Auf den Hund gekommen
Von Hansgeorg Hermann, Chanià
Bis zum 29. August war der Mann – Stefanos Kasselakis, 35 Jahre jung – in Griechenland unbekannt. Ein hochgewachsener, schlanker Typ mit strahlendem Lächeln – ein Kandidat wie aus dem US-Fernsehen. Einer, auch das wäre in den USA inzwischen ein Vorteil, der sich als erster griechischer Bewerber um ein Partei- und Staatsamt, zu seiner Homosexualität bekennt. Seit Sonntag abend ist der Sohn einer Reederfamilie, selbst Unternehmer im Überseegeschäft, der neue Chef einer Bewegung, die vor gut 25 Jahren als »Koalition der radikalen Linken« antrat. Unter ihrem bisherigen »Proedros«, dem Parteipräsidenten Alexis Tsipras, war Syriza bis zu dessen Rücktritt nach der katastrophalen Wahlniederlage im Juni – mit gutem Willen betrachtet – eine Programmpartei. Wie einst die deutsche SPD, nur ein bisschen glaubwürdiger.
Blaupause USA
Kasselakis’ Wahl macht aus Syriza einen »Präsidentenwahlverein« nach US-Vorbild. Ein Schisma scheint bevorzustehen; der linke Parteiflügel ist die Minderheit in einer auseinanderstrebenden Formation, in der sich 2014 mehr als 20 linke Gruppen zu einer regierungswilligen Partei zusammenschlossen und 2015 für magere vier Jahre tatsächlich ganz demokratisch die politische Macht eroberten, weil die Griechen die Gängelei und den Verlust der Haushaltshoheit satt hatten. Kasselakis ist eine Art Verweser dieser einst linken Partei. Dabei war die Partei die erste, die nach dem Bürgerkrieg und dem zeitweiligen Verfassungsverbot für alle Parteien, die nicht für Kirche, Familie und die Anerkennung der rechtsbürgerlichen Regierungsform einstanden, eine Regierung bilden durfte.
In beiden Wahlgängen hob ihn die um 35.000 neue Mitglieder angewachsene Syriza-Gemeinde auf den ersten Platz. Vor einer Woche noch mit 45 Prozent, am Sonntag dann mit der absoluten Mehrheit von 56 Prozent. Seine Konkurrentin, die 38 Jahre alte Eftychia »Efi« Achtsioglou, die das Rennen gegen alte Parteigrößen wie Tsipras’ früheren Wirtschafts- und Finanzminister Euklid Tsakalotos eigentlich schon gewonnen hatte, unterlag dem plötzlich in der Arena aufgetauchten Kasselakis geradezu sensationell. Den Sieg in der Tasche verkündete der »Amerikaner«, der in den USA Karriere als Investmentbanker machte, was er offenbar für ein Programm hält: »Ich bin kein Phänomen«, was ihm bis dato auch niemand unterstellt hatte, »ich bin die Stimme des Volkes«. Schlichter gehe es nicht, wunderte sich im Gespräch mit jW Stathis Kouvelakis, bis 2015 einer der wenigen Intellektuellen im Zentralkomitee der Partei. »Die Tatsache, dass einer wie Kasselakis überhaupt als Kandidat antreten konnte, beschreibt den völligen ideologischen Verfall des Syriza.«
Abziehbild Mitsotakis’
Ein Rätsel bleibt, wie der Mann, der nicht einmal die – politisch und diplomatisch wichtigen – Feinheiten der griechischen Sprache beherrscht, es offenbar gegen den amtierenden rechten Ministerpräsidenten richten soll, wenn in vier Jahren wieder gewählt wird. Parteikader und auch das Syriza-Wahlvolk – rund 134.000 gingen an die Urnen, knapp 15.000 weniger als beim ersten Mal – erkennen in Kasselakis offenbar einen zweiten, 20 Jahre jüngeren Mitsotakis, dem er wie ein Abziehbild gleicht. Ohne allerdings auch nur annähernd so gut in der Gesellschaft der Oligarchen, Klanchefs und Wirtschaftsmilliardäre vernetzt zu sein.
Sein politischer Wahlhelfer war in den vergangenen Tagen und Wochen der kretische Parlamentsabgeordnete Pavlos Polakis, der einzige Syriza-Gewinner eines Mandats in der Hafenstadt Chanià. Polakis ist der ehemalige Bürgermeister in Chora Sfakion, wo noch die schwarz gekleideten Hirten Familienzwist mit der Waffe in der Hand bereinigen. Er ist möglicherweise der richtige politische »Koumparos« (der Pate), um den »Amerikanos« auch im griechischen Hochland akzeptabel zu machen: In Chanià jedenfalls fuhr Kasselakis eine Zweidrittelmehrheit ein. Dort reicht es allerdings nicht, als einzigen Programmpunkt die Möglichkeit zu nennen, dass der fremde neue Parteivorsteher vor allen anderen Bewerbern der einzige sein soll, der den Kreter Mitsotakis zu besiegen in der Lage ist. Wie der Pate Polakis und sein Schützling Kasselakis – dessen Familienbaum ebenfalls in Chanià wurzelt – ist der aktuelle Regierungschef ein Kreter. Der allerdings an der Macht ist und seinen Wählern, kraft Amtes, das Blaue vom Himmel versprechen kann.
Mitsotakis ist nicht nur der Name einer seit hundert Jahren höchst einträglich das politische Geschäft betreibende Dynastie. Der Name ist ein Begriff wie »König«, »Kaiser« oder »Imperator«, Synonym für eine Politik des Gebens und des Nehmens, der bis in die türkische Besatzungszeit zurückreichenden Klientelwirtschaft, der »Rousfetia« genannten Gefälligkeiten zwischen Wirtschaftsbossen, Geldhäusern und im oberen Niveau arbeitenden Politikern. Da wird Kasselakis, die »Stimme des Volkes«, noch viel zu lernen haben – in der Partei hat sich sein Vorgänger als Lehrer angeboten. Der Mann also, dem der Kniefall vor den Brüsseler Finanzkapitalisten anhängt und dessen völlige Kapitulation vor der EU-Kommission und vor der ohne jegliche demokratische Legitimierung nach Athen ausgesandten Troika den Untergang der »linken« Partei Syriza bereits im Juni 2015 einleitete. Die sogenannten Geldgeber, die mit rund 175 Milliarden Euro die griechischen Banken, nicht aber die Volkswirtschaft retteten, forderten 2015 die »vollständige Kapitulation«, wie sich der Syriza-Mann und Ökonom Costas Lapavitsas (Universität London) erinnert. Tsipras unterschrieb sie.
Hintergrund: Hoffnungsloser Fall
Der Privatgelehrte Stathis Kouvelakis war Hochschullehrer am Londoner King’s College. Vor einigen Wochen hat er im Gespräch mit jW zu deuten versucht, warum Syriza, die Partei, die im Januar 2015 in Griechenland und Europa als linke Hoffnungsträgerin galt, seit rund fünf Jahren keinerlei politischen Kredit mehr im eigenen Land hat, von Europa ganz zu schweigen. Kouvelakis, damals Mitglied des Zentralkomitees der Koalition der radikalen Linken, sprach von der Katastrophe, die Tsipras mit seinem Kniefall vor dem Brüsseler Finanzkapitalismus über seine Anhänger und Wähler gebracht hatte.
Der Wirtschaftswissenschaftler Costas Lapavitsas, ein international beachteter Lehrer der an der Universität in London und enger Freund Kouvelakis’, hatte im Juni 2015 seiner Heimat den Austritt aus dem Euro nahegelegt. Wie Kouvelakis, mit dem er einige Bücher zum Thema veröffentlicht hat, ging es ihm um die Rettung des griechischen Sozialsystems und um die »linke« Programmatik der Syriza. In einem aufschlussreichen Interview verschreckte Lapavitsas damals das deutsche Bürgerblatt Die Zeit und dessen arrogante Klientel. Frage des Zeit-Journalisten: »Manche in Ihrer Partei sagen, wenn sie das Paket (Geld gegen Lohn- und Rentenkürzungen, Vernichtung des Sozialsystems, jW) jetzt nicht überzeugt, müsse man zustimmen, um das Projekt zu retten.«
Lapavitsas: »Welches Projekt? (…) Die Geldgeber fordern eine vollständige Kapitulation. (…) Dieses Land geht unter. (…) Von mir aus fünf Jahre Pause vom Euro, oder einen Austritt aus dem Euro in gegenseitigem Einvernehmen, damit die griechische Wirtschaft wieder aufatmen kann und das Sparen ein Ende hat.« Es kam bekanntlich anders. Alexis Tsipras machte aus dem Land eine im Wortsinn »hoffnungslose« Gesellschaft, deren Löhne, Renten und Monatseinkommen auf die Hälfte reduziert wurden. Was dem »Amerikanos« Stefanos Kasselakis dazu einfallen wird, bleibt offen – er hat Kapitalismus ja in den USA gelernt. (hgh)
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vom 26.09.2023