Scholz hetzt mit
Von Kristian Stemmler
Politikwechsel zum Nachteil Schutzsuchender: Zwei Wochen vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen stieg am Wochenende auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in die medial aufgeheizte Migrationsdebatte ein. Es seien »sehr viele, die nach Europa und nach Deutschland kommen, und die Zahl hat dramatisch zugenommen«, sagte Scholz am Samstag bei einer SPD-Kundgebung in Nürnberg, wie dpa berichtete. Damit nahm er das seit Wochen von den Unionsparteien im Verein mit der Boulevardpresse vorgebrachte Narrativ auf, das Land werde von einer neuen »Flüchtlingswelle« überrollt. CDU-Chef Friedrich Merz forderte Scholz unterdessen erneut dazu auf, gemeinsam an einer Lösung der Probleme zu arbeiten.
Mit Blick auf die gestiegene Zahl von Asylsuchenden nannte Scholz die Lage »schwierig«. Das auszusprechen sei für jeden Demokraten in einer Gesellschaft, die über Probleme frei diskutiere, unverzichtbar und richtig. Der Kanzler bekannte sich zwar zum Grundrecht auf Asyl, redete aber einer verschärften Abschiebeagenda das Wort. Wer komme und sich nicht auf Schutzgründe berufen könne oder Straftaten begangen habe, müsse zurückgeführt werden. Scholz forderte Aufklärung über Unregelmäßigkeiten bei Visavergaben in Polen. Je nach aktueller Lage an den Grenzen müsse man »möglicherweise weitere Maßnahmen ergreifen, zum Beispiel an dieser«.
Merz diente sich Scholz unverhohlen an. »Lassen Sie uns das zusammen machen, und wenn Sie das mit den Grünen nicht hinbekommen, dann werfen Sie sie raus«, sagte er beim CSU-Parteitag in München. Mit Blick auf die Asylsuchenden sprach der CDU-Chef von »Sprengstoff für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft«. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte in der Süddeutschen Zeitung (Sonnabend) einen parteiübergreifenden Schulterschluss, es brauche »so einen Konsens wie 1993«. Damals hatten Union, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl ausgehöhlt.
Alexander Dobrindt, Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, sagte dem TV-Sender Phoenix, es gebe »mit uns im Bundestag eine Mehrheit, diese Entscheidungen zum Stopp der illegalen Migration zu beschließen«. Linnemann und Dobrindt zielten offenbar auf den Vorschlag der Union, nur noch ein festes Kontingent von Schutzsuchenden aufzunehmen, was eine Abschaffung des Rechts auf Asyl bedeuten würde.
FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai verstärkte den Druck auf den Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen. Diese seien »in der Migrationspolitik ein Sicherheitsrisiko für das Land« und erschwerten »durch realitätsferne Positionen konsequentes Regierungshandeln und parteiübergreifende Lösungen«, sagte er der dpa. Vizekanzler Robert Habeck sprach sich bei einem Grünen-Parteitag in Schleswig-Holstein für Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern aus. »Was wir machen müssen, sind konkrete Maßnahmen, die den Menschen helfen, den Kommunen helfen«, sagte er.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte gegenüber der Welt am Sonntag auf die Frage, ob es an der polnischen und tschechischen Grenze kurzfristige stationäre Grenzkontrollen geben werde, das sei »eine Möglichkeit, Schleuserkriminalität härter zu bekämpfen«. Ein Ministeriumssprecher teilte der dpa mit, »entsprechende zusätzliche grenzpolizeiliche Maßnahmen« würden aktuell geprüft.
Kräftig angeheizt wurde die Debatte von den Medien. »So geht es nicht weiter!« schlagzeilte Bild und forderte faktisch eine Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Der Spiegel titelte »Schaffen wir das noch mal?« und illustrierte das mit einer langen Schlange wartender Asylsuchender. Das Magazin stellte damit bewusst einen Bezug zur sogenannten Flüchtlingskrise von 2015/16 her. Tatsächlich liegt die Zahl der Asylanträge in diesem Jahr weit unter den Zahlen von damals. Im Jahr 2015 lag die Zahl der Anträge bei mehr als 476.000, 2016 sogar bei mehr als 745.000. Bis Ende August registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr als 204.000 Erstanträge auf Asyl – mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres, aber weitaus weniger als 2015/16.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (25. September 2023 um 07:42 Uhr)In dieser Gesellschaft darf über das eine oder andere Problem nicht frei diskutiert werden. Faktisch herrscht in Teilen Kriegsrecht ohne formal erklärten Krieg, auch wenn sich die eine oder andere Außenministerin diesbezüglich gelegentlich verplappert. Über die Durchsetzungsfähigkeit der Reaolos bei den Grünen müssen sich die Herren Merz und Djir-Sarai keine Sorgen machen. Die paar grünen Gutmenschen, die noch eine Schaupackung von Werten aus früheren Zeiten feil halten, sind bedeutungslos.
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