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Aus: Ausgabe vom 27.09.2023, Seite 11 / Feuilleton
Musikfest Berlin

Das traurigste Ende der Welt

Wohlkalkulierte Kraftentfaltungen: Rückblick auf das Musikfest Berlin 2023
Von Kai Köhler
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Zentraler Programmpunkt: Konzertante Aufführung von Hector Berlioz’ »Les Troyens«

Die Zahlen beeindrucken: 28 Konzerte, etwa 45.000 Besucher, zusätzlich wohl ein Vielfaches davon als Hörer bei Radioübertragungen. Die Konzertsäle waren beim diesjährigen Musikfest Berlin (26. August–18. September) voller als 2019, dem letzten Jahr vor Corona. Die Besucher drängen sich, als hätte es nie eine Pandemie gegeben. Wieder einmal ist nichts ganz anders geworden. Gesellschaftliche Abläufe erweisen sich – unabhängig davon, ob man das gut oder schlecht findet – als robust.

Oft herrschte Enge auch auf dem Podium, denn insbesondere stark besetzte Konzerte waren zu hören. Dazu zählten mehrere Mahler-Aufführungen, unter denen zwei hervorzuheben sind. Mirga Gražinytė-Tyla arbeitete mit den Münchner Philharmonikern in der 2. Sinfonie alle nur denkbaren Kontraste heraus, in der Lautstärke wie im Tempo. Was bei anderen Werken den Zusammenhang gefährdet hätte, erwies sich bei dieser theatralischsten aller Mahler-Sinfonien als überzeugend. Die Staatskapelle Berlin spielte unter Rafael Payare auf ganz andere Weise die fünfte. Hier war die Detailarbeit zu bewundern, jede Phrase wurde idiomatisch genau betont. Daher brauchte es keine klanglichen Zuspitzungen, um zu zeigen, wie radikal Mahler in diesem Werk verschiedene Musikwelten aufeinanderprallen lässt.

Zentraler Programmpunkt war eine ungekürzte, halbszenische Aufführung von Hector Berlioz’ »Les Troyens« mit historischen Instrumenten durch das Orchestre Révolutionnaire et Romantique mit dem Dirigenten Dinis Sousa. Berlioz vertonte gleich zwei Tragödien. Die ersten beiden Akte sind dem Untergang Trojas gewidmet. Die überlebenden Trojaner finden dann Aufnahme in Karthago, ziehen weiter und gründen jenes Rom, das Karthago zerstören wird. Gegen Ende seines Lebens, unter der Herrschaft Napoleons III., objektivierte Berlioz seine Weltsicht und fand gerade deshalb wenig Anlass zur Hoffnung.

Das Musikfest zeigte auch das Spektrum aktuellen Komponierens. Ein Schwerpunkt war der Komponistin Chin Unsuk gewidmet, die in Deutschland und Korea lebt. Viele ihrer Werke sind dadurch charakterisiert, dass Chin europäische und asiatische Musikmuster produktiv zusammenführt. Sinnvollerweise standen drei Werke auf den Programmen, die auf verschiedene Weise das Konzertieren erproben, also das Wechselspiel zwischen unterschiedlichen Instrumenten ins Zentrum stellen. Am zugänglichsten, aber zugleich vielleicht am problematischsten ist das Cellokonzert (2006/17), das Alisa Weilerstein mit der Staatskapelle Berlin aufführte. Zugänglich ist es, weil seine vier Sätze auf europäische Formmuster zurückgreifen, problematisch bleibt es, weil Chin Material verwendet, das sich diesen Formen nicht ohne weiteres fügt.

In freien Abläufen sind hingegen zwei einsätzige Werke gehalten. »SPIRA« (2019), vom Ensemble Modern Orchestra unter George Benjamin aufgeführt, trägt zu Recht den Untertitel »Konzert für Orchester«. Die anfängliche spannungsvolle Ruhe stören plötzliche Einwürfe, Vorboten großer Steigerungen, die doch stets durchhörbar bleiben. Das Werk zeigt die Möglichkeiten aktueller Orchestertimbres, ohne dass diese zum Selbstzweck würden. Alles Geschehen ist auf wenige, an sich unscheinbare Elemente rückführbar. Ähnliche Formanlage und Qualitäten weist »Šu« auf, ein Werk für Sheng und Orchester von 2008/09. Eigentlich ist die Sheng, eine traditionelle chinesische Mundorgel, mit ihrem schwachen Klang kaum geeignet, sich gegen ein europäisches Orchester zu behaupten. Indessen weiß Chin die Noten so geschickt zu setzen, dass sie das Problem löst, an dem viele ähnliche Kompositionen scheitern: die Klangfarben von Instrumenten aus unterschiedlichen historischen Entwicklungslinien zu kombinieren. Der Sheng-Virtuose Wu Wei und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Robin Ticciati arbeiteten zudem das Spannungsverhältnis heraus, von dem die Komposition lebt: zwischen dem sich verändernden Einzelton als Element traditioneller ostasiatischer Musik und dem Vorrang des Zusammenhangs in westlicher Klassik.

Wie stets beim Musikfest gab es moderne Versuche religiöser Kompositionen, und wie stets mit unterschiedlichem Erfolg. Victoria Polevás 3. Sinfonie »Weißes Begräbnis« (2003), vom Bayerischen Staatsorchester unter Vladimir Jurowski gespielt, war als spiritueller Minimalismus angekündigt und klang leider auch so. Zähe Akkordfolgen wälzten sich einem süßlichen Ende entgegen. Viel klüger war Francesco Filideis »Cantico delle Creature«, als Auftragskomposition für das Musikfest vom Ensemble Modern Orchestra aufgeführt. Filidei ist sich des geschichtlichen Abstands zum mittelalterlichen Text des Franziskus von Assisi bewusst. Er beginnt die Vertonung dieses Gotteslobs mit schimmernden Sphärenklängen, zitiert Renaissancemusik und spitzt zu, sobald es um den Frieden und den Tod geht. Nur mit äußerster Anstrengung kann sich die Sängerin (hier Anna Prohaska) gegen das nun massive Orchester behaupten – unentscheidbar, was noch Glaube und was schon Protest ist.

Eine Uraufführung war auch »Lég-szín-tér« von Márton Illés, das die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko spielten. Diese dreisätzige »Luftszene« erwies sich als gut ausgehört, klangfreudig, nur manchmal etwas zu ausgedehnt. Zu loben ist der Mut der Philharmoniker, für gleich drei Abende ein Programm mit modernen Kompositionen anzusetzen. Nur hatte es Illés gegen Hauptwerke von Iannis Xenakis, Karl Amadeus Hartmann und György Kurtág nicht eben leicht. Xenakis »Jonchaies« (1977) ist eine der rücksichtslosesten, dabei wohlkalkulierten Kraftentfaltungen der Musikgeschichte, wobei diese Energie weder im Guten noch im Bösen eine Qualität hat. Petrenko stellte die Konsequenz nicht nur dieses Werkes heraus, sondern – zusammen mit dem Baritonisten Christian Gerhaher – auch die von Hartmanns letzter Arbeit, der 1963 unter dem Eindruck eines drohenden Atomkriegs komponierten »Gesangsszene«. Der Text kündigt ein »Ende der Welt« an: »Das traurigste von allen!« So wurde hörbar, was uns bevorstehen kann.

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