Wahlkampf wird rabiat
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
Im polnischen Wahlkampf wird einen knappen Monat vor dem Abstimmungstermin am 15. Oktober das Klima rauher. Am Dienstag nahm die Polizei in Otwock bei Warschau Kinga Gajewska, Sejm-Abgeordnete der liberalen Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO), vorübergehend fest. Sie hatte in einiger Entfernung von einem Auftritt von Regierungschef Mateusz Morawiecki über Megaphon die Bevölkerung darüber »informiert«, dass »die Regierung 250.000 Migranten nach Polen geholt hat« – eine Anspielung auf die Visaaffäre, die die polnische Öffentlichkeit seit einigen Tagen aufregt. Der Anspruch, das Publikum zu »informieren«, ergibt sich daraus, dass die Regierungsmedien, vor allem das Fernsehen, das Thema systematisch meiden und verschweigen.
Die Polizisten griffen sich jedenfalls die Abgeordnete Gajewska, packten sie an den Armen und zerrten sie in einen Polizeibus. Obwohl sie – das beweisen die inzwischen bekanntgewordenen Aufnahmen der Bodycams der Beamten – ständig wiederholte, dass sie Abgeordnete sei, ließen die Beamten nicht von ihr ab und gaben ihr nicht einmal Gelegenheit, ihren Dienstausweis hervorzuholen. Auf die Frage nach dem Grund der Festnahme erklärte der Einsatzleiter, ihm passe nicht, wie die Abgeordnete sich aufführe; sie störe die angemeldete Veranstaltung Morawieckis, ohne selbst eine Anmeldung für ihren Auftritt zu haben.
Genau das Spiegelbildliche war zuvor am Montag morgen völlig ohne Eingreifen der Polizei vor der Zentrale des Staatsfernsehens TVP passiert. Dort wollte Donald Tusk eine Pressekonferenz zur Visaaffäre veranstalten. Ergebnis war, dass der Moderator der Morgenshow »Los geht’s«, Michał Rachoń, seine Sendung Sendung sein ließ, mit einem Kamerateam vor die Tür kam und Tusk aus nächster Nähe beschimpfte und ihm Verbindungen zu Russland und Deutschland vorwarf.
Die Bürgerplattform ist dabei auch nicht zimperlich. Vor einigen Tagen veröffentlichte eine Abgeordnete der Partei aus der südpolnischen Region Kielce ein Video im Internet. Es zeigt, wie lokale PiS-Politiker im Gebäude einer vor zwei Jahren eröffneten Gedenkstätte für die Opfer einer »Befriedungsaktion« der nazideutschen Gendarmerie im Dorf Michniów intensiv feiern. Die offensichtlich von der Überwachungskamera aufgenommenen und der PO-Vertreterin zugespielten Bilder zeigen Politiker und Mitarbeiter der Gedenkstätte bei einer Party hinter Dutzenden von Bier- und Schnapsflaschen. Die Aussage des Filmchens soll erkennbar sein, dass die patriotische Rhetorik der Regierungspartei PiS nur Getue sei.
Unterdessen zeigt sich, dass es mit der vielbeschworenen Einheit der »demokratischen Opposition« nicht weit her ist. Für den 1. Oktober hat Tusk zu einem »Marsch der eine Million Herzen« in Warschau aufgerufen. Er will damit an den Erfolg einer ähnlichen Veranstaltung am 4. Juni anknüpfen, zu der mit geschätzten 500.000 Teilnehmenden weit mehr Menschen gekommen waren als erwartet. Während die polnische Linkspartei ankündigte, für diese Veranstaltung ebenfalls mobilisieren zu wollen, machte die erstmals antretende rechtsliberale Bewegung »Dritter Weg« des katholischen TV-Moderators Szymon Hołownia einen Rückzieher. Sie will statt dessen am selben Wochenende »1.000 Begegnungen« in ganz Polen veranstalten. Eine ähnlich zweifelhafte Rolle hatte Hołownia bereits anlässlich der Präsidentenwahl 2020 gespielt. Er war als Kandidat angetreten und mit 13,87 Prozent der Stimmen nicht in die Stichwahl gekommen, hatte aber bewusst vermieden, zur Wahl des knapp hinter Amtsinhaber Andrzej Duda gelandeten PO-Bewerbers Rafał Trzaskowski aufzurufen. Der verlor daraufhin knapp mit 49 zu 51 Prozent.
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Leserbrief von Armin Christ aus Löwenberger Land (22. September 2023 um 13:59 Uhr)Da ist die neoliberale PIS in klerikaltotalitärem Gewande und die neoliberale PO, die einen auf bürgerliche Freiheiten macht.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Gottfried W. aus Berlin (22. September 2023 um 11:27 Uhr)Die Polen wieder. Bei uns wäre sowas nicht möglich und nie möglich gewesen, Beeinflussung der Berichterstattung, Missachtung von Abgeordnetenrechten, politisch instrumentalisierte Polizei, pfui, Skandal. Korruption in Polen, kennen wir ja. Dass in der Gemengelage der desaströse Zustand der ukrainischen Situation benannt wird durch den polnischen Präsidenten, ist für die Zukunft viel bedeutender. Die Visa-Affäre ist halt etwas unelegante Bereicherung. Die Einreisenden bleiben eh nicht in Polen und ziehen weiter, das wissen auch die Pis-Wählenden. Malta und Zypern wie Griechenland machen ähnliche Deals. Kaum einer war korrupter als Tusk. Dass die Ukraine so anmaßend ist und ihren Platz nicht kennen will, das werden die Polen nicht durchgehen lassen. Sehr gut.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Christa K. (21. September 2023 um 21:17 Uhr)Ach ja, so geht Demokratie: Es geht wie immer nicht um die Menschen, das Wahlvolk, die Polizei stets an der Seite der Regierung – mir graust’s! Wie riefen wir damals: »Wenn Wahlen je etwas bewirkt hätten, wären sie längst abgeschafft«, oder noch flapsiger: »Ein Wähler ist nur nützlich, wenn dämlich« Ich hab mich dran gehalten.
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