50 Jahre Putsch in Chile: jW-Reihe
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Aus: Ausgabe vom 19.09.2023, Seite 5 / Inland
Gewerkschaftskongress

Des Kanzlers Gewerkschaft

Berlin: Kritische Stimmen in der Aussprache beim Verdi-Bundeskongress
Von Susanne Knütter
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Zwei wie Pech und Schwefel: Bundeskanzler Scholz und Verdi-Chef Werneke am Sonntag beim Gewerkschaftskongress in Berlin

Als Gastgeber muss sich Frank Werneke verpflichtet gefühlt haben, die Eröffnungsveranstaltung des Verdi-Bundeskongresses am Sonntag zu einem »positiven« Ende zu bringen. Nach der Rede von Olaf Scholz, die bei etwa hundert Delegierten sichtlich Unmut hervorgerufen hatte, drückte er dem Kanzler die Hand und sagte: »Wir sind eine unabhängige Gewerkschaft und damit ja durchaus kritischer Begleiter jeder Bundesregierung. Aber du kannst dich auf deine Gewerkschaft verlassen als immer verlässliche Kraft für den Kampf für soziale Gerechtigkeit, gegen Hass und Ausgrenzung und für eine stabile Demokratie.«

In der Aussprache zu den Geschäftsberichten am Montag wurde deutlich, dass immerhin einige Delegierte keinen Wert auf demonstrative Regierungsnähe legen. Gotthard Krupp-Boulboullé wies auf Widersprüche im Auftreten der Regierung hin, die die Verdi-Spitze nicht thematisiert. Es sei nicht möglich, »für Waffenlieferungen, für Sanktionen, für eine Aufrüstung zu sein«, und dann trotzdem keinen Sozialabbau zu wollen: »Krieg ist unvereinbar mit Sozialstaat.«

René Arnsburg begrüßte, dass Werneke sich in seiner Rede gegen das Zwei-Prozent-Rüstungsziel und das 100-Milliarden-Euro-»Sondervermögen« für die Bundeswehr aussprach. Das müsse sich »aber auch in den Anträgen widerspiegeln«. Denn die Bundesregierung helfe nicht »aus Nächstenliebe«. Sie versuche »in Osteuropa, in der Sahelzone, im Südchinesischen Meer gerade den deutschen Einfluss zu sichern, und die Zeche für die Verschärfung von Wirtschafts- und Handelskriegen werden wir zahlen müssen«.

Marie Schulpig, Delegierte der Verdi-Bundesverwaltung, kritisierte die 180-Grad-Wende der Verdi-Führung in den Auseinandersetzungen bei der Post und im öffentlichen Dienst. Da wurde immer wieder laut über den Erzwingungsstreik nachgedacht bzw. bereits ein positives Mitgliedervotum eingeholt, der Weg dann aber nicht gegangen und statt dessen »der Kompromiss« gesucht.

Felicitas Traudes, Delegierte aus Hessen, erinnerte an den Grundsatz der Gewerkschaften, dass die Politik sich aus Tarifverhandlungen herauszuhalten habe. Mit der »Konzertierten Aktion« habe sich aber insbesondere das Kanzleramt in die Tarifautonomie eingeschaltet. Mit der Konsequenz, dass in Tarifverhandlungen Einmalzahlungen vereinbart wurden – auch dann, wenn sie zuvor nicht gefordert worden waren; die »Verschiebung der tabellenwirksamen Lohnerhöhungen um viele Monate zugunsten von Inflationsausgleichszahlungen führt in der Folge zu Reallohnverlusten«. Dass die Mitglieder dafür gestimmt haben, wundere sie nicht. Denn das vereinbarte Geld habe kurzfristig die Löcher im Portemonnaie gestopft.

Karima Benimmar aus Stuttgart kritisierte, dass Scholz die Forderungen nach Verhandlungen im Ukraine-Krieg als »egoistisch und zynisch« dargestellt hat, denn was die Gewerkschaften eine, sei gerade der Einsatz für die Arbeiterinnen und Arbeiter überall auf der Welt. Aus ihrer Sicht ist die »Zeitenwende« nicht, dass NATO und Waffenlieferungen auf einmal für Frieden stehen. Die Zeitenwende sei, dass »wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter unsere Haltung zu Kriegen und Waffenlieferungen geändert haben«. Aber der Charakter von Kriegen habe sich nicht geändert. Statt sich von Medienberichten aufhetzen zu lassen, sollten sich die Gewerkschafter ein Beispiel an den Kollegen in Genua, Pisa oder Le Havre nehmen, die Waffenlieferungen verhindert haben.

Werneke unternahm am Ende der Generaldebatte einen Versuch, die Kritik einzuhegen. Da Gewerkschaftspolitik und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten von politischen Entscheidungen abhingen, sei es »unsere Pflicht, mit politischen Entscheidern in Austausch zu sein« und »kein Ausdruck von kämpferischer Gewerkschaft, das nicht zu tun«. Er machte damit vor allem eins deutlich: Mit der inhaltlichen Kritik der Delegierten kann er entweder nichts anfangen, oder sie ist ihm egal.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Bernd K. aus 50769 Köln (19. September 2023 um 22:21 Uhr)
    So sieht es aus. Die Zukunft, sie wird weitere Besuche der auf dem Foto abgebildeten im Kanzleramt bringen. Sie wird einige Warnstreiks bringen, mit Plastiktrillerpfeifen. Keine unbefristeten Streiks, auch da nicht, wo es den Beschäftigten ausgesprochen schlecht geht (DHL, Bahn). Die Bundesrepublik liegt im europäischen Vergleich am unteren Ende bei den Streiktagen, etwa da, wo polnische und baltische Giftzwerge liegen. Und so wird man auch in Zukunft des öfteren hören »wir haben uns jeeinicht«. Dass es keine, der Inflationsrate adäquaten Tarifabschlüsse gibt, versteht sich.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (19. September 2023 um 10:56 Uhr)
    Dreimal erlebte ich als Beschäftigter die Verdi-Kongresse in Leipzig. Immer dabei:
    - Plastikmüll in Form von Werbegeschenken
    - Essensverschwendung auf höchstem Niveau
    - aber keinen Imbiß für die Reinigungskräfte
    - Kongressabgeordnete (Gewerkschafter), die die jW nicht bzw. nur eingeschränkt verteilen durften, wenn die »Hohen Herren« kamen
    - Papierverschwendung en gros
    - und die Druckerei »wußte« nicht, ob sie dort wenigstens mit Recycling-Papier drucken
    - Dekadenz und Dummheit bei vielen Gewerkschaftsabgeordneten: 0 % Klassenkampf, 100 % Staatsräson
    - Bundeskanzler und -präsidenten, - ihnen wurde jovial von den Verdi-Führungskadern gehuldigt. Verdi ist unreformierbar und in heutigen Zeiten auch unnötig, denn sie trägt nichts zur politischen Bildung oder zum Klassenkampf bei, sondern vernebelt die Hirne mit ihren illusionistischen Appellen an das »Gute« der Politiker und deren Auftraggeber.

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