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Aus: Ausgabe vom 20.09.2023, Seite 12 / Thema
Literatur

Fokus: Randgruppen

Kapitalismus und Klassenverhältnisse im Werk des Schriftstellers Michael Wildenhain. Ein Gruß zum 65. Geburtstag
Von Ingar Solty
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Immer wieder Gegenstand der literarischen Aufarbeitung bei Michael Wildenhain: Die Erfahrungen der Alternativ- und Hausbesetzerbewegung der 1980er Jahre (Bülowstraße in Berlin-Schöneberg, 22.9.1981)

Literatur, die politisch ist, weil sie realistisch ist, macht Aussagen über die Welt, in der wir leben. In unserer Gesellschaftsordnung, dem Kapitalismus, beschreibt sie die Klassenverhältnisse, in denen sich die Protagonisten bewegen und zu denen sie sich zugleich aktiv verhalten. Bei einem politischen Schriftsteller wie Michael Wildenhain ist demnach die Frage, inwiefern Kapitalismus und Klassen in seinem Werk verhandelt werden, eine relevante.

Für das Werk von Wildenhain ist zweifellos der Übergang des fordistischen zum neoliberalen Finanzmarktkapitalismus die entscheidende Zäsur. Mit der neoliberalen Wende einher ging eine (Re-)Disziplinierung der Lohnabhängigen: zum einen durch die Globalisierung des Kapitalismus, da das mobile Kapital nunmehr die Nationalstaaten zu Subventionen und die Beschäftigten zu (Lohn- etc.) Konzessionen zwingen könnte, und zum anderen durch den geldpolitischen Übergang von der keynesianischen Orientierung an Vollbeschäftigung zur angebotsorientierten Geldpolitik, die mit der Entstehung von Massenarbeitslosigkeit den Druck auf dem Arbeitsmarkt erhöhte. Der Übergang vom Wohlfahrts- zum Workfare-Staat – in Deutschland etwa mit den Hartz-Gesetzen – hat ihn weiter intensiviert.

Bei Wildenhain erscheint die Disziplinierung der Arbeiterklasse durch Massenarbeitslosigkeit etwa in »Erste Liebe Deutscher Herbst«, geschrieben 1997, aber spielend 1977: »Babs schaute am Gesicht des Chefs vorbei. Er schien sie zu ermahnen, blaffte, sie solle überlegen, ob sie es sich leisten könne, so spät zur Arbeit zu erscheinen.«

Michael Wildenhain versteht sich als ein antikapitalistischer Schriftsteller und grundlegender Kritiker des Bestehenden. Dennoch scheint es zunächst, als ließe sich über viele Themen in seinem Werk leichter schreiben als über kapitalistische Produktionsverhältnisse, Arbeitswelten und Klassenrealitäten.

Chronist der Hausbesetzer

Viel Poetologisches ist über sein Werk geschrieben worden: über Spannungsaufbau, Kompositions- und Erzähltechnik, was im Hinblick auf sein Werk letztlich die Art und Weise meint, wie er in seinem jüngeren Prosawerk, in »Das Lächeln der Alligatoren« und »Das Singen der Sirenen«, verschiedene Narrationsweisen und Erzählperspektiven, Raum-Zeit-Matrixen kunstvoll miteinander verschachtelt. Vieles ließe sich sagen über das Geschichtsbild von Wildenhain, der politisch in der Hausbesetzerszene der frühen 1980er Jahre in Schöneberg in Westberlin sozialisiert wurde und diese Erfahrungen auch zum Gegenstand seines Werks machte. Dies gilt sowohl in bezug auf das Frühwerk und die Zeitzeugenliteratur der Hausbesetzungen – »zum beispiel k.« (1983), »Prinzenbad« (1987) und »Die kalte Haut der Stadt« (1991) – als auch über die späteren Werke »Erste Liebe Deutscher Herbst« (1997), »Träumer des Absoluten« (2008) und »Das Lächeln der Alligatoren« (2015), die diese Episode urbaner Politik im Kalten Krieg aus der zeitlichen Distanz reflektieren. Insbesondere in »Erste Liebe Deutscher Herbst« und »Das Lächeln der Alligatoren« wimmelt es beispielsweise nur so von Flugblättern und Szenetypischem.

Auch ließe sich, besonders anhand von »zum beispiel k.« und »Das Lächeln der Alligatoren«, viel schreiben über gesellschaftlich-politische Konfliktlinien, wie etwa die alte postfaschistische Ordinarienuniversität und ihr charakteristischer Autoritarismus einerseits und die jugendliche, anarchistisch-libertär orientierte Kulturrevolte gegen die überkommenen Lebensweisen im Fordismus andererseits. Oder über die Art und Weise, wie der studierte Mathematiker Wildenhain die Auseinandersetzungen innerhalb der Hochschulen der 1970er und 1980er Jahre, die Konfliktlinien zwischen dem naturwissenschaftlich orientierten Positivismus und der kritischen Theorie in »Das Lächeln der Alligatoren« und auch in »Die Erfindung der Null« (2020) beschreibt.

Schließlich lassen sich seine Romane auch leicht aus dem Blickwinkel der Geschlechterverhältnisse lesen. Zwar sind sie nicht als Familienromane zu dechiffrieren. Hierfür sind sie viel zu gesellschaftlich eingebettet und mit politischer Ereignisgeschichte verzahnt. Dennoch nehmen Eltern-Kind-Beziehungen in Wildenhains Werk eine große Rolle ein. Sie werden hier zumeist konfliktiv geschildert. In »Das Singen der Sirenen« ist die Frage von Eltern-, Kind- und anderen Verwandtschaftsbeziehungen gar zentrales Topos. Geschlechterverhältnisse sind dabei in der Regel heterosexuelle Paarbeziehungen. Ménage-à-trois ist ein stetig wiederkehrendes Thema. Dabei fällt auf, welche Bedeutung immer wieder Sex und auch sexualisierte Gewalt haben. So schildert Wildenhain wiederkehrend vollkommen übersexualisierte, rohe (Jung-)Männer. Auch sind seine heranwachsenden Protagonisten nicht selten Voyeure und fühlen sich von Prostitution angezogen.

Obschon die Erzählperspektive in der ersten Person Singular zumeist männlich bleibt, sind die geschilderten weiblichen Personen häufig politische und starke Frauenfiguren. Sie stehen häufig im Kontrast zu den männlichen Protagonisten, die nicht selten als Naivlinge, Feiglinge, Desinteressierte, Phlegmatische und Suchende geschildert werden. Dabei ist es eine bemerkenswerte Tatsache, dass die Frauenfiguren oft älter sind als ihre männlichen Partner.

Bürgerliche Protagonisten

Kapitalistische Produktions- und Arbeitsverhältnisse im engeren Sinne lassen sich in Wildenhains Werk zwar finden. Sie bleiben jedoch oft Randerscheinungen und dienen eher der Charakterisierung des Protagonisten. Sie herauszuarbeiten, stößt zunächst auf wenigstens vier allgemeine »Pro­bleme«: 1. handelt es sich bei den Protagonisten oft um Heranwachsende, deren Klassenerfahrungen streng über das Elternhaus vermittelt sind. 2. stammen diese Heranwachsenden aus bürgerlichen Elternhäusern. Nur vereinzelt finden sich Arbeiterkinder. Oft wird dabei ihr eiserner Aufstiegswille geschildert. Nicht wenige von ihnen werden als Hochbegabte dargestellt. 3. sind diese Heran­wachsenden Gymnasiasten und oft Studenten, die sich zwar auf dem Weg zu bürgerlichen Funktionseliten befinden, es aber noch nicht sind, sondern vielmehr von der verlängerten Adoleszenz profitieren, die ein Studium ermöglicht. Schließlich gibt es 4. eine weitere Gruppe von Personen, die längst bürgerliche Funktionseliten geworden sind, wie etwa die Referendarin und Lehrerin in »Erste Liebe Deutscher Herbst«, wie der ältere Tariq, der im Fortgang von »Träumer des Absoluten« zum Professor berufen wird, oder wie Jörg Krippen, der verhinderte Professor aus »Das Singen der Sirenen«.

Schilderungen der Arbeitswelt, wenigstens jenseits der Hochschule, sind in Wildenhains Romanen eher selten. Produktionsverhältnisse erscheinen eher in Gestalt ihrer lebensweltlichen Auswirkungen, in Gestalt von Einkommens- und in Teilen Vermögensverhältnissen und den darauf fußenden habituellen beziehungsweise Statusunterschieden. Wenn Arbeiter als Randfiguren der Narration auftauchen, erstarren sie mitunter zum Klischee, etwa wenn sie als Biertrinker auf der Arbeit geschildert werden, wie in »zum beispiel k«.

Bei der Suche nach Klassenerfahrungen und Kapitalismusreflexionen muss also tiefer geschürft werden, um deren Verhandlungen im Werk von Wildenhain auf die Spur zu kommen. Beispielhaft soll dies anhand des jüngeren Werks »Das Lächeln der Alligatoren« (2015) und des Frühwerks »zum beispiel k.« (1983) geschehen.

Im Mittelpunkt von Michael Wildenhains bislang vorletztem Roman »Das Lächeln der Alligatoren« steht zunächst eine sozial abgestiegene, alleinerziehende, als unglücklich und depressiv geschilderte Mutter, die schon vor dem zweiten Teil des Buches nach einer Zeit mit längeren Klinikaufenthalten sterben wird. Sie macht mit ihrem Sohn Matthias Urlaub auf Sylt, um im AWO-Heim Carsten zu besuchen, den schwerkranken jüngeren Bruder des Protagonisten (Carsten hatte 1969 einen Unfall, den Matthias verursacht hat, bekam eine Gehirnentzündung, ist verstummt, autistisch und hat Kotzanfälle). Klassenverhältnisse erscheinen auch hier zunächst einmal als solche des Einkommens: »Auf Sylt sind wir in einem Quartier untergebracht, das eine Ferienwohnung zu nennen übertrieben wäre. Ich kenne Ferienwohnungen aus dem Weserbergland und dem Allgäu. Das Zimmer auf Sylt, in dem eine Duschkabine steht und in dem es eine Kochnische gibt, erreichen wir durch den dunklen Flur eines einstöckigen Hauses (…). Meine Mutter hat Halbpension gebucht, ein ungewohnter Luxus«. Die Armut erscheint jedoch nicht als Ausdruck von Klassenverhältnissen, sondern von einem unerklärlichen Schicksalsschlag: Kind krank, Mann weg, Depression, Armut.

Gleichwohl war die Familie vorher auch nicht reich. Der Vater Carl (eigentlich Harald) arbeitete mehrere Jahrzehnte als Handelsvertreter im Außendienst ein und derselben Firma, muss aber den Urlaub im Wochenendhaus seines wohlhabenden, deutlich älteren Halbbruders Manfred in der Lüneburger Heide verbringen, obwohl er mit ihm zerstritten ist, und er muss seiner Familie womöglich auch die Rückfahrt nach Westberlin von Manfred bezahlen lassen. Ja, auch der Weihnachtsbaum, den Carl besorgt, ist karg. Wenigstens scheint Geld für den Schwimm- und Turnverein vorhanden zu sein.

Durch seinen Onkel lernt Matthias das Leben der Vermögenden kennen und schätzen. Die relative Armut seiner Herkunftsfamilie wird kontrastiert mit relativem Reichtum: »Mein Onkel ist wohlhabend. Als Kind mag ich das Wort ›wohlhabend‹, es hat einen angenehm runden Klang und fühlt sich an, als läge man in einem warmen Bett oder im heißen Wasser einer Badewanne.«

Der Onkel, der Matthias später adoptiert und – nach dem endgültigen, offenen Bruch mit der Familie – zu seinem Vater wird, wurde doppelt promoviert (in Medizin und Psychologie), arbeitet als angesehener Professor an einer Universitätsklinik, lebt in einer Villa im Berliner Westend und verbringt sein Leben in Muße, wenn sich etwa das gemeinsame Frühstück mit Matthias am Wochenende bis in den späten Vormittag zieht. Er hat sogar eine Yacht im Hafen, eine Zugehfrau und fährt einen cremefarbenen Mercedes.

Während seine Mutter krank und sein Vater abwesend ist, zieht Matthias zu seinem Onkel in die Villa. Er darf dort gleich zwei Zimmer beziehen. Der Umzug zum Onkel wird zum Klassensprung: »Die bessere Schule, Oper, Theater, rasches Absolvieren der Oberstufe (…)«, und er ermöglicht, einer schlechten Kinder- und Jugendwelt zu entfliehen, zumal der Onkel ihn am Grab der Mutter von Schuldgefühlen hinsichtlich seines kranken Bruders Carsten entlastet, so wie es auch Marta, das Arbeiterkind, tut. Mit Hilfe seines Onkels mehrt Matthias – mit Bourdieu gesprochen – ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital, hat den Willen und bekommt das Zeug zum Topdog (Suzan-Lori Parks): »Medizin, Museen, Philosophie und Kunst. Das richtige Halten von Messer und Gabel, die Unterscheidung verschiedener Gänge eines Menü genannten Essens, Auswahl und Vorbereitung eines Themas für ein sonntägliches Tischgespräch. Regeln, die andere Jungen in meinem Alter lächerlich finden, Vorgaben, die mir gefallen. (…) Eine neue Welt, die ich genieße.« Matthias ist die gelebte Kleinbürgerlichkeit: Orientierung nach oben, scharfe Abgrenzung nach unten. So erzählt er Martha davon, »wie gut es sei, jetzt im Westend zu leben, bei einem Vater, der klug sei, gebildet, der etwas erreicht und geleistet habe …«.

Das Bild bekommt jedoch Risse, die Matthias zunächst zu ignorieren versucht. Den Onkel scheint ein dunkles Geheimnis zu umgeben, das sich nur langsam lüftet. Er erscheint zunächst als klassischer Liberaler, entpuppt sich dann jedoch als Anhänger des protofaschistischen Rechtswissenschaftlers Carl Schmitt. Nach und nach wird – u. a. durch eine Sprengung seiner Vorlesung durch linke Studierende – deutlich, was seine eigentliche Tätigkeit ist beziehungsweise war: Leiter der Expertenkommission, die für den Tod des RAF-Gefangenen Holger Meins in der Haft verantwortlich war. Nicht unähnlich zum Roman »Der Eindringling« von Raul Zelik, der mit Wildenhain früher einmal eine WG-Küche teilte, wird hier linke Geschichte – in diesem Fall die von Holger Meins und der RAF – aus der Perspektive von Einfältigen erschlossen, denen sich so eine ganz neue Welt offenbart.

Martas Leben bildet den Gegenentwurf zu dem von Matthias. Sie hat kein Abitur, kommt aus einem autoritären-gewaltvollen Elternhaus und Umfeld, ist bereits mit 16 von zu Hause abgehauen, studiert trotzdem Linguistik, Informatik und Soziologie und lebt in einer Kommune, führt einen promiskuitiven Lebensstil, interessiert sich für linke Theorie und linkes Kino: italienischer Neorealismus, Pasolini, Bertolucci. Bei Pasolini begeistert sie sich, antiautoritär orientiert, indes gerade für die falsche Faschismusanalyse, die den keynesianischen Wohlfahrtsstaat für neofaschistisch und die Arbeiterklasse für in den »Spätkapitalismus« integriert hält und davon ausgehend Randgruppenstrategien propagiert.

Politisierung

Sie zieht Matthias in die linke Szene, auch wenn die ihm eigentlich zuwider ist. Während einer Demonstration anlässlich des Todes von Holger Meins erlebt Matthias Polizeigewalt. Er erfährt auf einmal von Berufsverboten im Rahmen des »Radikalenerlasses«, von Außenseitern, Unterprivilegierten, lernt sie und sich selber kennen, auch sexuell. Schließlich ermöglicht Matthias, dass Marta und ein Mitbewohner Matthias’ Onkel in seinem Beisein aus Rache für Holger Meins bei einem Attentat zu Hause ermorden. Die Bezüge zum Mord an Jürgen Ponto liegen auf der Hand.

Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet die Arbeiterin in Wildenhains Darstellung zur Terroristin/Stadtguerrillera wird und nicht der antiautoritäre »wildgewordene Kleinbürger«, so wie es historisch betrachtet doch eher dem Klassenhintergrund der studierten RAF-Mitglieder entsprach, sieht man einmal vom subproletarischen Sozialistischen Patientenkollektiv ab, das von (Medizin-)Studierenden in Heidelberg rekrutiert wurde.

In »Das Lächeln der Alligatoren« erscheinen die Klassen in jedem Fall eher in ihren Manifestationen der Einkommensungleichheit und habitueller Differenzierungen, das heißt in einer Weise, die eher Bezüge zu den Klassentheorien von Durkheim, Veblen und Bourdieu und weniger zu Marx und Weber herstellt.

Brutalität der Arbeitswelt

Anders ist dies jedoch in »zum beispiel k.«, Wildenhains Debütroman. Er bildet in seinem Werk eine Ausnahme. Der Protagonist »k.« ist Sohn eines Büroangestellten und einer Mutter, die abends Patiencen legt. k. macht zunächst als 16jähriger sein Schulpraktikum in einer Stanzerei, im Verlauf der Geschichte wird er 18. k.s Eltern sind von ihm enttäuscht; er selber will studieren, hängt ab, sieht sich als Freak, langhaarig, macht auch mal eine Marxismus-Schulung mit: »z. b. hat k. Hoffnung. Es gilt, etwas über Marxismus zu erfahren. Dialektik-Nächte, die im lp-Cafe enden, redend über ›Wesen‹ und ›Erscheinung‹, sie spricht, k. horcht.«

In »zum beispiel k.« findet man mehr als in Wildenhains anderen Roman Klassenverhältnisse und Schilderungen der Arbeitswelt. Hier wird in dichter Sprache beschrieben, wie der Mensch in den industriellen Arbeitsprozessen zum »Anhängsel der Maschine« wird. Wildenhain beschreibt die Schwere der körperlichen Arbeit und wie sie als entfremdend erlebt wird. Über k.s Vater, der zur Angestelltenklasse derselben Firma gehört, heißt es: »Schneematsch spülte um k.s Füße am Mittag beim täglichen Gang zur Kantine. Hier in den Büros durchgehende Sichtkontrolle, wo k. seinen Vater alt werden sieht im Laufe eines Tages.«

Sein Vater ist indes Opfer der Verhältnisse und Täter zugleich, denn die Brutalität der Arbeitswelt brutalisiert die Arbeiter, bildet einen proletarischen Autoritarismus aus, gegen den man sich wehren muss: »Denn hier, in der Angestelltenetage, hier bei denen, die die Akkordzeiten der Arbeiter festlegten, STRENG aber GERECHT, und jeder angebliche ›Betrug‹ – gar nicht gegen sie, gar nicht gegen sie persönlich – wird unter großer Entrüstung festgestellt, beinahe enttäuscht. Wovon? denkt k., denn wie gesagt: STRENG aber äußerst GERECHT!, natürlich und so muss es sein, der Mensch und seine Natur, natürlich. Hier lesen die Angestellten zwischen 6:20 Uhr und 7 Uhr die Morgenzeitung, und hier sagt Müller empört: Mein Sohn, der hätte mal nach Hause kommen sollen, mit so einem Tuch vorm Gesicht, so einem schwarzen, totgeschlagen hätte ich den! … egal ob 18 … solange der zu Hause wohnt … so verprügelt … hört k., der neben Müller sitzt und der sich in der Frühstückspause noch immer den Flaschenöffner von ihm leiht.«

Das Motiv des Opfers der Klassenverhältnisse, das in und durch die Arbeitswelt verhärtet, findet sich in der Gestalt des Vaters von Jörg Krippen auch in »Das Singen der Sirenen«, der es vom Schlosser »zum Angestellten gebracht hat«: »Sein Sohn und er, kein Schlosser, der in der Arbeitsvorbereitung, der Zeitwirtschaft, die Akkorde gestaltet, verwaltet, Arbeitern an den überschweren Stanzen, Pressen, tausend Tonnen, stets ›wissenschaftlich fundiert und exakt‹ die Produktionszeiten erstellt, an den Stoß- und Fräsmaschinen, Karusselldrehbänken, der spanenden wie der spanlosen Fertigung die Zeiten vorgibt: sachlich, nüchtern, objektiv (…).« Dabei schwingt Verachtung in dieser Darstellung mit, denn der Verkauf der Ware Arbeitskraft dient einem als nicht lebenswert geschilderten Lebensentwurf: Krippens Vater geht »an den meisten Wochenenden einer weiteren Arbeit nach (…), damit sie, zu dritt, zu viert, im Sommer in den Familienurlaub fahren können«.

Aber auch bei Wildenhain erdulden die Arbeiter ihre Fremdbestimmung nicht bloß. Das, was in der postoperaistischen Gewerkschaftssoziologie »Arbeiterunruhe« (labor unrest) genannt wird, die verschiedenen Arten und Weisen, mit denen Arbeiter die ständige Fremdbestimmung im Lohnverhältnis unterlaufen und der entfremdeten Arbeit zu entgehen versuchen, schimmert in »zum beispiel k.« auf: »… und k. schleicht zum 5. Mal heute zum Klo«. Sehr ähnlich heißt es auch in »Erste Liebe Deutscher Herbst«: Sie »saßen nicht, sie drückten sich verschämt zur Seite, lungerten, möglichst im Rücken ihres Chefs, hinter den aufgestellten Ständen herum und hofften, dass die Uhrzeiger dem Ende ihrer Arbeitszeit näher gerückt wären.«

Zahlreiche weitere, eindrucksvoll dicht und realistisch beschriebene Beispiele für Arbeiterunruhe finden sich in »zum beispiel k.«, wenn k. beispielsweise seine Gedichte am Kopierer kopiert. Dabei mischt sich in das klammheimliche Entziehen aus der Fremdbestimmung auch offener Widerstand zwecks Bewahrung der Würde: »und k. denkt an das Werk, an den Ärger mit den Ausbildern beim Praktikum in der Lehrwerkstatt … ›Sie kaun Kaugummi.‹, ›Ja und?‹, ›Man kann SO Kaugummi kaun und SO.‹, ›Wie kau ich denn?‹, ›Sie schmatzen. Extra laut, sie kaun unverschämt, verstehn sie: unverschämt … und hier, sehn sie mal, völlig uneben, sehn sie mal‹, und der Trottel sabbert ein bisschen und hält k. das Metallstück hin, auf dem k. jetzt schon drei Tage rumschruppt und schlichtet, irgendein blödes Metallstück ohne Nutzen.«

Zugleich zeichnet sich ab, dass k. sich nicht als Teil dieser Welt sehen will. Den Klassenkampf beobachtet er von außen – er ist ja ohnehin nur Praktikant – und sieht ihn sogar eher in der Negation: »Oder er denkt an die Stanzerei beim Praktikum, nur Türken und der Fixer mit dem offenen Bein. Ein Meister, der nett ist, und die Frage, warum hier nicht schon längst, oder wenigstens morgen, die Revolution beginnt, begonnen hat: Blech/runter/boddomm/der Boden zittert, 250 t stanzen die Watte in den Ohren/Blech raus/Blech auf den Stapel/neues Blech/… ›Er hat zu mir gesagt, wörtlich: Hau ab!, oder ich hau dir eine … ich geh nicht mehr runter …‹«.

Der Ausweg aus dieser Lebensperspektive, in die das Praktikum ihm einen Einblick verschafft hat, ist für k. die Flucht, nicht die gewerkschaftliche Organisierung und Klassenkampf, sondern Verwerfung des als kleinbürgerlich und »spießig« wahrgenommenen Erwerbslebens, der Versuch auszusteigen.

Letztlich fungieren Arbeitswelt, kleinbürgerliche Enge und Autoritarismus lediglich als Erklärungsfolie für die Motivation der Hauptfigur für ihren Ausbruch, der schon auf Seite 35 der Erzählung in die Hausbesetzung mündet, für die die Hauptmotivation Suche nach Freiraum und nicht etwa nach günstigem Wohnen ist. Von diesem Freiraum aus wird dann durchaus sehr viel Politik gemacht. Deren Stoßrichtung ist typisch: Stein des Anstoßes ist nicht so sehr der Kapitalismus, sondern der Imperialismus. Der Fokus liegt auf der »Dritten Welt«, auf Antiimperialismus, auf der militanten Störung der imperialistischen Kette mit ihrem US-Zentrum in Deutschland, auf bewaffnetem Kampf und Häftlingssolidarität, kurz: Straße statt Betrieb, Bullen statt Tarifkonflikt, politisch autonom statt klassische Arbeiterbewegung zwischen DKP/SPD-Linke, »zwei Drittel Heizöl, ein Drittel Benzin« statt »Linke Spießer mit Marx und Lenin auf dem Nachttisch« (Slime).

Mit wenigen Ausnahmen, wie der Frau von Jörg Krippen in »Das Singen der Sirenen«, die im Supermarkt arbeitet, erscheint die Arbeiterklasse bei Wildenhain vor diesem Hintergrund auch selten als Proletariat, sondern eher als Subproletariat und in Form von gegenkulturellen Randgruppen: Langhaarige, Kiffer, ausgesprochen urbane Milieus. Oft suchen und finden die Subproletarier in der linken Alternativkultur, im linksradikalen (West-)Berliner Milieu, einen Unterschlupf.

Suche nach dem richtigen Leben

Und viele Wildenhain-Charaktere stromern durch die von ihm geschilderte Welt, hängen herum, warten, dass etwas geschieht, immer auf der Suche nach dem Kick, nach Freiheit, nach dem richtigen Leben, nach Revolte, mit sehnsüchtigem Blick zurück nach 1968, das allerdings als Studentenbewegung, weniger als Zeit starker Klassenkämpfe inklusive wilder Streiks erscheint: »Kneipen, in denen geredet wird, lange z. b. von 68, wie es damals war, und warum man bloß nicht da gelebt hat, damals, da hätte man was machen können und überhaupt, dass man was machen müsste, damals, da war was möglich. Zu spät geborn, heute ist nichts mehr los an den Unis und überhaupt …«.

Schematisierend haben die französischen Gesellschaftstheoretiker Luc Boltanski und Eve Chiapello die von 1968 ausgehende Politik als zwei verschiedene Strömungen dargestellt: Die Künstler- und die Sozialkritik. In diesem Sinne steht bei Wildenhain erstere im Vordergrund. Aber während sich die Künstlerkritik als neue horizontale Unternehmenskultur, unternehmerisches Selbst, progressiver Neoliberalismus in den Kapitalismus einschreiben ließ und ihn dadurch modernisieren konnte, bleibt in Wildenhains Romanwerk der Geist der Revolte lebendig. Der Schriftsteller ist unversöhnlich. Die Linkspartei verließ er, weil sie ihm als zu reformistisch erschien. Wildenhain will den Bruch mit dem System. Darüber, dass er ohne die organisierte Arbeiterklasse nicht zu erreichen sind wird, kann man mit ihm vortrefflich streiten. Vorwerfen, nicht gewerkschaftlich organisiert zu sein, kann man ihm aber auch nicht: Viele Jahre seines Lebens hat er der Organisierung im Schriftstellerverband gewidmet.

Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt in der Ausgabe vom 29./30. Juli 2023 über Otto von Bismarck: »Der war Kanzler?«

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