Eine lange Geschichte
Von Dieter Reinisch
Dieser Krieg »endet nicht in der Ukraine«, heißt es im deutschen Titel eines Buchs des spanischen Autors Raúl Sánchez Cedillo, das zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine im Wiener Verlag Transversal Texts erschienen ist. Im ersten Kapitel führt er aus, was er damit meint: Dieser Krieg begann weder 2022, noch begann er in der Ukraine. Er begann auch nicht 2014. Wer sich aufgrund des Titels ein analytisches Buch über den Krieg in Osteuropa seit 2014 und seine Ausweitung ab 2022 erwartet, wird enttäuscht werden. Denn eigentlich geht es auf der empirischen Ebene gar nicht näher um jenen Krieg, der im Titel erwähnt wird. Das ist die Stärke, zugleich aber auch eine unübersehbare Schwäche der aus dem Spanischen übersetzten Schrift.
Der Krieg ist nicht »nach Europa« zurückgekommen, wie in den bürgerlichen Medien unermüdlich behauptet wird, sondern er war immer da, weil er ein Ausdruck der Widersprüche des globalen Systems ist. Um den Krieg zu beenden, muss dieses System überwunden werden. Das ist die wesentliche Aussage des Buchs. Seit über einem Jahrzehnt hat Sánchez Cedillo enge Verbindungen zu politisch Aktiven und Künstlern in Osteuropa, speziell der Ukraine. Die Erfahrungen der Proteste in Kiew 2013/14 haben ihn geprägt, und daraus schöpft er in seiner Darstellung. Wer allerdings annimmt, Sánchez Cedillo hege Sympathie für die Vaterlandsverteidiger-Position der heute noch legalen Reste der ukrainischen Linken, der irrt.
In drei ausführlichen Kapiteln legt er nicht zuletzt die ideologischen Kuriositäten der westeuropäischen und ukrainischen bellizistischen »Linken« offen. »Die Hoffnung vieler Linker, dass man gemeinsam mit der NATO Putin aus dem Amt verjagen könne, dem eine sozialistische Revolution folgen werde, und man bei dieser Gelegenheit auch noch die ukrainische Oligarchie vertreibe, erstaunt mich«, sagte er in einem Interview zum Buch.
Im ersten Kapitel beschäftigt er sich mit den Wurzeln des Krieges in der Ukraine nach. Er setzt früh an, sucht nach der frühen Vorgeschichte des Konflikts und bietet so eine »lange Geschichte« der Kriegsursachen: Er geht dabei zurück bis an den Anfang des Ersten Weltkrieges. Er zeigt auf, wie das Gebiet der heutigen Ukraine seit damals Schlachtfeld unterschiedlicher Machtblöcke war und wie sich im Windschatten dieser Auseinandersetzungen ein reaktionärer ukrainischer Nationalismus herausbildete.
Der gegenwärtige Ukraine-Krieg ist für ihn Ausdruck der wachsenden Spannungen des Weltsystems. Die »Reibungen und Dialektiken haben ihren unmittelbaren Ursprung in den Folgen des Endes des Kalten Kriegs«, schreibt er. Dazu gehören für ihn das »Scheitern der blockfeien Staaten«, der Zusammenbruch der UdSSR und die neoliberale Hegemonie in allen Regierungen und Parteien des »westlichen Subsystems«. Sein Fokus liegt vor allem auf Spanien und Frankreich. Die dortige Linke kritisiert er mehrfach; ihr heutiges Verhalten setzt er mit dem regierungshörigen Kurs der meisten sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien in Europa nach 1914 gleich.
Im zweiten Kapitel will der Autor zeigen, dass seit dem Ersten Weltkrieg »jeder moderne Krieg seither Formen des Faschismus hervorbringt, fördert und beschleunigt«. Das passiere auch beim Ukraine-Krieg. Doch nicht nur das: In ganz Europa entstehen »Kriegsregime«, die durch die »Einführung des Freund-Feind-Schemas in das Regierungshandeln in der Außen- und Innenpolitik« definiert werden. Der »Feind« werde für alles verantwortlich gemacht: Lohndumping, Inflation, Beeinträchtigung des Klimaschutzes, Kooperation mit Erdöldiktaturen, horrende Ausgaben für Rüstung.
Das Völkerrecht, auf das sich manche Linke zurückgezogen haben, könne hier keine Abhilfe leisten, denn es gebe heute »keine gerechten Kriege mehr«. Statt dessen fordert der Autor einen »konstituierenden Frieden«, den er mit Pazifismus gleichsetzt, denn dieser schaffe den Raum, »damit wir überhaupt von etwas Neuem, dem Ende des Kapitalismus sprechen können«. Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich eine angesichts der zur Schau getragenen Radikalität etwas überraschende Naivität des Autors: Welcher politisch denkende Mensch setzt heute noch darauf, dass Pazifismus der Hebel zu Überwindung des Kapitalismus ist?
Das Buch handelt am Ende davon, wie angesichts der Kriegspropaganda und der Kriegsregime emanzipatorische Politik gemacht werden kann. Es will ein »Leitfaden für Interventionen« sein. Das ist an sich keine schlechte Idee, denn davon gibt es zu wenig. Allerdings gelingt das dem Autor nur sehr bedingt. Das liegt weniger am überwiegend nachvollziehbaren Inhalt als am Stil. Die Terminologie etwa ist über weite Strecken geradezu bemüht unzugänglich; sie wirkt, als wende sich Sánchez Cedillo bewusst an einen ausgewählten Kreis von Personen, der seinen Jargon und die daran gekoppelten Diskurse versteht. Wer kann sich denn heute noch erinnern, was die »Multitude« ist, außer jenen, die, wie der Autor dieser Zeilen, um die Jahrtausendwende politisch aktiv waren und damals Antonio Negri und Michael Hardt gelesen haben? Die Kritik an diesem Konzept, die dazu geführt hat, dass es aus der linken Debatte weitgehend verschwunden ist, wird in dem Buch ignoriert.
Dennoch hat Sánchez Cedillo einen lesenswerten essayistischen Beitrag zu den Widersprüchen des kapitalistischen Weltsystems, die zu dem Blutbad in Osteuropa führten, geliefert. Er zeigt auch zumindest Ansätze auf, wie dagegen Politik gemacht werden kann. Die angeführten Mängel dürften aber ziemlich sicher dazu führen, dass das Buch kaum rezipiert, sondern statt dessen in den Regalen der linksliberalen Intelligenzija, der politische »Interventionen« gar nicht wichtig sind, verstauben wird.
Raúl Sánchez Cedillo: Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine: Argumente für einen konstituierenden Frieden. Transversal Texts, Wien 2023, 397 Seiten, 20 Euro
Immer noch kein Abo?
Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Detlev R. aus Tshwane, Südafrika (24. September 2023 um 20:29 Uhr)»Die Terminologie [...] wirkt, als wende sich Sánchez Cedillo bewusst an einen ausgewählten Kreis von Personen, der seinen Jargon und die daran gekoppelten Diskurse versteht.« Das, so stelle ich immer wieder fest, trifft auf viele Texte im linken politischen Spektrum zu. Leider.
Regio:
Mehr aus: Politisches Buch
-
Unverhohlen feindselig
vom 25.09.2023 -
Neu erschienen
vom 25.09.2023