50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
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Aus: Ausgabe vom 19.09.2023, Seite 6 / Ausland
Verfall von Syriza

Immer weiter nach rechts

Syriza sucht neuen Vorsitzenden: Kasselakis gewinnt ersten Wahldurchgang, Stichwahl nächsten Sonntag
Von Hansgeorg Hermann
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Auf bestem Weg an Syriza-Spitze: Strahlemann Kasselakis (M.) bei der Stimmabgabe (Athen, 17.9.2023)

Die ehemalige griechische Regierungs- und Linkspartei Syriza (Koalition der radikalen Linken) sucht seit ihrer verheerenden Niederlage bei den Nationalwahlen vor drei Monaten und dem Abgang ihres langjährigen Chefs und ehemaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras am 29. Juni eine neue Führung. Gleich vier Kandidaten und eine Kandidatin traten am vergangenen Sonntag an, um Tsipras zu beerben. Der Ökonom und Reeder Stefanos Kasselakis setzte sich mit etwas mehr als 45 Prozent der Stimmen vor der ehemaligen Arbeitsministerin Eftychia »Efi« Achtsioglou mit 36,2 Prozent durch. Beide müssen am nächsten Sonntag in die Stichwahl. Favorit ist Kasselakis, der nach Ansicht politischer Beobachter wohl den größeren Teil der Stimmen kassieren wird. Sollte er neuer Parteichef werden, würde aus der ehemaligen Programmpartei ein schlichter, auf eine einzige Person fixierter »Präsidentenwahlverein« nach US-amerikanischem Vorbild.

An der Abstimmung, die wegen großen Andrangs in den landesweit 570 Wahllokalen gegen Abend um eine Stunde verlängert wurde, beteiligten sich nach Angaben des Organisationskomitees knapp 147.000 Parteianhänger. Um an der Wahl partizipieren zu können, hatten sich bis Sonntag rund 35.000 Griechen und Griechinnen im In- und Ausland als neue Mitglieder einschreiben lassen. Zum »wichtigsten« Argument für ein eventuelles Votum zugunsten des erst 35 Jahre alten Kasselakis hatten die Befragten in der vergangenen Woche dessen vergleichsweise »bessere Chancen« gegenüber dem amtierenden rechtsnationalen Regierungschef Kyriakos Mitsotakis angegeben. Letzteren gelte es bei den nächsten Wahlen 2028 zu schlagen. Kasselakis, der sich offenbar schon als Sieger der Stichwahl wähnt, sprach am Sonntag von einem »ersten Schritt« – zunächst zur Übernahme der Parteiführung. In vier Jahren sollen der Gewinn der Parlamentswahl und eine »progressive«, von Syriza verantwortete Regierung »zum Wohl des Volkes« folgen.

Kasselakis gilt dem zur Minderheit geschrumpften linken Parteiflügel als typischer Vertreter einer Politikergeneration, die ihre Ausbildung nicht mehr im Land, sondern an US-amerikanischen Eliteuniversitäten absolviert hat. Kasselakis holte sich seine Diplome an der privaten University of Pennsylvania und der Wharton School of Economics, war 2008 als Student im »Team« des US-Präsidenten Joseph Biden und arbeitete danach im Risk Management Department der Investmentbank Goldman Sachs. Lorbeeren verdiente er sich nach eigenen Angaben auch in der rechten Denkfabrik Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington. Zu deren wichtigsten Geldgebern zählen unter anderem die Waffenschmieden der Konzerne Northrop Grumman, Lockheed Martin, Boeing, General Dynamics, Raytheon Company und General Atomics. Ein Mann also, der – statt bei Syriza – problemlos auch in der Partei Nea Dimokratia des amtierenden Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis Karriere hätte machen können. »Oder in irgendeiner anderen«, wie der griechische Privatgelehrte und frühere Professor am Londoner King’s College, Stathis Kouvelakis, am Montag gegenüber junge Welt witzelte.

Die »ohnehin extreme Partei« Syriza werde ihrer Geschichte mit der »zu erwartenden Wahl« von Kasselakis ein neues Extrem hinzufügen: »Einen aus dem politischen Nichts aufgetauchten Golden Boy, der ihr Anführer wird – das hätten in Europa nicht einmal die Sozialdemokraten in Erwägung gezogen, die Pasok in Griechenland etwa oder die SPD in Deutschland.« Die »Hyperpersonalisierung« des Votums nach US-amerikanischem Vorbild sei Kouvelakis zufolge ein »Symptom der Parteienkrise – leider auch der linken Parteien. Allein die Tatsache, dass Kasselakis Kandidat sein konnte, ist ein Beweis für den kompletten ideologischen und politischen Verfall von Syriza.«

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  • Leserbrief von Rainer Kral aus Potsdam (19. September 2023 um 16:03 Uhr)
    Wenn man die Vita dieses Herrn gelesen hat, wird man unwillkürlich an die Führungsriege der »olivgrünen« Partei in Deutschland erinnert. Ebenfalls eine ehemals linke Partei, hat sie sich unter dem Einfluss US-amerikanischer Sponsoren und Ratgeber zu einem reaktionären, ihren ehemaligen Grundsätzen abgewandten, Verein entwickelt. Protagonisten wie Habeck und Baerbock sind hierfür ein abschreckendes Beispiel. Ähnliches ereignet sich seit einigen Jahren mit der Partei Die Linke, die mittlerweile ein Schatten ihrer selbst ist. Welche kruden Ansichten als angeblich linkes Parteimitglied und Wähler in Griechenland muss man haben, wenn man einen Propagandisten im Dienste des US-Establishments, einen Goldman-Sachs-Banker und Mitglied einer US-Denkfabrik zum Parteivorsitzenden einer linken Partei wählt? Insbesondere dann, wenn man die Rosskur durchlebt hat, die der westliche Imperialismus Griechenland nach der Finanzkrise 2008 zugemutet hat.

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