Jugendhilfe im Dauerfrust
Von Alexander Reich
»Willkommen zum 1. Kinder- und Jugendhilfegipfel in Berlin«, rief Verena Bieler am Dienstag von einer Bühne vor dem Roten Rathaus. An die 300 Teilnehmer aus verschiedenen Einrichtungen waren vor Ort. Ihnen musste die Vorsitzende eines Berufsverbands für Soziale Arbeit nicht erklären, was die Verwerfungen in der wachsenden Stadt für die Jugendhilfe bedeuten. Und dennoch, so Bieler, werde »immer weiter gekürzt und gekürzt und gekürzt, und das hat jetzt ein Ende«. Sie musste an dieser Stelle kurz auflachen.
Der Veranstaltungstitel spielte auf die »Jugendgewaltgipfel« an, die der Senat nach den »Silvesterkrawallen« ausgerichtet hatte. Etlichen Schulklassen wurde fix ein recht absurdes »Antigewalttraining« übergeholfen, während es in den Hilfeeinrichtungen ungebremst weiter bergab ging. Daraufhin protestierten Anfang Juli Hunderte Beschäftigte vor der Senatsverwaltung für Jugend und Familie gegen den »Kollaps«. Der dortige Staatssekretär Falko Liecke (CDU) erklärte sich bereit, über »konkrete Forderungen« zu sprechen. Die wurden nun am Dienstag für ihn ausgearbeitet.
Die Teilnehmer teilten sich in sieben »Workshops« auf und besprachen im Nieselregen vor dem Roten Rathaus, was das dringlichste wäre. Mitarbeiter der Jugendämter, organisiert in der AG Weiße Fahne, überlegten, wie man Kollegen zum Bleiben bewegen könne. Inflationsausgleich? Anerkennung? Begrenzung der Fälle, für die einer zuständig sei? »Bei uns sind es 120 bis 180 Fälle für jeden«, sagte eine. »Und 80 Prozent ist Doku«, ergänzte jemand. »Die Hälfte von uns ist dauerkrank oder krank oder vielleicht in Mutterzeit«, war noch zu hören. Und dass in Marzahn-Hellersdorf der einzige Pkw, eine Spende, im kommenden Jahr nicht mehr zur Verfügung stehe. »Da muss ich dann mit fünf Kindern, die ich gerade in Obhut genommen habe, in die Tram oder den Bus.« Die Finanzierung der Vorhaltung freier Therapieplätze wäre auch nicht schlecht, genauso bezahlbare Mietwohnungen für Beratungsstellen und Hilfeeinrichtungen.
Zwischen Zeltplanen hingen Zeitungsberichte über »Brandbriefe«, »Alarmstufe Rot im Jugendamt«, eine Krankenquote von 60 Prozent beim Kindernotdienst etc. Die ältesten dieser Berichte waren zehn Jahre alt. Viel hat sich seit 2013 nicht getan, bestätigte Fabian Schmidt, der für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) als Komoderator durch den Vormittag führte, gegenüber jW. »Punktuelle Verbesserungsversuche« hätten »manchmal Linderungen gebracht, aber das hat nie ausgereicht, um die wachsenden Bedarfe abzudecken«. Die Fälle würden »härter«, »die Schere zwischen Arm und Reich macht sich bemerkbar«, und während es an allen Ecken knirsche und krache, klebe der Senat »hier und da mal ein Pflaster« auf einen Riss.
Der Gipfel hier solle vor allem »das Zusammengehörigkeitsgefühl« stärken, so Schmidt. »Wir wissen, dass unsere Probleme zusammenhängen, und müssen unseren Frust nicht beim Jugendamt abladen, sondern damit zusammen an den Senat und die Bezirke.« Hier also an Staatssekretär Liecke, der sich im Laufe der Präsentation der Workshopergebnisse einfand. In seinem Rücken hingen zwei Pappschilder des Kinderschutzbundes an einer Laterne: »Falko, wo ist deine versprochene Handynummer? Wenn dir Kinderschutz wirklich wichtig ist, meld dich. Unsere Nummer hast du ja.« Und darunter: »Liecke, beantrag ALG I, Leistung muss sich wieder lohnen«.
Über Lieckes Vorgänger Aziz Bozkurt hatte es im Workshop »Hilfe zur Erziehung« geheißen, der habe »sich wirklich gewundert, dass es so was noch gibt: unbezahlte Nachtschichten, aberwitzige Personalbemessung – die Politik muss sich immer erst einarbeiten, und mit so was gewinnt man keine Wahlen«. Als hätte er das mitbekommen, versicherte Liecke: »Wir kennen die Zustände.« Und: »Buhrufe helfen auch nicht weiter.« Im übrigen verspreche er nur, was er auch halten könne, und so wurde an diesem Tag nicht mehr als ein »Folgegespräch« im ersten Quartal des kommenden Jahres verabredet.
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