Enteignung, die zweite
Von Karim Natour
Fröhliche Menschen in lila-gelben Warnwesten, Banner und Fahnen, lautstarke Begeisterung und am Ende sogar ein Kuchen zur Feier des Tages. Eins wird sofort klar am Dienstag morgen vor dem Roten Rathaus in Berlin: Man ist zufrieden. Die Berliner Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« (DWE) hatte zur Pressekonferenz geladen, um über ihr weiteres Vorgehen zu informieren.
Die Zufriedenheit irritiert, denn eigentlich gibt es – zumindest für Mieter – wenig Grund zu feiern. Genau zwei Jahre nachdem sich 59,1 Prozent der Berliner bei einem Volksentscheid der Initiative für die Vergesellschaftung von Immobilienunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen entschieden haben, sind die Angebotsmieten in der Hauptstadt teurer denn je und steigen weiter rasant. Noch im zweiten Quartal des Jahres 2022 lagen sie 20 Prozent unter dem Wert von 2023.
Nun wurde ein zweiter Versuch gestartet. Diesmal soll ein »Gesetzesvolksentscheid« eingeleitet werden, bei dem über einen konkreten Gesetzentwurf abgestimmt wird, wie Sprecher der Initiative am Dienstag verkündeten. Das Ziel: die Angebotsmieten in der gesamten Stadt senken. Der neue Entscheid soll damit »Instrument zur Durchsetzung des demokratischen Votums« von 2021 sein. Durchsetzen will DWE die Vergesellschaftung »gegen die Blockade des Berliner Senats«. Der hatte nach dem ersten »Beschlussvolksentscheid«, als er noch »rot-rot-grün« war, eine Kommission eingesetzt, die die Verfassungskonformität des Vorhabens prüfen sollte. Im Ergebnis wurden die Enteignungspläne damit zum Erliegen gebracht. Im Juni 2023 hatte die Kommission ihren Abschlussbericht vorgelegt, während der inzwischen »schwarz-rote« Senat ankündigte, ein »Rahmengesetz« verabschieden zu wollen, was nicht zwingend zu einer Vergesellschaftung führen würde.
Im Bericht der Kommission steht, dass das Land Berlin durchaus die Kompetenz hat, ein Gesetz zur Vergesellschaftung zu verabschieden. Zudem dürften fällige Entschädigungen laut den Experten unter dem aktuellen Marktwert der betreffenden Wohnungen liegen – der eigentliche Springpunkt bei dem Vorhaben. Während die amtliche Schätzung bei der Vergesellschaftung von über 200.000 Wohnungen bei bis zu 36 Milliarden Euro Entschädigungskosten liegt, gehen die Aktivisten selbst von maximal 13,7 Milliarden Euro aus. Diese Summe könnte laut DWE vollständig aus den Mieten refinanziert werden.
Durch hohe Entschädigungen könnten die Immobilienkonzerne im Zweifel zuungunsten der Steuerzahler saniert werden, was auch aus Kreisen der Wohnungswirtschaft zu vernehmen war. »Unter den jetzigen Vorzeichen« sei eine Enteignung für die Konzerne »keine Bedrohung, sondern eine Verheißung«, berichtete die Berliner Zeitung im November 2022.
Damit nun nicht nur ein politisch, sondern auch rechtlich bindender Volksentscheid durchgeführt werden kann, benötigt die Kampagne laut eigenen Angaben circa 100.000 Euro. Diese sollen durch eine Crowdfundingkampagne bereitgestellt werden. Wann eine Abstimmung stattfinden könnte, sei aktuell noch nicht abzusehen; den Entwurf wolle man im Laufe des kommenden Jahres vorlegen.
Warum nicht bereits beim ersten Versuch ein vorformulierter Gesetzentwurf vorgelegt wurde, wollte ein Journalist im Anschluss der Pressekonferenz wissen. Die Debatte um Artikel 15 des Grundgesetzes sei zum damaligen Zeitpunkt noch »in den Kinderschuhen« gewesen, erläuterte eine Sprecherin. Nach diesem ist die Überführung von Grund und Boden in Gemeineigentum mittels eines Gesetzes erlaubt, solange Art und Ausmaß der Entschädigung geregelt werden.
Im September 2021 war die Abstimmung über den Entscheid mit der Wahl zum Deutschen Bundestag, dem Berliner Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen zusammengefallen. Auch das erklärt die damals hohe Wahlbeteiligung von 73,5 Prozent. Fraglich bleibt, inwieweit Mieter in Berlin vor diesem Hintergrund Vertrauen in einen zweiten Entscheid setzen würden. Schließlich ist trotz erreichter Mehrheit keine einzige Wohnung vergesellschaftet worden. Gegenüber jW zeigte sich Achim Lindemann von DWE zuversichtlich: Man sei »optimistisch«, dass das Vorhaben »zusammen mit der Berliner Stadtgesellschaft« vorangebracht werden könne.
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