Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
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Aus: Ausgabe vom 30.09.2023, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Die Zollsiedlung

Von René Hamann

Die Mondlandung.

Den Arsch voll kriegen. Senge bekommen.

Der Popo hat Kirmes.

Der unbewusste Wunsch, bestraft zu werden. Weil man böse war.

Gewalt erzeugt Gegengewalt. Die Gründe für Gewalt liegen in der Gewalt. Wer Gewalt sucht, wird Gewalt finden. All diese Gewalt.

Das Gute, das Böse. Die christliche Moral. Das Normale.

Auge um Auge, Zahn um Zahn. Auf den Zahn gefühlt. Aufs Auge gedrückt. Ein Auge zugemacht, Matratzenabhorchdienst.

Das hilflos Autoritäre des Vaters, das sich in Gewalt entladen musste.

Die glühende, nahezu geifernde Wut in den Augen der Mutter.

Der Bösewicht, die Bösewichtin. Ein Feuer mit Wutproblemen.

In den Biographien von Nazis, von Mördern, von Mafiosi wird man in ihren Kindheiten was finden? Exzesse von häuslicher Gewalt. Gewalt, tonnenweise.

Chinesische Nachtschwestern, die im fernen Osten in ferner Zeit überzählige Säuglinge mit Kopfkissen erstickten, oder waren das chinesische Wäscherinnen?

Das Dreieck der Familie, das Dreieck der Gewalt. Gefühlskälte, Traumata, Aversionslernen, das soziale Gehirn.

Das Schlimme ist, dass sie dich schlagen und dir dann vermitteln, dass du selbst daran schuld bist. Du hast dir die Schläge verdient, hieß das. Du hast dir die Gewalt verdient. Du bist selbst schuld an dem Elend, das dir zugefügt wird. Warum hast du auch einen eigenen Willen, der dem meinen entgegensteht?

*

Alles, was ich machen wollte, wollte ich ohne sie machen.

Ohne die Eltern.

Familienfeste. Tückische Hochzeiten. Macht und Prunk.

Nicht steuerbare Kanonenkugeln in überbelichteten Festsälen.

Festsäle mit Kegelbahnen. Männer und Frauen in Schwarzweiß.

Abgelichtet. Alte Familien auf alten Familienfotos.

Verschlissene Jeans, verwaschene Shirts. Schlechte Zähne.

Niemand hatte Geld. Geld existierte gar nicht. Es gab keines; es war so abwesend, dass nicht einmal die Abwesenheit von Geld bemerkt wurde.

Jeder Cent zählte. Jeder Groschen.

Ich war der Täter. Ich klaute ein Fahrrad.

Nein, mir wurde ein Fahrrad geklaut. Die Familie unternahm eine Fahndung durchs Dorf, und tatsächlich tauchte mein Fahrrad in irgendeinem Hinterhof wieder auf. Jemand hatte es mitgehen lassen. Aus Rache? War es ein Junge, der sich für ärmer hielt? Konnte er mich nicht leiden? Ich war der Täter, ich fühlte mich schuldig an dem Diebstahl an meinem Fahrrad. Stellten die Eltern den Jungen zur Rede? Was erklärten sie mir? Ich konnte mich nicht erinnern.

All diese Gewalt. Gesammelte Schnecken auf den Globus setzen, den es zu Weihnachten gab. Dann den Globus hart drehen. Die Schnecken fliegen durchs Zimmer, wir lachen uns scheckig.

Regenwürmer zerteilen. Fliegen entmannen. Autos klauen, also kleine Matchboxautos, Fußbälle sein eigen nennen, die niemals sein eigen waren. Schläge erteilen. Die Kameraden in eine Kiste sperren, nur ganz kurz, also gerade so kurz, bevor es gefährlich wird.

*

Filme im Jugendheim sehen, Filmvorführungen im Kolpinghaus, die Szene aus »Das fliegende Klassenzimmer«, in dem der eine Junge entführt, in den Keller gesperrt, an einen Pfahl gebunden und mit stündlichen Ohrfeigen bestraft wird. Bestraft, wofür?

Kolpinghäuser. Visionen von Bischofsmützen. Wunsch, von Nonnen bestraft zu werden. Lustvolle Nonnen kommen gut miteinander aus. Nonnen in klassischen Dessous. Nonnen, die vor Bischöfen mit wackelnden Mützen knien. Nonnen, deren Kruzifixe an den Halsketten oberhalb der nackten Brust baumeln, pendeln. Nonnen, die Papstpornos herunterladen.

Nonnen, die dich lustvoll bestrafen, für die Lust, die du hast, eine Ohrfeige pro Stunde.

Intimitätskoordinatorinnen.

Das weiße, weiche Fleisch.

Die Leugnung. Die katholische Großfamilie. Die Spuren der Geschichte. Die Fehlbarkeit des Papstes. »Das weiße Band«.

Zum ersten Mal den Begriff »schwarze Pädagogik« hören. Als es fast schon zu spät ist. Alice Miller lesen, noch später, am Ende der zweiten Psychoanalyse. Noch immer, noch viel später, eine Schutzgeste machen, Hände schützend vors Gesicht halten, bei jedem nur verbalem Angriff.

Angriff und Gegenangriff. Gewalt und Gegengewalt. Wart und Gegenwart.

Der Schlager, die Schläge, der Beat, die Hits. »The hits hurt.« »Schlager schlagen ein.«

*

Schere, sagte Clarissa. Teppichklopfer, sagte ich. Als wir uns über die Strafen der Eltern austauschten. Über die Folterinstrumente, Strafwerkzeuge. Dann jagte sie mich, rannte mir hinterher, setzte sich auf mich, um mich mit Zunge zu küssen.

Ich war der Täter. Der Täter war ich. Ich wurde geschlagen, ich schlug.

Ich war so voller Hass. Ich war kaputt, drehte frei.

Es gab einen Söller. Einen Dachboden. Zwei Dachböden, ein Rumpelboden, einer für die Wäsche. Die Nachbarin hängte die Wäsche auf. Bettlaken, Tischdecken. Der Nachbarsjunge zog sich aus. Ich sperrte ihn in eine Truhe und setzte mich auf den Deckel. Nach zwei Minuten durfte er wieder raus.

Ein Jahrzehnt später sang er im Chor. Unfassbar tiefe Stimme, die ihm die Pubertät eingebrockt hatte. Trotz der Stimme, trotz des Talents wurde ihm die Karriere in der Musik versagt, aus Geld- oder anderen Gründen. Ein furchterregend tiefer Bass.

Er war wie ein Bruder für mich. Er war wie meine andere Hälfte, der Mr. Hyde zu meinem Dr. Jekyll, oder andersherum, ein von mir abgespaltener Teil, der böse Bruder, der auch ich war und eben nicht, er trug den Namen, den ich hätte haben sollen, einen, der meinem so ähnlich war, er war der imaginäre Freund, der imaginäre Bruder, der wahr geworden war.

Mütter und Väter. Sie war die große Maschine, die vorne in die Pedale trat. Er ist der, der starb. Nein, stimmt nicht.

Sie starben nicht. Niemand starb. Sterbende Väter, tote Väter überall, im Kino, in den Büchern, aber nicht hier in der Wirklichkeit.

Alkoholismus, die Liebe zum Tod. Der Vater, die Frauen.

Ich habe das Abitur gemacht, aber es war mir psychisch nicht möglich, das Studium abzuschließen. Ich war zu sehr in meiner Familie, in alten Familiengeschichten verstrickt. Es war die Angst davor, den Eltern überlegen zu sein.

Sie sterben.

*

Sterbende Väter, tote Väter überall, in den Büchern, im Fernseher, im Kino.

Wie sterben sie? Gehen ihre Körper aus? Saufen sie sich zu Tode? Schlucken sie eine Handvoll Pillen? Ereilt sie ein Schlaganfall beim Starten der Zündung im Auto? Die gute Seite, die böse Seite. Unterschätzen sie einen Hautkrebs, einen Prostatakrebs, eine Lungenentzündung? Sterben sie am Lebenskummer, an der Pein der Arbeit, an der Enttäuschung, an der Arbeit? Fallen sie sich in die Arme, siechen sie dahin, legen sie sich an den Strand und blinzeln in die Sonne, bis der Tod kommt? Schwimmen sie zu weit raus?

Todesarten: Von der Hochzeit der Tochter vorzeitig zurück ins Hotel, weil irgendwie müde. Das Stück Schokolade vom Kopfkissen nehmen, das Knitterpapier entfalten, sich die Schokolade in den Mund stecken. Noch einmal im Zimmer herumgehen, zum Fenster, um hinauszusehen oder es zu öffnen, ins Bad. Auf dem Weg zum Bett einen Schlag bekommen, hinfallen, tot sein, die Schokolade noch halb im Mund.

Es war etwas anderes, es sind andere Zeitläufe, jeder hat nur den einen Zeitlauf zu leben, nur den einen Lebenslauf, es ist etwas anderes, die Wirtschaftswunderjahre oder die Zeit der Wende oder den 11. September oder die Coronapandemie mit 20 oder mit 80 zu erleben.

Die Deutschen sind ein schlimmes Volk.

Es gibt aber auch anderswo Gewalt.

Ich bin gegen das Militärische. Gegen alles Religiöse. Symptome des Toxischen; sicher auch des Männlichen, aber eben nicht nur.

Ich stehe am Tafelberg und träume.

Träume von Räumen, Baracken, U-Bahnen, Partys und Bars. Träume davon, das Abitur, das Studium nicht zu schaffen.

Träume von schlechten Zimmern, Unterkünften, Träume von Baracken.

Innenraumszenen in Fensternähe. Autoritäre Nähe.

Es ist keine höhere Auflösung vorhanden.

Warum wollen wir alle Töchter? Kommen Töchter besser mit Gewalt zurecht? Bekommen Töchter weniger Gewalt ab? Sind Töchter die Lösung der Gewaltprobleme? Die Wüstenlogik, die Heimsuchung.

Askaris im Wüstensand. Fern der Heimat. Im Sand Käfige mit Kindern. Aber waren die Stäbe nicht zu weit auseinander? Wovon handelten die Alpträume, die mich Nacht für Nacht heimsuchten? Aufzüge, Treppenhäuser, Korridore, ein kleines Licht, das man in der Ecke in die Steckdose stecken konnte, damit die Angst nicht soviel Raum einnahm im Dunkeln.

Es gab keine Stille.

*

Ich war drei, ich war sechs, ich war zwölf, ich war 16. Ich war noch nie 68. Ich war noch nie 80. Ich habe keine Erfahrung damit.

Denke ich manchmal, ich hätte sterben können?

Spannungszustände, Invasionen, Divisionen, den Blick der Polizei übernehmen, um der Wahrheitsfindung zu dienen.

Man erwarte noch schwere Waffen.

»Sie hatte nicht nur die Latte zu befürchten.«

»Wer seine Töchter nicht schlägt, schlägt seine Knie.«

Als ich Vater wurde, wurde ich sukzessive zu meinem Vater.

Jetzt, da ich mein eigener Vater geworden war, passten mir seine Anzüge. Ich sprach neue Inhalte, ich führte ein knappes Eheleben.

Ich war ein später Vater. Ich hatte mir die erste Ehe gespart und begann mit der zweiten. Ich hatte 50 Jahre gemacht, was ich wollte. Stimmt nicht, Kindheit und Jugend muss man abziehen.

Bleibt 32, das beste Alter, um Kinder zu kriegen. Kind, Kinder.

Erste Jugend bis 18. Zweite Jugend bis 36. Dritte bis 54.

Vierte bis 72. Fünfte und letzte Jugend bis 90. Danach Bonusjahre.

Durchschlafen war ein Traum. Jemand mit Krebs meinte, am Anfang sei es schön, da sei man noch die erste Kontaktperson, später führten sie ihre eigenen Leben.

Moral, die nicht die meine war.

Ein Loch in der Jeans der Mutter. Ein Memento mori.

Sie war übertragen, ich liebte sie mit kleiner Münze.

Das Geschrei der Kinder ging nahtlos in das Krächzen einer Krähe über.

Man sagte mir, ich sei der Täter.

Ich sterbe wie eine Fliege.

René Hamann, geboren 1971 in Solingen, lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Schriftsteller und Journalist. Von 2011 bis 2013 war er Literaturredakteur dieser Zeitung.

An dieser Stelle erschien von ihm zuletzt in der Ausgabe vom 13./14. November 2021 »­Stoptrein«

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