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Aus: Ausgabe vom 30.09.2023, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Migration

Chinatown in Prato

Bekleidungsindustrie in Italien: Tausende Chinesen leben und arbeiten in toskanischer Stadt. Verhältnisse verbessern sich
Von Francesco Bertolucci
Wiederkehrende Kontrollen: Inspektion einer Textilfabrik in der Via Pistoiese (Prato, 19.11.2009)
Das chinesische Neujahrsfest wird auch in Prato gefeiert
Neben dem Christentum zählt der Buddhismus zu den in Prato ­gelebten Religionen

Prato ist eine toskanische Stadt, die seit dem 13. Jahrhundert in Italien und Europa für Stoffe und Garne bekannt ist. Heute wird mit der Herstellung von Kleidung ein Gesamtumsatz von über sieben Milliarden Euro erzielt. Fragt man jedoch einen Toskaner nach der Stadt Prato, wird er wahrscheinlich scherzhaft antworten: »Ah, Prato, die Stadt der Chinesen.« Das verweist auf die Präsenz von Menschen chinesischer Herkunft, von denen die meisten im Industriegebiet von Macrolotto und Via Pistoiese leben. Knapp 30.000 der insgesamt etwa 195.000 Einwohner Pratos gehören der chinesischen Gemeinschaft an – die ersten von ihnen kamen Mitte der 1980er Jahre. Damit hat Prato die zweitgrößte chinesische Gemeinschaft in Italien nach Mailand, wo es 30.700 von mehr als 1,3 Millionen Einwohnern sind.

Die meisten der in Prato lebenden Chinesen stammen aus Zhejiang, einer Region im Süden Chinas, und insbesondere aus der Stadt Wenzhou. Wenn man die Via Pistoiese hinuntergeht, fallen neben dem angenehmen Geruch von Gewürzen die vielen Geschäfte mit zweisprachigen italienisch-chinesischen Schildern auf. Solche Zeichen wurden 2009 durch eine kommunale Verordnung des ehemaligen Mitte-rechts-Bürgermeisters Roberto Cenni eingeführt. »Die Schilder wurden aufgestellt, weil viele von ihnen nur auf Chinesisch beschriftet waren«, erklärt Gianni Capobianco, Inhaber der Bar Lo Scalino in der Via Pistoiese. »In dieser Gegend gibt es nur noch vier bis fünf italienische Geschäfte, der Rest ist chinesisch. Nicht, dass das ein Problem wäre, wir arbeiten dort gut. Aber ich gebe zu, dass es auf den ersten Blick ein bisschen seltsam sein kann.«

Wirtschaftsmacht

Die chinesische Präsenz ist hauptsächlich wirtschaftlicher Natur. Bereits im Mittelalter wurde in Prato dank des reichlich vorhandenen Wassers des Flusses Bisenzio Wolle gesponnen. Mit der Industrialisierung wurde das Gebiet zu einer kleinen Wirtschaftsmacht. Nach der Krise in den 1990er Jahre kamen viele Wirtschaftsmigranten aus China. Diese wurden von den Unternehmen des Sektors oft billig ausgebeutet. Aus einfachen Arbeitskräften wurden dann viele, die zu investieren begannen. Und die Präsenz asiatischer Unternehmen hat sich explosionsartig entwickelt: Laut einem Bericht der Handelskammer von Prato machte die chinesische Produktion zum 31. Dezember 2019 allein 55,4 Prozent des gesamten Industriesektors der Provinz aus. Es gibt 3.800 chinesisch geführte Bekleidungsunternehmen, was 88,4 Prozent der Gesamtzahl entspricht, während es im Textilbereich 419 sind, was 22,1 Prozent entspricht. Der Jahresumsatz des Textil- und Bekleidungsbezirks von Prato, der mit seinen 98 Quadratkilometern die kleinste italienische Provinz ist, belief sich im selben Jahr auf 7,25 Milliarden Euro, ein guter Teil des gesamten italienischen Umsatzes in dieser Industrie – knapp 56 Milliarden Euro.

»Die Chinesen haben uns die Arbeitsplätze weggenommen«, moniert Francesco Bianchi, ein Fabrikarbeiter, im Gespräch. Eine Studie des regionalen Instituts für Wirtschaftsplanung der Toskana, IRPET, aus dem Jahr 2015 besagt jedoch, dass das BIP der Region um 22 Prozent niedriger wäre, wenn es keine chinesische Gemeinschaft in Prato gäbe, wobei direkte, indirekte und induzierte Effekte berücksichtigt werden. Die Wertschöpfung der nichtchinesischen Unternehmen würde um neun Prozent sinken, während die regionalen und ausländischen Importe um 36 bzw. 39 Prozent zurückgehen würden. »Die Chinesen haben hauptsächlich Textilwerkstätten in den Bekleidungsfabriken eingerichtet, im Gegensatz zu den traditionellen Unternehmen in Prato, die sich der Herstellung von Stoffen und Textilien widmeten«, erklärt Saida Petrelli, Sprecherin des Verbands Confindustria Toscana Nord. »Die Behauptung, sie hätten den lokalen Unternehmen Arbeitsplätze weggenommen, ist also nicht wahr. Ganz im Gegenteil. Sie haben jedoch andere Dinge getan, die schädlich waren: in erster Linie … wie soll man sagen … illegale.« Es kommt tatsächlich häufig vor, dass einige Eigentümer chinesischer Unternehmen in den lokalen Nachrichten auftauchen. Unter anderem wegen Steuerhinterziehung in Höhe von Tausenden, wenn nicht Millionen von Euro, Geldwäsche oder Umweltverschmutzung, wobei die Verarbeitungsabfälle auf illegalen Deponien oder in Flüssen abgeladen wurden. Oder wegen des Verdachts auf internationale Transportbetrügereien, als 2017 in Iolo, einem Weiler in der Gemeinde Prato, ein Lkw mit Kleidung einer pakistanischen Firma in Brand gesetzt wurde. Dieser Fall steht im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Unterwanderung der lokalen Wirtschaft durch die chinesische Mafia und hat zu Verhaftungen und einem ersten Gerichtsverfahren in Prato geführt, das noch nicht begonnen hat und an dem 55 Personen, darunter sieben Italiener, beteiligt sind. »In den Zeitungen lesen wir, dass es eine chinesische Mafia gibt. Ob es sie gibt, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall spürt man ihre Präsenz nicht«, sagt Chiara Innocenti, die in der Nähe von Macrolotto wohnt.

Im Visier der Behörden

Der Löwenanteil der lokalen Nachrichten ist jedoch der Ausbeutung der irregulären Einwanderung oder der Schwarzarbeit vorbehalten. Die ist zusammen mit den Arbeitsbedingungen ein Problem, das vor fast zehn Jahren ins internationale Rampenlicht geriet, als im Dezember 2013 beim Brand in der Firma Teresa Moda sieben Menschen starben, von denen einige illegalisierte Einwanderer waren. Die Angestellten des Unternehmens, alle chinesischer Herkunft, arbeiteten, aßen und schliefen in der Fabrik, in Schlafsälen aus Gipskartonplatten. Einer der Toten wurde in einem Schlafanzug gefunden. Dieser Vorfall war der Auslöser für eine Reihe umfassender Kontrollen, die die Region Toskana für alle Unternehmen einführte. Eine Taskforce, an der die örtliche Gesundheitsbehörde, das Gewerbeaufsichtsamt, die Polizei und die Carabinieri beteiligt sind.

Seit Jahren kommen die Kontrolleure zusammen mit der Polizei. »Es kommt zwar vor, dass sie Fotos von uns machen und sie auf Wechat teilen«, erklärt Kontrolleurin »Silvia«. Aber die Situation habe sich in den vergangenen Jahren verbessert. Viele Unternehmen seien in Ordnung. »Wir stellen zwar immer noch Unregelmäßigkeiten fest, aber die Arbeiter schlafen nicht mehr dort, wo sie arbeiten. In der Regel schlafen sie jetzt im Haus nebenan, das an eine andere Person als den Firmeninhaber vermietet ist.« Das werde aber oft wegen der schlechten hygienischen Verhältnisse beschlagnahmt, was wiederum dem Eigentümer das Leben erleichtere: »Das Unternehmen wird nicht mehr beschlagnahmt und kann weiterarbeiten«, so »Silvia«. Wenn es zu Unregelmäßigkeiten komme, »werden sie mit Geldstrafen belegt, sogar mit Tausenden von Euro, die sie bar bezahlen, ohne mit der Wimper zu zucken, während die Arbeiter über ein Netzwerk von Bekannten sofort eine andere Wohnung finden«.

Die Häuser oder Grundstücke, die die Menschen chinesischer Herkunft dann zur Miete finden, so erklären die Polizisten, gehören in der Regel Italienern, die oft zu überteuerten Preisen vermieten. Neben den schlechten hygienischen Bedingungen in den Wohnungen mit Betten, die von den Mietern selbst auf der Terrasse aufgestellt werden, fällt auch die Zahl der Energizer und Aufputschmittel auf, die den Arbeitern in jedem Unternehmen zur Verfügung stehen. Viele bleiben ein paar Jahre hier, arbeiten lange, um soviel Geld wie möglich zusammenzukratzen, und gehen dann wieder nach Hause. Sie sind meist zwischen 20 und 40 Jahre alt und sprechen im allgemeinen wenig oder gar kein Italienisch. »Das liegt daran, dass sie bei ihrer Ankunft über ein Beziehungsnetz verfügen, das ihnen sofort einen Job verschafft und es ihnen ermöglicht zu leben, ohne Italienisch zu lernen«, erklärt Marco Wong, ein Italiener chinesischer Herkunft, der 2019 zum Stadtrat von Prato für die mit dem Partito Democratico verbundene Lista Civica Biffoni gewählt wurde. Der Präsident von Associna, einer chinesischen Vereinigung der zweiten Generation, erzählt weiter: »Ein Leben, das sehr auf die Arbeit ausgerichtet ist, bedeutet, dass viele Menschen wenig Interesse daran haben, Italienisch zu lernen, abgesehen von dem, was unbedingt notwendig ist. Dies ist bei Chinesen der zweiten Generation nicht der Fall.« Integration findet aber statt, auch wenn viele das Gefühl haben, dass dies ein Ort des Übergangs ist.

»Made in Italy«

»Jedes Jahr gibt es mindestens eine oder zwei Wellen von Menschen, die kommen und gehen«, bestätigt auch Federico Santini, ein Musiklehrer, der in der Via Pistoiese wohnt, »so dass nur wenige hier Wurzeln schlagen. Integration findet statt, und es gibt keine großen Probleme zwischen den Gemeinschaften und auch viele gemischte Ehen. Es muss aber gesagt werden, dass es sich um eine geschlossene Gemeinschaft handelt, und es kommt oft vor, dass viele Kinder kein Italienisch sprechen, da sie den ganzen Tag in chinesischen Horten verbringen und nur Chinesisch sprechen«. Das führt auch zu Problemen im religiösen Bereich und zu neuen Spaltungen. Die katholischen Priester in Prato halten die Messe auf Italienisch. In der Kirche Ascensione al Pino in der Via Galcianese wurde ein chinesischer Priester gerufen, um seinen Landsleuten die Messe in chinesischer Sprache zu lesen. »Ich bin hier, weil es so viele chinesische Katholiken gibt«, erklärt Pater Paolo Hou, »es sind etwa 300.« Das mag wenig erscheinen, aber es ist ein Prozent der chinesischen Bevölkerung in Prato, das entspricht dem Anteil der Katholiken in China, wo es 13 Millionen von 1,4 Milliarden sind.

Wichtiger sind die wirtschaftlichen Auswirkungen auf das Gebiet. »Die Chinesen haben einen starken Einfluss auf die Wirtschaft von Prato und Umgebung«, sagt Giancarlo Maffei, ein Unternehmer, der enge Arbeitsbeziehungen zu China unterhält. »Inzwischen ist Prato ein wichtiger Bezugspunkt für den Handel mit Billigkleidung in ganz Europa und darüber hinaus.« Um die Auswirkungen auf den Rest der Welt zu verstehen, muss man nur Pronto Moda im Ortsteil Iolo besuchen, ein Unternehmen, das in die Kategorie »Bekleidung« eingeordnet wird und in dem man Kleidungsstücke findet, die nach dem Prototyp hergestellt werden und innerhalb kurzer Zeit auf den Markt gebracht werden können. Die vielen Kleidungsstücke, die man dort findet, haben alle kein Etikett. »Wir kleben das Etikett an, das der Käufer uns gibt«, erklärt Li Wang, Arbeiter bei Pronto Moda: »Es kommt zum Beispiel bald eines aus Mailand. Letzte Woche kamen sie aus Deutschland und Belgien. Der Käufer wählt das Modell aus und macht es praktisch zu seinem eigenen«. Das ist nichts Neues.

Es ist seit Jahren bekannt, dass viele Modemarken für ihr »Made in Italy« oft indirekt auf chinesische Unternehmen in Prato zurückgreifen. Indirekt deshalb, weil die fertigen Produkte über einen Ring von Subunternehmern zu ihnen gelangen und sie es vielleicht nicht einmal wissen. Daran ist nichts Illegales: Denn die Kleidung wird in Italien und von Unternehmen in diesem Gebiet hergestellt. Sie kosten weniger, und das ist für die Marken und Geschäfte praktisch, wenn auch etwas weniger für die Kunden, die dann vielleicht immer noch einen hohen Betrag zahlen.

»Die Zahl der Chinesen in Prato wird wahrscheinlich nicht zunehmen«, betont Teresa Lin, ebenfalls Italienerin chinesischer Herkunft, die 2019 mit der Lista Civica Biffoni in den Stadtrat von Prato gewählt wurde und Tochter des Besitzers eines Pronto Moda im nahegelegenen Seano ist, »auch weil sich die wirtschaftlichen Bedingungen in China verbessert haben und die Leute bleiben«. Für die Einwohner von Prato hingegen ist es wichtig, dass die Einwanderer bleiben. »Wenn die Chinesen weggingen, wären wir aus dem Geschäft«, räumt Barbesitzer Capobianco ein, während er seinen Kaffee zu Ende kocht und lächelt.

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