im April 2017 gemeinsam mit Fußballfans einen afghanischen Asylsuchenden und beleidigte ihn rassistisch. Dafür wurde er rechtskräftig verurteilt. K. ist immer noch im Polizeidienst, und ich fordere als einer der Betroffenen der Anschlagserie und als Abgeordneter, dass dieser Beamte aus dem Polizeidienst entfernt wird. Der Geflüchtete, der nach Afghanistan abgeschoben wurde, muss wieder in die BRD kommen können.
Ferat Koçak ist Sprecher für antifaschistische Politik, Strategien gegen rechts und Klimapolitik der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus
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