Blut geleckt
Von Nick Brauns
Eine knappe Woche nach Bakus Angriff auf Bergkarabach, der innerhalb von 24 Stunden mit der Kapitulation der international nicht anerkannten armenischen Republik endete, wollen sich am Montag der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew und sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdoğan treffen. Der Ort ihrer Zusammenkunft – die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan – signalisiert die weitere politische Stoßrichtung ihrer pantürkischen Allianz.
Die strategische Bedeutung von Nachitschewan hatte bereits der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk erkannt, der im russisch-türkischen Freundschaftsvertrag von 1921 das Gebiet als autonomen Teil des aserbaidschanischen Territoriums anerkennen ließ. Erst nach einem Gebietstausch mit Iran 1932 kam die Türkei zu einer gerade einmal 17 Kilometer langen Grenze zur damaligen Autonomen Sozialistische Sowjetrepublik Nachitschewan. Seit rund drei Jahrzehnten kann Aserbaidschan seine Exklave nur auf dem Luftweg erreichen.
Eine deswegen angestrebte Landverbindung, der sogenannten Sangesur-Korridor, durch Armenien hätte gewichtige geopolitische Vorteile für die Türkei und Aserbaidschan. Damit würde sich eine auch für Handel und Energietransfer nutzbare Route vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer eröffnen. Ihrem Vorhaben kamen die Strategen in Ankara und Baku nach dem 44-Tage-Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien 2020 deutlich näher – auf dem Papier. Im Waffenstillstandsabkommen war die Öffnung einer Überlandstraße unter Kontrolle russischer Truppen vereinbart worden. Umgesetzt wurde das nicht, unter anderem weil der durch die Kriegsniederlage geschwächte armenische Premierminister Nikol Paschinjan fürchten musste, dann von der nationalistischen Opposition davongejagt zu werden.
Vor der UN-Vollversammlung am Donnerstag in New York erklärte Erdoğan, er erwarte nun, dass Armenien den Sangesur-Korridor öffne. Anschließend berichtete der türkische Präsident gegenüber der Presse, Alijew habe ihm für seine Rede gedankt und bezüglich der Armenier in Bergkarabach versichert: »Sie werden dort wahrscheinlich nie wieder atmen können. Die Arbeit ist erledigt.«
Ein Großteil der dortigen Bevölkerung rüstet sich angesichts des drohenden Einmarsches von Truppen, die offen den Schlächter des Genozids von 1915/16 General Enver Pascha als Helden verehren, zur Flucht. Derweil zeichnet sich bereits der nächste Krieg im Kaukasus ab. Der Überfall auf Bergkarabach erscheint so als Test bezüglich der weitgehend ausgebliebenen Reaktionen Russlands und des Westens. Die Gefahr, dass Alijew von Erdoğan ermutigt, die Gunst der Stunde nutzt, um mit Gewalt Tatsachen bezüglich des Sangesur-Korridors einschließlich der im aserbaidschanischen Staatsfernsehen bereits zum eigenen Territorium reklamierten südöstlichen armenischen Provinz Sjunik zu schaffen, ist real. Denn die Wölfe in Baku und Ankara haben nun Blut geleckt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Reinhard W. aus Hamburg (25. September 2023 um 13:32 Uhr)Die Armenier haben den Fehler begangen, mit den USA ein gemeinsames Manöver zu veranstalten. Das hat Moskau gezeigt, dass es sich nicht sonderlich rentiert, auch nur einen Mann für die Armenier zu riskieren. Dass die Armenier jetzt wieder daherkommen und um Hilfe betteln, weil die USA sich einen feuchten Kehricht um die Armenier scheren, solange sie dort keine Atomraketen gegen Moskau unterbringen können, hilft ihnen nichts. Die armenische Regierung gilt jetzt als unsicherer Kantonist und damit muss sie allein klarkommen. Es wäre für Russlands Außenwirkung verheerend, wenn jemand mit so einer Fähnchentaktik durchkommen würde. Pech für die Armenier, dass sie gerade eine solche Regierung haben, die sich für besonders schlau hält.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph V. aus 53227Bonn (25. September 2023 um 14:47 Uhr)Also »die Armenier« haben … Ja, der Typ wurde »gewählt«, irgendwie. Und ja, es ist ein Hasardeur wie üblich bei diesen Farben »Revolutionen«. Aber: Jede Führung hätte versuchen sollen und müssen, mit dem/den Paten des »kontrollierten« Chaos, des Zündelns der Türkei/Aserbaidschans (mit erklärten völkermörderischen Absichten seit jeher und in Gegenwart von EU-Offiziellen/Adenauer-Stiftung), den USA/(EU), sich irgendwie »ins Bett zu legen«. Ein Blick auf die Landkarte zeigt die für Moskau prekäre Situation. Krieg gegen Aserbaidschan/Türkei, Angliederung Armeniens an Russland, vgl. Donbass – mehr als gute Diplomatie geht nicht. Und Moskau, wenn man sich informiert, tut eine Menge für die armenische Bevölkerung, nur Moskau.
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Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (25. September 2023 um 12:35 Uhr)Zitat: »Denn die Wölfe in Baku und Ankara haben nun Blut geleckt« – Mich wundert, dass Russland angesichts dessen kaum Reaktion zeigt. Kaum zu glauben, dass Russland kein eigenes Interesse an dieser Region hat und sie dem türkischen Einflussgebiet überlassen will. Aber vermutlich fordert der Krieg gegen die Ukraine mehr Aufmerksamkeit, weil es dort für Russland auch nicht so recht vorangeht. – Warum setzen sich Putin und Erdoğan nicht zusammen, um eine Lösung zu finden? So, wie vor einigen Monaten, als es auf diese Weise gelang, das Getreideabkommen auf den Weg zu bringen?
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Leserbrief von Al Teich aus Berlin (25. September 2023 um 15:59 Uhr)Zuletzt haben sich Erdoğan und Putin am 04.09. in Sotschi getroffen. Es ging um verschiedene Dinge.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (25. September 2023 um 04:47 Uhr)»Ein Großteil der dortigen Bevölkerung rüstet sich angesichts des drohenden Einmarsches von Truppen, die offen den Schlächter des Genozids von 1915/16 General Enver Pascha als Helden verehren, zur Flucht.« Und genau so sah es kurz vor dem 24. Februar 2022 im Donbass aus. Die Ostukrainer befürchteten den Einmarsch der Truppen, welche die Bandera- und SS-Hilfstruppen verehren. Die Flucht bzw. Evakuierung war in vollem Gange. Allerdings würde die EU Erdoğan nicht dafür belobigen, ihn nicht allseits mit Geld, Waffen, Propaganda und Knowhow versorgen, im Bundestag mit stehendem Applaus danken, wie sie es bei der Ukraine und Selenskij handhabt. Es wird jedoch bei einigen Mahnungen an die Adresse der Türkei bleiben. Sie ist unser NATO-Partner. Wir brauchen sie auch noch als Stellvertreter, um den syrischen Staat weiter zu schädigen und zu teilen. Wir brauchen Aserbaidschan, um von dort die Energielieferungen zu beziehen, welche die USA und wir selbst von Russland abgeschnitten haben. Armenien hat ja dafür eine schöne Resolution im Bundestag anlässlich des Völkermordes 2015 erhalten. Das muss genügen.
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