50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
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50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
Aus: Ausgabe vom 19.09.2023, Seite 16 / Sport
Radsport

Hässliche Bilder

Das Team Jumbo-Visma dominiert die Vuelta a España und zerfleischt sich selbst
Von Janusz Berthold
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Alleine stehengelassen: Sepp Kuss (rotes Trikot, M.) musste zeitweise gegen die eigenen Kollegen fahren (Madrid, 17.9.2023)

Als der US-amerikanische Radsportler Sepp Kuss am Sonntag im Hipódromo de la Zarzuela in Madrid zum Start der letzten Etappe der 78. Vuelta Ciclista a España rollte, tat er es in der sicheren Gewissheit, am Abend für einen ganz besonderen Triumph geehrt zu werden. Denn dass er das Maillot Rojo, das rote Trikot des Gesamtführenden, sogar mit nach Hause nehmen konnte, verdankte er nicht nur seinen herausragenden sportlichen Leistungen auf dem Rennrad.

Bereits nach zwei Dritteln der Spanien-Rundfahrt dominierte Kuss’ Mannschaft Jumbo-Visma das Geschehen nach Belieben, man belegte im Gesamtklassement die ersten drei Plätze. Und hielt dieses Ergebnis bis zum Schluss. In der Endabrechnung folgten auf Kuss seine Kollegen Jonas Vingegaard und Primož Roglič. Nur wurde dieser wahrlich historische Mannschaftserfolg nicht ganz reibungslos errungen. Denn bereits zu Beginn der letzten Rennwoche am vergangenen Dienstag brach Jumbo-Visma ein ungeschriebenes Gesetz im Radsport: Fährt der Gesamtführende eines Wettkampfes im eigenen Team, ist seine Position zu beschützen, und eigene Angriffe auf ihn verbieten sich von selbst. Den Superstars Roglič und Vingegaard war es egal. Permanent musste sich Sepp Kuss der Attacken seiner Mannschaftskollegen erwehren und bekam am Schlussanstieg deutliche Probleme. Es gewann dann auch Jonas Vingegaard, schob sich bis auf 29 Sekunden an die Führungsposition heran, und nun wartete auch noch einer der schwersten Anstiege im internationalen Radsportkalender, die 124,5 Kilometer lange 17. Etappe zum gefürchteten Altu de l’Angliru am Mittwoch.

Jumbo-Visma machte unerklärlicherweise da weiter, wo man aufgehört hatte. In der 12,3 Kilometer langen, im Schnitt 10,3 Prozent steilen und mit in der Spitze bis zu brutalen 24 Prozent Steigung aufragenden Rampe ließen Roglič und Vingegaard die Muskeln spielen. Gut 2.000 Meter vor dem Ziel konnte Sepp Kuss die steten Angriffe offensichtlich nicht mehr mitfahren, funkte an die im Begleitwagen hinterherfahrende Teamleitung und erwartete wohl die übliche Weitergabe der Information an seine direkt vor ihm pedalierenden Teamkollegen, verbunden mit der Hoffnung auf Drosselung des angeschlagenen Tempos. Nur das Gegenteil passierte, Roglič und Vinge­gaard forcierten das Tempo sogar noch und ließen den US-Amerikaner just an seinem 29. Geburtstag im dichter werdenden Nebel der Bergkuppe stehen. Ein beinahe unerträgliches Bild fehlenden Mannschaftsgeistes.

Aber Kuss kämpfte, alle Sympathien flogen ihm zu. Er fing sich noch einmal, rollte als Dritter ins Ziel und konnte sein rotes Trikot mit mickrigen acht Sekunden Vorsprung gerade noch so verteidigen. Im Ziel machte er gute Miene zum bösen Spiel. Doch dann brach über die niederländische Equipe die Empörung der breiten Öffentlichkeit herein. Warum eine solche teaminterne Respektlosigkeit gegenüber dem Gesamtführenden? Warum fallen die zwei Jumbo-Visma-Kapitäne, die Sepp Kuss bei ihren jeweiligen Gesamtsiegen beim Giro d’Italia und der Tour de France in diesem Jahr selbstlos als treuer Helfer unterstützt hatte, ihrem Teamkameraden so in den Rücken? Noch am selben Tag sprach Jumbos Sportlicher Leiter Grischa Niermann ein Machtwort zugunsten von Kuss. Damit war die Gesamtwertung der Vuelta bereits am vergangenen Mittwoch wohl im Mannschaftsbus entschieden worden. Denn mit bereits vier Minuten Rückstand hatte der viertplazierte Spanier Juan Ayuso (UAE Emirates) nicht den Hauch einer Chance, entscheidend in den Kampf ums Podium eingreifen zu können.

Die damit freigewordene Bühne erklomm dann wieder der unvermeidliche Remco Evenepoel. Schon während der Angliru-Etappe blies er zum Großangriff und sicherte sich wichtige Punkte im Kampf um das Maillot Montaña für den besten Bergfahrer. Der junge Belgier setzte seine offensive Fahrweise unbeirrt fort – seit mit einem bemerkenswerten Einbruch am Freitag der zweiten Rennwoche seine Siegeschancen verpufft waren, fuhr er wie befreit. Evenepoel krönte seine Leistung auf der dritten Bergankunft in Folge nach einem grandiosen Parforceritt über 29 Kilometer mit seinem dritten Etappensieg und dem vorzeitigen Gewinn des Bergtrikots. Seine »Alles kann, nichts muss«-Mentalität belebte das Rennen im Schatten der beängstigenden Jumbo-Dominanz nachhaltig und lässt die letzte Grand Tour des Jahres 2023 auch sportlich in Erinnerung bleiben.

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