Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
Gegründet 1947 Mittwoch, 29. November 2023, Nr. 278
Die junge Welt wird von 2753 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13.01.2024
Aus: Ausgabe vom 22.09.2023, Seite 16 / Sport
Champions League

Hola, die Waldfee

Union in der Königsklasse, Teil 1: Reisekader im Bernabéu
Von Michael Merz, Madrid
imago1034617781h.jpg
Die Chancen schienen ganz gut zu sein, schließlich hatten sie noch nie gegen Real verloren

An den Laternenmasten Berlins klebte vor ein paar Jahren der rot-weiße Sticker »Irgendwann irgendwann einmal spielt Union auch international«. Sehr träumerisch klang das damals. Und irgendwie utopisch, obwohl der 1. FC Union Berlin sich schon da konsequent von der bedrohten Existenz in den 90ern über die Regionalliga bis in die Bundesliga hochgearbeitet hatte. Dann wurde seit 2019 in der ersten Spielklasse in jeder Saison noch eine Schippe draufgelegt: Conference League, Europa League und jetzt Champions League. So unwirklich das immer noch klingt: Die Eisernen spielen nicht mehr »nur« international, sie spielen Königsklasse.

Mit allem, was das mit sich bringt. Denn der Höhenflug bedeutet auch einen Spagat zwischen bodenständiger Fannähe, ohne die es den Club längst nicht mehr gäbe, und dem Mitspielen mit denen, die die große Kohle im Fußballbusiness machen. Ein Moment im August brachte die Daueraufgabe zum Ausdruck: Die Choreographie der Ultras im Stadion an der Alten Försterei zum Bundesliga-Auftakt hatte die Losung »Unser Schlüssel zum Erfolg – niemals zu vergessen, woher wir kommen«. Das ist der Osten. Und zwar der, der sich nicht vom Westen kaufen lassen will. Entsprechend heiß herging es, als im Sommer die Entscheidung fiel, die Champions-League-Heimspiele im einigermaßen verhassten Olympiastadion in Charlottenburg auszutragen.

Mittwoch morgen am BER, die Sonne ist noch nicht aufgegangen, Fanfrühstück an der Bar mit Bier und Bretzel, die Reisekader sammeln sich. »Früher waren wir für die drüben die Waldmenschen, jetzt spielen wir in Madrid«, sagt Holger. »Erst wenn ich ’ne Wurst ins Bernabéu gelegt habe, kann ich’s fassen – Champions League, Alta!« Das Ergebnis der Auslosung für die Spiele der Gruppenphase war eigentlich Union-typisch. Alles oder nichts: Sporting Braga, SSC Neapel und der Rekordsieger des Wettbewerbs, Real Madrid. Das erste Spiel nun bei den »Galaktischen«, in deren legendärem Stadion, dessen noch laufender Umbau mit allem Schnickschnack wie einfahrbarem Rasen angeblich eine Milliarde kosten soll.

Vier gecharterte Flieger heben ab nach Spanien, an Bord ist die Laune aufgekratzt, Zeit der Sprücheklopfer: »Die Chancen sind ganz gut, schließlich haben wir noch nie gegen Real verloren«, sagt der, der sich mit »Ick bin Icke, wer bist du« vorstellt. Kunststück. »Hola, die Waldfee!« kommt es aus einer anderen Ecke. Im Taxi in die Innenstadt – der Fahrer ist Fußballexperte, Hertha kennt er, aber von Union hat er noch nie gehört. Interessiert hört er zu und setzt seine Passagiere an dem Hotel ab, vor dem zufälligerweise gerade die Mannschaft ihren Bus verlässt. Das fällt nur ein paar Union-Fans auf, die vorbeilaufen, sonst erkennt hier keiner Becker, Trimmel oder Laïdouni, die in Köpenick inzwischen berühmt sind wie der alte Hauptmann.

Die Puerta del Sol ist der Treffpunkt der »Szene Köpenick«, einem Fanzusammenschluss, der sich unter anderem um die Choreos im Stadion kümmert. »Alle in Rot« ist heute das Motto, entsprechend gehen die Touristen und deren Nepper in bunten Comickostümen in den Mittagsstunden ziemlich unter. Laut ist es, »Eisern! Union!« schallt es von einer Ecke des Platzes zur anderen. In einer Bar sitzt ein älterer Dauerkartenbesitzer und ärgert sich, dass er immer noch kein Ticket hat: »Bei Wind und Wetter sind wir in der Försterei, gucken uns selbst Heidenheim an, aber wenn es um die Spitzenspiele geht, keine Chance.« Er wolle sich einen Spanier suchen, der für ihn noch eine Karte kauft – das sollte dann auch klappen, im Bernabéu sitzt er später im roten Trikot zwischen den Real-Fans.

Das Stadion selbst sieht nicht aus wie eines, eher wie ein Einkaufszen­trum zwischen Hochhäusern, so dass ich erst mal dran vorbeilaufe. An der Nordseite, dem Gästeeingang, dann Union-Bambule. So laut, dass Einheimische stehenbleiben, mit Handy filmen und staunen. Louis, ein netter Real-Fan aus Mexiko: »So was hab’ ich noch nie erlebt.« Interessiert lässt er sich über Traditionen und Herkunft aufklären, will wissen, was das bedeutet mit dem »Eisern«. Die Polizei ist höchst alarmiert, eine Drohne schwebt über den Köpfen, Berittene und Behelmte allerorten. Drin dann ein Mix aus Edelstahl und Bauschutt, königlich stellt man sich anders vor. Die Gäste sind nach ganz oben, hinter ein engmaschiges Netz verbannt, es gibt nur Alkoholfreies und nichts vom Grill, nur abgepackte Brötchen.

Spieler und Fans geben nach Anpfiff Vollgas. Real kommt nicht durch, zur Halbzeit steht’s 0:0. So könnte es bleiben. Die Superstars aus Madrid machen noch mehr Druck, ohne Erfolg. Alles schaut auf die Uhr, die tickt in Zeitlupe. Und dann macht der Fußballgott in der Nachspielzeit Feierabend. Letzte Minute: Treffer für Real – 1:0. Schockmoment, der Gästeblock ist für Sekunden erstarrt. Vom Himmel in die Hölle. Gefeiert wird die Mannschaft trotzdem, wie es sich gehört bei Union. Am 3. Oktober geht es in die nächste Runde: Nach mehr als 20 Jahren gibt es wieder Champions League in Berlin, Sporting Braga aus Portugal kommen ins dann rot ausgeleuchtete Olympiastadion.

Immer noch kein Abo?

Die junge Welt ist oft provokant, inhaltlich klar und immer ehrlich. Als einzige marxistische Tageszeitung Deutschlands beschäftigt sie sich mit den großen und drängendsten Fragen unserer Zeit: Wieso wird wieder aufgerüstet? Wer führt Krieg gegen wen? Wessen Interessen vertritt der Staat? Und wem nützen die aktuellen Herrschaftsverhältnisse? Kurz: Wem gehört die Welt? In Zeiten wie diesen, in denen sich der Meinungskorridor in der BRD immer weiter schließt, ist die junge Welt unersetzlich.

Mehr aus: Sport