»Krieg bis zur Vernichtung«
Von Aert van Riel
In diesen Tagen erscheint im Kölner Papy-Rossa-Verlag das Buch »Der verschwiegene Völkermord. Deutsche Kolonialverbrechen in Ostafrika und ihre Folgen« von Aert van Riel. Wir veröffentlichen daraus einen Auszug aus dem 2. Kapitel und danken Autor wie Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck. (jW)
An der Universität von Daressalam wird mehr als 100 Jahre nach dem Ende des Maji-Maji-Krieges noch immer zu diesem Teil der Geschichte des Landes geforscht. Zu den neueren Projekten zählen Interviews und archäologische Untersuchungen in den Gegenden, die am stärksten vom Krieg betroffen waren. Der Historiker Bertram Mapunda, damals Direktor des Fachbereichs für Geschichte an der Universität Daressalam, erklärte im Jahr 2004: »Die Deutschen würden uns gerne glauben machen, dass es eine Horde Wilder gab, die barbarische Handlungen gegen sanftmütige weiße Menschen begangen haben. Wir müssen aber die grausamen und barbarischen Handlungen untersuchen, welche die Deutschen gegenüber den Afrikanern verübten. Wir konzentrieren uns auf die afrikanische Perspektive. Ich sehe diesen Trend als eine Rückgewinnung unserer Geschichte und unseres Erbes.«¹ Damit brachte er den tansanischen Ansatz bei der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte auf den Punkt.
Der Direktor des Historischen Instituts, Hezron Kangalawe, nennt mir Ende des Jahres 2022 mehrere Namen von Wissenschaftlern, die an entsprechenden Projekten arbeiten. Ich nehme Kontakt zu Oswald Masebo auf. Der Professor für Geschichte forscht unter anderem zur Rolle der Ngoni vor und während der Zeit des Maji-Maji-Krieges. Oswald Masebo ist nicht nur in Tansania ein bekannter Historiker, sondern seine Meinung wird auch von Experten in Deutschland geschätzt.
Hungersnot herbeigeführt
Im Telefoninterview erklärt Oswald Masebo, dass es zur Frage, ob man die deutschen Verbrechen während des Maji-Maji-Krieges als Völkermord einstufen könne, unter Historikern keine einheitliche Meinung gebe. Er gehört zu denjenigen, welche die Völkermordthese bejahen. »Dafür sprechen die große Zahl an Tötungen im Zusammenhang mit dem Krieg, die Zerstörungen und die von Menschen herbeigeführte Hungersnot«, sagt Oswald Masebo. Er erinnert daran, dass vor allem die tansanische Zivilbevölkerung darunter leiden musste. Viele Menschen, die mit dem Krieg direkt oft nichts zu tun hatten, wurden zu Opfern des Kolonialregimes. »Als erstes starben die Schwächsten an dem Hunger und den Krankheiten. Viele Kinder und die Ältesten haben ihr Leben verloren.« Oswald Masebo betont, dass er darin die Charakteristika eines Völkermords sieht. Dabei ist ihm auch klar, dass seine Einschätzung der Meinung vieler Deutscher und anderer Europäer entgegensteht, seien es Wissenschaftler oder Politiker.
Es gibt zahlreiche Quellen, welche die Genozidthese untermauern. Aus ihnen geht hervor, dass die von den Deutschen künstlich herbeigeführte Hungersnot das Ziel hatte, während des Maji-Maji-Krieges und in der Zeit danach weite Teile der Bevölkerung im Süden der Kolonie Ostafrika auszurotten. Deswegen spricht alles dafür, das Vorgehen der Deutschen und ihrer Söldner als Völkermord zu bezeichnen. Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts hatte früher begonnen, nachdem Lothar von Trotha im Jahr 1904 den Befehl gegeben hatte, die Herero in Südwestafrika zu vernichten. Der Begriff Völkermord wurde von Völkerrechtlern seit den 1940er Jahren vermehrt benutzt und ist seit 1948 ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht, also einige Jahrzehnte nach dem Genozid in Ostafrika. Verbrechen, die darauf abzielen, ganze Gruppen von Menschen auszulöschen, können allerdings auch nachträglich als Genozid gebrandmarkt werden. Völkermord verjährt nicht.
Die Truppen des Kaiserreiches waren nicht nur für Massaker während des Maji-Maji-Krieges an der Zivilbevölkerung verantwortlich. Sie haben mit ihrer Strategie der »verbrannten Erde« wissentlich dafür gesorgt, dass Menschen massenhaft starben. Hunger und Krankheiten breiteten sich schnell aus. Viele Menschen verloren ihr Leben, weil sie in ihrer Not giftige Pflanzen aßen. Folgt man der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen, kommt man zu dem Schluss, dass die Deutschen den Menschen in Ostafrika Lebensbedingungen auferlegt haben, die zu einem massenhaften Tod geführt haben. Es existieren keine Hinweise, dass die Deutschen in Ostafrika bestimmte Ethnien ausrotten wollten. Das ändert allerdings nichts an dem Ergebnis der deutschen Vernichtungspolitik.
Auslöschung ganzer Gruppen
Untersuchungen des tansanischen Historikers Gwassa aus den 1960er und 1970er Jahren zeigen, dass in Ostafrika einige ethnische Gruppen besonders stark unter der Vernichtungsstrategie des Kaiserreichs litten. Die Matumbi, die sich als erste gegen die Kolonialmacht erhoben hatten, haben im Maji-Maji-Krieg und in der Nachkriegszeit etwa die Hälfte ihrer Bevölkerung verloren. Die Deutschen gingen nach dem Krieg von 18.000 bis 20.000 Opfern aus. Gouverneur Graf Gustav Adolf von Götzen schrieb dazu lapidar in seinen Erinnerungen: »Dass Matumbi in den Monaten, die dem Aufstand folgten, von einer schweren Hungersnot heimgesucht wurde, war nur allzu begreiflich, wenn man bedenkt, dass der Aufstand alle Kulturen vernichtet hatte. Auch von der Bevölkerung war wohl die Hälfte dem Aufstand zum Opfer gefallen.² Auffällig an der Geschichtsschreibung der Kolonisatoren ist, dass sie die Verantwortung für Tod und Zerstörung allein bei den Maji-Maji- Kriegern sahen.
Nach Angaben von Gwassa fielen zudem Zehntausende Angehörige der Ngoni während des Krieges und in der Folgezeit den Grausamkeiten zum Opfer. Nach Schätzungen ging ihre Zahl von 80.000 auf 20.000 zurück.³ Im Distrikt Songea, im Südwesten des heutigen Tansania, lebten von ursprünglich gezählten 166.000 Einwohnern nach dem Krieg nur noch 20.000. Songea ist die Heimat vieler Ngoni.
Der Begriff »Volk« ist in Bezug auf afrikanische Gruppen irreführend, wenn man damit Alteingesessene meint, die seit Jahrhunderten dieselbe Sprache sprechen, die gleiche Abstammung haben, schon lange in demselben Gebiet leben und sich in Abgrenzung zu anderen Gruppen definieren. Das ist eine eurozentristische Sichtweise. Afrikanische Gruppen waren in Wirklichkeit oft auf Wanderschaft. So wanderten die Ngoni im 19. Jahrhundert vom Süden Afrikas in das Gebiet des heutigen Tansania ein. Sie flohen ab den 1820er Jahren aus dem Gebiet, in dem der Zuluherrscher Shaka ein Königreich errichtete. Es gibt Quellen, die nahelegen, dass nicht wenige Ngoni während ihrer Wanderung durch die heutigen Staaten Simbabwe, Sambia, Mosambik und Malawi raubten und plünderten. Geraubt wurden vor allem Vieh und Frauen. Dabei waren die Ngoni aber auch offen für andere Menschen und ganze Völker, die erst unterworfen wurden, sich dann den Ngoni anschlossen und assimiliert wurden.⁴
Auch andere ethnische Gruppen wurden im heutigen Tansania während des Maji-Maji-Krieges und in der Zeit danach fast komplett ausgelöscht. Von den Pangwa, die in der südwestlichen Region Njombe beheimatet sind, starben neun Zehntel, konstatiert der deutsche Forscher Jigal Beez, der zwischen 2006 und 2011 für den Deutschen Entwicklungsdienst und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Tansania, Uganda und Südafrika im Bereich der Demokratieförderung und Stärkung der Zivilgesellschaft tätig war. Die Pangwa werden unter anderem über ihre gemeinsame Sprache identifiziert, die zu den Bantu-Sprachen zählt. Im Jahr 2022 gaben offizielle Statistiken die Zahl der Pangwa in Tansania mit etwa 190.000 an.⁵
Von schätzungsweise 40.000 Vidunda, deren Gebiet vor allem in bergigen Gegenden in der Nähe von Morogoro liegt, überlebte ebenfalls nur eine Minderheit den Maji-Maji-Krieg und die darauffolgende Hungersnot. Nach Angaben der britischen Admiralität lebten im Jahr 1916 nur noch etwa 5.000 Vidunda in der Kolonie.⁶
Der Hungertod war Teil des Plans der deutschen Kolonialverwaltung. Sie legte fest, dass nur arbeitsfähige Einheimische Nahrungsmittelhilfe erhalten sollten. Wer zu schwach war, um die schwere körperliche Arbeit auf den Plantagen oder beim Straßenbau zu leisten, den überließen sie einem grausamen Schicksal.⁷
Es gab zwar keinen expliziten Vernichtungsbefehl in der ostafrikanischen Kolonie, wie ihn Lothar von Trotha in Südwestafrika ausgesprochen hatte, aber der Begriff der »Vernichtung« wurde unter anderem von rechten Publizisten in Bezug auf die Maji-Maji-Krieger und deren Unterstützer benutzt. In der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung (DOAZ), wurde der Krieg gegen die Einheimischen in der Kolonie als Kampf zwischen »Natur« und »Kultur« bezeichnet. »Und hierzu braucht es Gewalt. Denn nur dies imponiert den Naturmenschen. Diplomatische Kunststücke versagen bei Menschen unterer Kulturstufe, wenn sie nicht durch Waffengewalt unterstützt werden«, so ein Schreiber der Zeitung, die von 1899 bis 1916 in Daressalam gedruckt wurde. Das bedeutete: Die Bevölkerung solle »bedingungslos zu Kreuze kriechen«. Sonst drohte »Krieg bis zur Vernichtung«. Solche Texte begleiteten die deutsche Großoffensive gegen die Maji-Maji-Krieger im Herbst 1905.⁸
Außerdem wurden die Afrikaner gegenüber den Europäern als minderwertig bezeichnet. Rassistische Praktiken waren in jeder deutschen Kolonie allgegenwärtig. Die deutsche Kolonialherrschaft basierte von Beginn an auf der Ideologie des »Herrenmenschentums«, die auch später die Ideologie des deutschen Faschismus prägte. In den Schriften des Grafen von Götzen taucht immer wieder die Sorge auf, dass sich die »Rassen miteinander vermischen« könnten, also »Weiße« mit »Schwarzen«.⁹
»Mit eiserern Faust«
Dass der Prozess der Kolonisierung und Unterwerfung mit massiver Gewalt einhergehen würde, war den Deutschen von Anfang an bewusst. »Um einem schwarzen Kontinent den Weg zur Zivilisation zu öffnen, war es unmöglich, ohne Grausamkeit vorzugehen«, erklärte der preußische Offizier Eduard von Liebert, der von 1896 bis 1901 Gouverneur in Ostafrika war.¹⁰ Nach dem Ausbruch des Maji-Maji-Krieges sagte von Liebert in einem Zeitungsinterview, dass »der Aufstand mit eiserner Faust und schonungsloser Strenge« niedergeschlagen werden solle. »Wie der friedfertige und gutmütige Neger zur Bestie wird und in Taumel gerät, sowie er Blut sieht, so muss auch erst Blut fließen, ehe der Frieden wiederhergestellt werden kann. Jede Schwäche im falschen Augenblicke wäre verhängnisvoll. Erst nachdem er die überlegene Macht des Weißen gefühlt hat, kann man mit dem Neger paktieren.«¹¹
Wer, wie von Liebert, Menschen als »Bestien« bezeichnete, der tat nichts anderes, als zu deren Abschlachtung aufzurufen. Liebert bewegte sich nach dem Ersten Weltkrieg in antisemitischen und prokolonialen Kreisen. Im Jahre 1929 trat er in die NSDAP ein, um dort seinen Rassenwahn sowie seinen Hass auf Sozialdemokraten und Kommunisten weiter ausleben zu können, bevor er 1934 starb.
Vor den Massenmorden in Ostafrika gab es Überlegungen im Kaiserreich, ob nicht eine Massendeportation der Ethnien der richtige Weg sei, um den Widerstand in den Kolonien zu brechen. Es existierten Pläne, die Herero und Nama nach Ostafrika zu bringen und die Chagga nach Deutsch-Südwestafrika. Die Chagga lebten rund um das Kilimandscharo-Massiv und hatten sich 1891/92 militärisch gegen die Deutschen gewehrt, nachdem Carl Peters die Heimatdörfer seiner von ihm ermordeten afrikanischen Konkubine und ihres mutmaßlichen Liebhabers hatte zerstören lassen. Denn wenn Menschen aus der Wüste, also die Herero und Nama, ins Hochland deportiert würden, und umgekehrt die Chagga, die im Hochland gelebt hatten, in der Wüste zurechtkommen müssten, hätten sie andere Dinge zu tun, als Aufstände zu planen, so die Überlegungen der Deutschen. Letztlich wurden diese Vorhaben allerdings als zu aufwendig angesehen und deswegen nicht weiter verfolgt.¹² Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass auch diese Deportationen zum Leid und Tod vieler Menschen geführt hätten.
Die deutsche Taktik der »verbrannten Erde« begann bereits, um den Widerstand im Guerillakrieg der Maji-Maji-Kämpfer zu brechen.¹³ Die Söldner der Deutschen, die Askaris, stahlen in den Dörfern das Essen, zerstörten das Getreide und verbrannten Felder und Getreidespeicher. Sie und die Deutschen durchkämmten systematisch das Gebiet von Dorf zu Dorf, von Feld zu Feld, damit die Kämpfer und ihre Unterstützer nichts mehr zu essen hatten. Der Busch, Nutzpflanzen und alle Dörfer in den Gebieten wurden verbrannt. Zeitgleich musste die Zivilbevölkerung Gewalt und Morde fürchten. Die Askaris hatten keinerlei Skrupel, neben den Erwachsenen auch Kinder zu töten. Es existieren außerdem Augenzeugenberichte, wonach die Askaris schwangere Frauen aufgeschnitten und den Fötus weggeworfen haben sollen.
Der Gouverneur von Deutsch-Ostafrika zwischen 1901 und 1906, Graf Gustav Adolf von Götzen, nannte die Hungersnot einen »Verbündeten« der militärischen Führung im Kolonialkrieg, um diesen zu gewinnen. Dazu habe es keine Alternative gegeben, so von Götzen.¹⁴ Auch in den Jahren zuvor hatte es schlechte Ernten und Mangel an Nahrungsmitteln gegeben. Aber die nun von den Deutschen verursachte Not stellte alles zuvor Erlebte in den Schatten. Eine Ostafrikanerin berichtete laut Aufzeichnungen eines Geistlichen im Februar 1907: »Seit meiner Geburt habe ich nie einen solchen Mangel gesehen. Ich habe Hungersnöte erlebt, aber keine, die die Menschen sterben ließ. In dieser Hungersnot sterben viele. Ihre Nahrung besteht aus Insekten aus den Wäldern, die sie sammeln, kochen und essen.«¹⁵
Die Kolonialtruppen wussten, welche Folgen ihre Handlungen hatten. Über Mahenge und das Umland im Süden des heutigen Tansania notierte Graf von Götzen im Jahr 1907: »Die Bevölkerung dieser Gegenden war zu großem Teil entflohen oder zugrunde gegangen.« Der Truppenführer habe Bericht erstattet über »zahlreiche Leichen von Verhungerten«. Diese zeigten, »welchem Umstand auch hier die Unterwerfung, zu der die Leute jetzt geneigt sind, in der Hauptsache zu danken ist«.¹⁶ Im Krieg gegen »unzivilisierte Völkerschaften«, schrieb von Götzen, sei »die planmäßige Schädigung der feindlichen Bevölkerung an Hab und Gut unerlässlich«.¹⁷ Der Hungertod vieler Zivilisten war in der deutschen Strategie also einberechnet gewesen, und die Befehlshaber zeigten sich zufrieden, als sie sich die Folgen ansahen.
Große »Menschenverluste«
Im Jahresbericht des Gouvernements aus dem Jahr 1907 über die Entwicklung in Ostafrika stand, dass die Nahrungsmittelvorräte der Besiegten zerstört waren und der weitere Anbau für sie unmöglich gemacht worden war. Aus Sorge um die Zukunft unterwarfen sich die Afrikaner. Doch auch das Schicksal vieler Bewohner der Kolonie, die nach den Schrecken des Krieges bereit waren, ihre Freiheit aufzugeben, damit endlich Frieden herrschte, war besiegelt. »Von denen, die Krieg und Hunger verschont hatten, fiel eine große Zahl entkräftet jeder Krankheit zur Beute. Wurmleiden traten seuchenartig auf und breiteten sich, durch die Arbeiter verschleppt, auch in vorher gesunden Gegenden aus. Den schlecht genährten Müttern versagte die Milch, so dass in manchen Gegenden eine enorme Kindersterblichkeit eintrat«, heißt es in dem Jahresbericht. Für die Bevölkerung wirkte sich auch verschärfend aus, dass die Regenzeit im ersten Halbjahr 1907 ausblieb.
Der Bericht des Gouvernements legt auch an anderen Stellen nahe, mit welcher Mischung aus Genugtuung und Emotionslosigkeit die Deutschen den von ihnen begangenen Massenmord registrierten. So wurde darin notiert, dass Mohoro, Lindi und Kilwa im Südosten der Kolonie »infolge der großen Menschenverluste noch einige Zeit brauchen, um sich vollständig zu erholen«.¹⁸
Allerdings finden sich in den zeitgenössischen Schriften der deutschen Täter zum Maji-Maji-Krieg auch zahlreiche beschönigende Passagen, in denen Graf von Götzen etwa behauptet, dass Grausamkeiten gegenüber Frauen und Kindern »vermieden wurden«. Auch die Askaris nahm er immer wieder in Schutz. Von Götzen bescheinigte ihnen eine angebliche »Freude am Soldatenberuf«.¹⁹
Dass viele Verbrechen von den Askaris begangen wurden, befreit die Deutschen nicht von ihrer Verantwortung. Denn sie waren die Befehlshaber, und die Grausamkeiten während des Krieges blieben weitgehend straffrei. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass sie bei der deutschen Militärführung auf Zustimmung stießen. Bestraft wurden die Askaris vielmehr, wenn sie die Befehle nicht im Sinne der Deutschen ausübten oder der Verdacht bestand, dass sie nicht mehr loyal sein könnten.²⁰
Ohne Unterschied verdächtig
Obwohl nicht alle Menschen im Süden des heutigen Tansania an dem Maji-Maji-Krieg als Kämpfer teilnehmen wollten, galten sie für die Kolonialtruppen ohne Unterschied als verdächtig. Die Strafen sollten auch die Zivilbevölkerung treffen. Denn viele Menschen hatten die Maji-Maji-Kämpfer unter anderem mit Nahrungsmitteln versorgt. In der Folge wurden auch zahlreiche Unbeteiligte ermordet, wie Gwassa, der noch mit Zeitzeugen sprechen konnte, in seinem Buch nachweist. Nach dem Krieg wurden alle gehängt, die verdächtigt wurden, etwas mit den Maji-Maji-Kämpfern zu tun gehabt zu haben. Die Methoden der Deutschen nach dem Krieg waren noch zerstörerischer als die während des Krieges selbst. Das brutale Vorgehen hat letztlich die koloniale Herrschaft des Deutschen Kaiserreichs gestärkt und die Afrikaner davon abgehalten, zu versuchen, sich in der nächsten Zeit noch einmal mit Gewalt gegen die Kolonialherrschaft zu wehren.²¹
Trotz dieses Vernichtungswillens ist es unter Forschern bis heute umstritten, ob man von einem Völkermord sprechen kann. Denn einerseits schreckten die Kolonialtruppen vor keiner Grausamkeit zurück. Andererseits betrachteten die Deutschen die Einwohner als ihr Eigentum, das noch benötigt wurde. Schließlich dachten die Kolonialherren auch an den wirtschaftlichen Profit. Der Kapitalismus funktioniert nicht, wenn niemand mehr da ist, dessen Arbeitskraft ausgebeutet werden kann. Militärische Befehlshaber wie Graf von Götzen machten sich diesbezüglich zumindest zeitweilig keine großen Gedanken. Er verteidigte »die Vernichtung von wirtschaftlichen Werten«, da »afrikanische Negerhütten in kurzer Zeit wieder entstehen« und die »Üppigkeit der tropischen Natur rasch wieder neue Feldfrüchte hervorbringt«. Er ging auch nicht davon aus, dass die Afrikaner ebenso wie die indigenen Bevölkerungen Australiens und in Teilen Amerikas durch Hunger, Krankheiten und harte Arbeitsbedingungen in einer großen Zahl vernichtet werden könnten. Die Deutschen sprachen in ihrem rassistischen Denken den Afrikanern größere Abwehrkräfte zu. Sie seien von »starker Vitalität« und »Anpassungsfähigkeit«, so von Götzen.
Deswegen hatte der Gouverneur auch keinerlei Skrupel, mit einer «Vernichtungstaktik« – diesen Begriff benutzte von Götzen wortwörtlich – gegen die Aufständischen und die Zivilbevölkerung vorzugehen. Er war sich sicher, dass vom Vernichtungsfeldzug noch genug Menschenmaterial übrigbleiben werde, das sich in Friedenszeiten wieder nutzen ließ, um zugunsten der deutschen Siedler und des Kaiserreiches weiter Kapital akkumulieren zu können. Manche Regionen in Ostafrika mussten eben für eine unbestimmte Zeit abgeschrieben werden, andere würden sich wieder »erholen«.
Ob es einen expliziten Befehl der deutschen Militärführung für die Strategie der »verbrannten Erde« gab oder man davon ausgehen muss, dass sie unter den Soldaten auch ohne Befehl als selbstverständlich angesehen wurde, ist unter Historikern umstritten.²²
Überliefert ist indes ein Zitat des deutschen Majors der sogenannten Schutztruppe, Curt von Wangenheim, vom Oktober 1907. Er erklärte, dass wenn die verbliebene Nahrung verzehrt und die Häuser der Menschen zerstört wären und diese keine Möglichkeit mehr hätten, Felder zu bestellen, weil die Kolonialtruppen dies durch ständige Kontrollen unterbinden würden, wäre der Widerstand der Ostafrikaner gebrochen.²³ Somit hatte von Wangenheim deutlich die Strategie der »verbrannten Erde« erläutert.
Auch Beobachtern aus dem Deutschen Reich war klar, dass hier ein Vernichtungskrieg geführt wurde. Ein Redakteur der Kölnischen Zeitung schrieb im Jahr 1908, dass der ansonsten ziemlich ergiebige Ackerbau augenblicklich noch darniederliege, weil »infolge des letzten Aufstandes ein großer Teil der männlichen Bevölkerung vernichtet worden ist«.²⁴
Mindestens 100.000 Tote
Erst in jüngerer Vergangenheit sind auch einige westliche Forscher zu dem Schluss gekommen, dass es starke Beweise dafür gibt, dass in Ostafrika tatsächlich ein Völkermord begangen wurde und die Deutschen in einer »genozidalen Absicht« gehandelt haben. Die Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die dadurch verursachte Hungersnot reichten aus, um diese These zu stützen. Das schreiben etwa der Historiker Klaus Bachmann und der Jurist Gerhard Kemp in einem wissenschaftlichen Aufsatz von 2021. Auch sie verweisen auf die großen Opferzahlen. Während die deutsche Kolonialverwaltung schätzte, dass infolge des Krieges etwa 75.000 Menschen starben, nannte Gilbert Gwassa 250.000 bis 300.000 Todesopfer. Einige neuere Forschungen, auch in Europa, gehen davon aus, dass die Wahrheit zwischen diesen Zahlen der Deutschen und des tansanischen Historikers liegt, wenn man die Menschen einbezieht, die an Krankheiten und Hunger starben.²⁵ Inzwischen ist in den meisten Publikationen von »mindestens 100.000« oder »bis zu 300.000« Todesopfern die Rede.
Anmerkungen
1 Jamie Monson: Gedenken um der Zukunft willen. Der Maji-Maji-Aufstand von 1905 bis 1907, in: der-ueberblick.de, 2/2005
2 Gustav Adolf Graf von Götzen: Deutsch-Ostafrika im Aufstand 1905/06, Berlin 1909, S. 159
3 Vgl. Gilbert Clement Gawana Gwassa: The Outbreak and Development of the Maji Maji War 1905–1907, Köln 2005, S. 217 f.
4 Vgl. Karl-Martin Seeberg: Der Maji-Maji-Krieg gegen die deutsche Kolonialherrschaft: Historische Ursprünge nationaler Identität in Tansania, Berlin 1989, S. 43
5 Vgl. Pangwa in Tanzania, in: joshuaproject.net
6 Vgl. Heiko Wegmann: Vom Kolonialkrieg in Deutsch-Ostafrika zur Kolonialbewegung in Freiburg: Der Offizier und badische Veteranenführer Max Knecht (1874–1954), Freiburg im Breisgau 2019, S. 174
7 Vgl. Jigal Beez: Geschosse zu Wassertropfen: Sozio-religiöse Aspekte des Maji-Maji-Krieges in Deutsch-Ostafrika (1905–1907), Köln 2003, S. 103
8 Vgl. Inka Chall, Sonja Mezger: Die Perspektive der Sieger, in: Felicitas Becker u. Jigal Beez (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905–1907, Berlin 2005, S. 143–146
9 Götzen (Anm. 2), S. 101
10 Gwassa (Anm. 3), S. 71
11 Wegmann (Anm. 6), S. 103
12 Vgl. Gwassa (Anm. 3), S. 77
13 Ebd., S. 186
14 Ebd., S. 191 f.
15 Seeberg (Anm. 4), S. 80 f.
16 Götzen (Anm. 2), S. 168
17 Ebd., S. 245
18 Ebd., S. 233 f.
19 Ebd., S. 245
20 Vgl. Klaus Bachmann, Gerhard Kemp: Was Quashing the Maji-Maji Uprising Genocide? An Evaluation of Germany’s Conduct through the Lens of International Criminal Law, in: Holocaust and Genocide Studies 35 (2021), No. 2, S. 235–249
21 Vgl. Gwassa (Anm. 3), S. 177
22 Vgl. Ludger Wimmelbücker: Verbrannte Erde. Zu den Bevölkerungsverlusten des Maji-Maji-Krieges, in: Felicitas Becker u. Jigal Beez (Hg.): Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika 1905–1907, Berlin 2005, S. 87
23 Vgl. Bachmann/Kemp (Anm. 20
24 Wegmann (Anm. 6), S. 175 f.
25 Vgl. Bachmann/Kemp (Anm. 20)
Aert van Riel: Der verschwiegene Völkermord. Deutsche Kolonialverbrechen in Ostafrika und ihre Folgen. Papy Rossa, Köln 2023, 178 Seiten, 16,90 Euro
Aert van Riel ist Historiker und arbeitet als politischer Referent für Antirassismuspolitik beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.
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